Buchrezensionen, Rezensionen

Daniela Bohde: Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940 Jahre, Akademie Verlag 2012

Seit Hegels furiosem Angriff auf die Physiognomik in seiner »Phänomenologie des Geistes« hätte die naiv-moralistische Ausdeutung des Gesichts eigentlich obsolet sein müssen, aber tatsächlich fand die Physiognomik zurück, und sie spielte besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Daniela Bohde schreibt in ihrem Buch über die Bedeutung, welche sie in dieser Zeit für die Kunstgeschichte gewann. Stefan Diebitz hat das wichtige, materialreiche und anregende Buch gelesen.

Offensichtlich war es für die Autorin sehr schwierig, das Thema ihres Buches scharf zu begrenzen. Einerseits sind die Grenzen der Physiognomik als Methode selbstdiffus, und Bohde behandelt deshalb auch Autoren, die eigentlich morphologisch argumentieren, wie zum Beispiel Oswald Spengler nicht vorwiegend vom Gesicht, sondern eher von der Gestalt, vom Äußeren oder überhaupt von Ganzheitscharakteren ausgehen. Andererseits spielt die sich wissenschaftlich gebende Ausdeutung des Gesichts als Thema ebenso eine Rolle wie die Übernahme ihrer Methode (sofern es eine spezielle Methode überhaupt gibt) durch die Kunstgeschichte; und erst dies ist das eigentliche Thema der Arbeit, mit der sich die Autorin in Frankfurt habilitierte.

Wahrscheinlich lässt es sich gar nicht umgehen, eine große Abhandlung zum Thema Physiognomik mit einer kritischen Würdigung Johann Heinrich Lavaters zu beginnen. Dabei weicht Bohdes Darstellung seines Wirkens zunächst von der üblichen Sicht auf den Schweizer Autor des späten 18. Jahrhunderts ab. Goethe schrieb in »Dichtung und Wahrheit«, dass »Lavater die Physiognomien zergliederte«, also die Details hervorhob, aber den Zusammenhang leicht aus den Augen verlor. Bohde hingegen besteht im Lavater-Kapitel ihres Buches darauf, dass in seinem Werk »die Tafeln, die einzelne Gesichtszüge isolieren, eher selten« sind. Sie betont Lavaters Inspiration durch die Theologie, deren Hermeneutik, wie es auch in seiner Physiognomik geschehe, nicht einzelne Stellen »kontextlos« ausdeutet, »sondern sie aus dem Gesamtzusammenhang versteht.« Bohde kommt es vor allem darauf an, dass Lavaters Physiognomik moralisch argumentiert, indem sie vom Gesicht zurück auf den Charakter schließt. Am Ende des Buches spricht sie dann aber doch von »Lavaters Bestimmung von bedeutenden Stirnen und Nasen«, betont also in ähnlicher Weise wie seine übrigen Kritiker die Detailfixiertheit seines Vorgehens.

Lavater deutete das Gesicht aus, aber das gilt keinesfalls für alle in diesem Buch behandelten Autoren. Von Physiognomie wird sehr häufig und vielleicht sogar in der Mehrzahl der Fälle rein metaphorisch gesprochen, also von der Physiognomie der Rede, der Häuser oder der Völker gehandelt. In ihrer ebenso scharfen wie zutreffenden Kritik an einer national oder gar rassistisch orientierten Physiognomik spricht Bohde selbst davon, dass Kunst nur »als eine Art Gesicht« behandelt werde.

Eigentlich müsste man hier von Gestalt sprechen, und selbst das wäre ja wenigstens für die mündliche Rede noch metaphorisch. Andererseits erscheint tatsächlich zumindest gelegentlich ein wirkliches Gesicht, wo man es nicht vermuten würde. So stellt Bohde in ihrem sehr instruktiven Wölfflin-Kapitel Zeichnungen vor, in denen die Zeichnung von einem Gesims mit Gesichtern überblendet wurde, um die These Wölfflins zu illustrieren, nach der man den Zustand des eigenen Körpers auf die Gestalt eines Baus projiziere. Inspiriert wurde er zu solchen Aussagen von der Einfühlungspsychologie, deren Thesen ebenso wie jene der Gestaltpsychologie für die Kunstgeschichte wichtig waren und deshalb von Bohde dargestellt werden. Auch die Typenlehre Ernst Kretschmers ließ sich in diesem Zusammenhang nicht übergehen.

