Reiseberichte

Das Verblendwerk - Hommage an Heinrich Coordes

Zu entdecken ist das Werk von Heinrich Coordes, das seit fast 40 Jahren auf seine kritische Würdigung wartet. Der inzwischen verstorbene Künstler verkleidete in den Jahren 1962 bis 1967 sein Haus am Ortsausgang von Friedeburg/Ostfriesland mit selbst gefertigten Waschbetonplatten. Coordes lebte jenseits des Kunstbetriebs und trat mit seiner Arbeit erst im hohen Alter an die Öffentlichkeit.

Aufgefallen ist das Knusperhäuschen nach Auskunft der Bewohner vor allem Fotoamateuren auf der Suche nach pittoresken Motiven. Die ortsansässige Bevölkerung nahm Coordes’ Haus zur Kenntnis, ohne etwas Besonderes darin zu sehen. Gehört es doch zu den bevorzugten Beschäftigungen vieler Rentner, bunte Steine und Muscheln in Beton zu drücken, um damit Einfriedungsmauern, Garageneinfahrten und Hauseingänge zu verzieren. Einen, der sich gleich sein ganzes Haus vornahm, hielt man vielleicht für exzentrisch oder besessen. Der manische Charakter des Werks hat sicher auch den einen oder anderen kunstverständigen Betrachter aufmerken lassen. Doch wird der Kenner sich in erster Linie  über die Unart der Verblendung ausgelassen haben, der hier in vollendeter Geschmacklosigkeit ein Denkmal  gesetzt worden sei. Allenfalls dürfte man bereit gewesen sein, das Werk nach der bekannten Formel, die jeden Kitsch adelt, in all seiner Scheußlichkeit schon wieder schön zu finden. Aber auch die sich so überlegen dünkenden Kritiker sahen nur die immer gleichen Muschelburgen und waren in ihrer ästhetischen Borniertheit blind für das Werk, das in der ostfriesischen Provinz entstanden war.

Coordes begann die Arbeit an seinem Verblendwerk 1962 in alt hergebrachter Manier. Die frühen Platten an der Rückseite des Hauses zeigen Muscheln und Kieselsteine zu einfachen Formen und Mustern angeordnet, hier und da durchsetzt mit bunten Glas- und Porzellanscherben. Doch nach und nach tauchen Gegenstände auf, die sich wie Fremdkörper ausnehmen im Waschbeton: Eine Underbergflasche, ein Katzenauge, Kronkorken, ein Puppenköpfchen, Legosteine. Das Neue bildet stets das kompositorische Zentrum einer Platte, wird gewissermaßen ausgestellt, so dass man die formale Anstrengung überdeutlich verspürt. Doch diese ersten zaghaften Versuche führen bald dazu, dass sich die Materialpalette des Künstlers erheblich erweitert. Schon ein Jahr später, an der rechten Giebelseite angelangt, hat Coordes sich weit von seinen traditionellen Vorbildern gelöst.

Deutlich wird die Entwicklung in der Darstellung der Jahreszahlen, mit denen er die Etappen seines Schaffens dokumentiert. Ist die Zahl 1962 an der Rückseite des Hauses noch ganz im populären Sandburgenstil aus möglichst gleich großen Muscheln geschrieben, so ergibt sich für 1963 an der rechten Giebelseite ein gänzlich anderes Bild: Eine Pipette steht für die 1, die 9 ist aus einem halben Brillengestell geformt, die 6 und die 3 sind aus passend geschwungenen Kunststoffteilen zusammengesetzt, wobei alles umrahmt wird von einer bunten Girlande aus Eislöffelchen, Cocktail-Stäbchen und Partymessern.

Coordes hat sich von allen Beschränkungen in der Wahl seiner Materialien befreit. Was ihm in die Hände fällt, findet Verwendung. Dass er sich bevorzugt der Alltagsgegenstände annimmt und nicht ausgesuchte Fundstücke heranzieht, zeichnet seine Arbeit aus. Doch bei allem Materialreichtum fehlt den Platten der rechten Giebelseite noch die formale Geschlossenheit, die in den folgenden Jahren erreicht werden sollte. Man vergleiche etwa die oben erwähnte Platte von 1963 mit dem Lastwagen am Kreuzweg, einer Platte der linken Giebelseite, die 1966 entstanden sein dürfte. Auch hier sind Eislöffelchen eingesetzt, aber in einer formal wie inhaltlich unvergleichlich präziseren Funktion: Bahnen sie dem Lastwagen doch gleichsam Wege durch das Geröllfeld. Auch der asphaltgraue Beton greift das Thema der Platte auf, die zu den Meisterstücken des Verblendwerks zählen dürfte.

