Ausstellungsbesprechungen

Das Innere der Sicht - (Post-) Surreale Malerei 2011, Galerie Rainer Wehr Stuttgart, bis 6. August 2011

Nachdem der Realismus in der Kunst einmal mehr Einzug genommen hatte, war es nur eine Frage der Zeit, dass auch seine Präfix-Spielarten das Recht am Kunstmarkt einforderten – surreal, irreal oder hyperreal, fotorealistisch oder real-magisch vermengen sich die figurativen Ismen zu einer beachtlichen Schautafel. Der Stuttgarter Galerist Rainer Wehr, der unermüdlich durch die Kunstakademien streift, um den aktuellen Trends nachzuspüren, präsentiert vier junge Künstler, die zwischen 1980 und 1986 geboren sind und sich der realen, hier konkret der sur-realen – und das heißt freilich der neuaufgelegten post-sur-realen – Gegenständlichkeit verschrieben haben. Mit Ihnen setzt sich Günter Baumann im Folgenden auseinander.

Die »älteste« Protagonistin ist die in der Türkei geborene Emel Geris (geb. 1980), die vor dem Jahrtausendwechsel von Izmir nach Stuttgart wechselte, wo sie Studentin in der Klasse Güdemann wurde. Von da aus setzte sie nach Berlin über und rundete das Studium bei Daniel Richter ab. Geris stellt schon zum wiederholten Mal bei Wehr aus. Vor Jahren noch beschränkte sich ihre Palette auf einen monochromen Zeichenstil, nun schwelgt die Malerin in farbigen Welten, die das oberste zuunterst kehren und umgekehrt: Asphaltstraßen reißen auf und geben die Sicht frei auf einen Sternenhimmel, abgebrannte Streichhölzer mausern sich zu Straßenlaternen, und das ganze landschafts- und städteorientierte Ambiente erhält farbig-ornamentale und zuweilen japanisch-blütenhaft anmutende Bildunterstützung, die sich in phantastischen Raumcollagen äußert.

Wo es auf »das Innere der Sicht« ankommt, wie der Haupttitel der Ausstellung besagt, kann sich die Gegenständlichkeit natürlich nicht vor der Abstraktion verschließen – zumal die Grenzen ohnehin fließend oder mittlerweile gar aufgehoben sind. Oliver Krafts (geb. 1986) Arbeiten erinnern letztlich an die Urgründe der abstrakten, wenn nicht überhaupt der modernen Kunst, die entlang der technischen Erfindungen zur makro- und mikroskopischen Wahrnehmungserweiterung und der gesellschaftlichen Zertrümmerung eindimensionaler Weltbilder Formen aufbrach, verwarf oder anders wieder zusammenfügte. Das ist über hundert Jahre her, heute sieht sich der Künstler anderen, vorwiegend medialen und kommunikativen Neuerungen gegenüber. Der Bunk-Schüler Kraft lässt sich inspirieren durch digitale Bildphänomene, entwirft seine barock umwölkten Bilderzählungen in Anlehnung an ein automatisches Luftabwehrsystem (›SAGE‹), einem selbst schon wieder historischem Mensch-Computer-System der 1950er Jahre – es waren die ersten Gehversuche eines Datennetzwerkes in einer Zeit, welche den Begriff Internet noch nicht kannte. Oliver Kraft vermengt dieses originelle Phänomen mit den gegenwärtigen medialen Fiktionen zu annähernd mehrdimensionalen Animationen.

Benjamin Thaler (geb. 1982), der auch bei Holger Bunk studierte und sich obendrein mit dem Fach Intermediales Gestalten befasste, fügt seine phantastisch-surrealen Parallelwelten aus figurativen (kleinere Szenerien), gegenständlichen (chiffrierte Objekte, etwa Papierflieger o.ä.) und abstrakten Elementen (geometrische Körper) zusammen. Besonders beeindruckend sind seine vom – konkret gemalten – Bildrahmen dominierten, in die Abstraktion ragenden Kompositionen. Thaler unterrichtet an der Freien Kunstschule Stuttgart, sein Kollege Sebastian Tröger (geb. 1986), der bis 2011 in Nürnberg studierte, ist dort inzwischen Tutor für Medienkunst/Sound – bei Wehr drückt sich dies eher klassisch durch dick aufgetragene, pastos-»schreiende« Farbigkeit aus, mit der der Künstler die Kitsch- und Kunstgeschichte auf ironische Weise herausfordert: ein picassomäßiges Porträt erhält ein Ringelbärtchen, andere Bilder strotzen vor penckhaft-figurativen Zeichen, oder es röhren sich hirschähnliche Tiere vor grob-idyllischer Landschaft an.

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