Die für uns wichtigsten drei Kapitel beschäftigen sich zunächst mit dem Versuch, Rassenlehre und deutsche Kunst miteinander zu verbinden, sodann mit der »Physiognomik als Psychologie der Form« und schließlich mit der Rezeption der Gestaltpsychologie. Im Mittelpunkt der kritischen Auseinandersetzung der Autorin mit der Geschichte der akademischen Kunstwissenschaft stehen so berühmte Namen wie Heinrich Wölfflin, Wilhelm Fraenger oder Hans Sedlmayr. Insbesondere letzterer hatte ja noch in der jungen Bundesrepublik als Münchner Ordinarius und vor allem als Autor des mit der Moderne kritisch umspringenden Bestsellers »Der Verlust der Mitte« sehr großen Einfluss auf die Zeitgenossen. Bohde kritisiert ihn scharf – seinen Opportunismus (Sedlmayr hat seine nationalsozialistische Überzeugung ziemlich umstandslos gegen einen allseits akzeptierten Katholizismus eingetauscht), vor allem aber hinterfragt sie die mögliche methodische Bedeutung des Stilbegriffs oder der Physiognomik.

Dem Stilbegriff verhalf besonders Wölfflin zu seinem Recht. Er muss zweifellos schon deshalb anfechtbar sein, weil sich Stil kaum definieren lässt, ebenso wenig wie etwa Charakter. Trotzdem verwenden wir diese Begriffe – sicher nicht allein in der Wissenschaft –, und im Grunde lassen sie sich auch gar nicht vermeiden. Bohde sieht hier physiognomische Denkmuster am Werk, und wie kritisch sie es sieht, überhaupt von Stil zu sprechen, wird schon daraus deutlich, dass die Auseinandersetzung mit diesem Fragenkomplex mit einem Hitler-Zitat eingeleitet wird. Hitler hatte proklamiert, allein aus einer »rassischen Klärung« heraus könne ein neuer »Lebens-, Kultur- und Kunststil« gefunden werden. Dass Wölfflins Stilbegriff von den Nationalsozialisten übernommen wurde, kann ihm natürlich nicht zum Vorteil gereichen.

Über den Begriff des Stils gelangt die Autorin zum Ganzheitsbegriff der Gestaltpsychologie, den sie durchaus kritisch sieht. Wer die Legitimität eines auf die Totalität eines Kunstwerkes, also auf die Zusammenschau aller seiner Momente abzielenden Verstehens bestreitet, der bestreitet eigentlich jegliches Ausdrucksverstehen. Denn natürlich versuchen wir das Ganze zu verstehen, und nicht über die Analyse von Details. Über Sedlmayrs Methode sagt Bohde: Er »schaute durch die Maske hindurch und sah das wahre Gesicht des Bildes, dessen Physiognomie er dann deuten konnte.« Gemeint ist damit, dass er den Ausdruck dieses (meist metaphorischen) Gesichts zu interpretieren versuchte. Problematisch scheint mir in diesem Zusammenhang weniger der Versuch selbst als vielmehr der genialische Gestus. Wie Christian Demand aber in »Die Beschämung der Philister« gezeigt hat, kann man auch Positives im Werk Sedlmayrs entdecken, und dieses Positive scheint mir in der Darstellung Bohdes unterzugehen.

Wie wollte man als Betrachter davon absehen, den (Gesichts-) Ausdruck wahrzunehmen und zu deuten? Wer dieses elementare, wirklich allem unserem Erleben zugrunde liegende Moment ausblendet, der verfehlt das Eigentliche des Kunstwerks und reduziert die Interpretation auf ein Rechenexempel oder auf positivistische Faktenhuberei.

Mit der Wahrnehmung des Ausdrucks ist auch die Verbindung zur Psychologie und zum Verhältnis von Krankheit, insbesondere der Schizophrenie, und Kunst geschaffen. Die »Kälte«, die ihre Kritiker bei manchen Kunstwerken (und beileibe nicht allein bei solchen der Moderne) wahrzunehmen glaubten, wird als Indiz einer psychischen Erkrankung gedeutet, die zu dem Ausdruck von Wärme und tiefer Empfindung nicht mehr imstande sei. Auch von Autoren wie Fraenger werden Kunstwerke unter psychologischen Gesichtspunkten behandelt: man sucht in ihnen den Ausdruck der Entfremdung oder anderer Anzeichen von Krankheit und schloss überhaupt, und zwar mitunter sehr naiv und unvermittelt, von dem Kunstwerk auf den Charakter des Künstlers; sehr oft auch unter der ebenso naiven Voraussetzung, jeder Künstler porträtiere sich selbst (»ogni pittore dipinge sé« - dieses toskanische Sprichwort wird von Bohde immer wieder zitiert). Was nach meiner Überzeugung solchen Deutungsversuchen vorgeworfen werden muss, ist ihre Oberflächlichkeit: Sie gehen nicht in die Tiefe, weil sie sich nicht mit den Einzelheiten beschäftigten und auch nicht die eigene Wahrnehmung analysieren.

Man muss nicht allen Beobachtungen und Argumenten Bohdes zustimmen, um dieses Buch interessant und lesenswert zu finden. Schon weil es den Leser mit teils abgelegener Literatur bekannt macht, wirkt es höchst anregend. Außerdem enthält es Beiträge zu einer Kritik der Kunstgeschichte in der in Frage stehenden Zeit, in der so manch großer Forscher nicht nur im Geiste mitmarschiert ist.

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