Spätestens 1965 mit der Arbeit an der Stirnseite des Hauses hat der Künstler eine große Souveränität im Umgang mit dem Material erlangt, das sich in seinen Händen wie magisch zu verwandeln scheint. Ein verzierter Handspiegel, flankiert von zwei Püppchen und diversen Gerätschaften, dazu gemaserte Steine, wie achtlos verstreut, und schon ist ein Reliquienschrein geschaffen. Eine Verwandlung profaner in quasi-sakrale Gegenstände, zu der die witterungsbedingte Zerstörung einzelner Kunststoffteile ein Übriges beigetragen haben dürfte. Beispielhaft für die Metamorphose von Alltagsgegenständen ist auch der ganz in kühle Blautöne gehaltene Schneewittchensarg. Eine Plastikflasche (von Liebesperlen?) mit einer sichelförmigen Kunststoffscherbe am Kopfende und einem Schraubverschluss am Fußende ruht wie schwerelos inmitten der Platte und erweckt Vorstellungen von Außerirdischen und Heiligen, von Tod und Wiedergeburt.

Selbstverständlich besteht das Verblendwerk aus einer Vielzahl rein ornamentaler Platten. Aber auch hier lässt Coordes es nicht bei den traditionellen Materialien und Formen bewenden; vielmehr öffnet er das Ornament für die gewöhnlich verschmähten Alltagsgegenstände. Man denke an den Kleiderbügel, der mit seiner sanften Wölbung einen ganze Platte ausmisst und in dessen Haken ein kleines Kamel unterkommt. Oder die Platte mit den zwei orangeroten Flugzeugen, wo Muscheln, Kunststoff, Keramik und Naturstein ein Farbensemble eingehen, in dem alle Unverträglichkeiten des Materials aufgehoben sind. Ein stupendes Beispiel für den Ideenreichtum des Künstlers ist auch die Untergehende Sonne mit einem Strahlenkranz aus Kieselsteine, die – wie um den letzten Glanz einzufangen – mit Stanniolpapier umwickelt sind.

Steht man als Betrachter in halber Distanz vor dem Werk, so wandert der  Blick von Platte zu Platte, als blätterte man in einem Buch. Man denkt an Hieroglyphen, an die Trajanssäule. Aber handelt es sich hier um eine Bilderschrift oder ist es eher eine Bildgeschichte? Nur findet man keinen Anfang und kein Ende. Der Blick lässt sich verführen, springt von einer Platte zur anderen, tastet die Umgebung ab, wendet sich nach rechts, nach links, nach oben oder unten und sucht weiter. Sprunghaft, kreisend ist die Lesebewegung, niemals linear. Wir haben es offenbar mit einem Text zu tun, der gelesen werden will und sich im Gegenzug verweigert. War es nicht Antonin Artaud, der sagte, jede wahre Sprache sei unverständlich?

Als Coordes 1967 die Arbeit an seinem Lebenswerk abschloss, war die visuelle und musikalische Sprache der Popkultur bis in alle gesellschaftlichen Ebenen vorgedrungen. Wenn man den Pop einmal drauf hatte, schrieb Andy Warhol, konnte man ein Schild nie wieder mit den gleichen Augen sehen. (Ebenso wenig einen Kleiderbügel, eine Spüliflasche oder eine Glühbirne, möchte man hinzufügen.) Hier setzt Coordes an, bei der Dingwelt in Form ihrer billigsten Wegwerfartikel . Er nimmt das, was übrig bleibt, stellt es in einen neuen Kontext und schafft ein Archiv der Instant-Kultur, nicht als Mahnmal der Verschwendung, sondern als Hommage an die Fülle. Der serielle Charakter des Werks entspricht dem befreiten Konsum jener Epoche, deren Abfallprodukte Coordes verwendet, um aufs neue den schönen Schein der Dinge herzustellen. Insofern betreibt er das Projekt einer kompromisslosen Ästhetisierung der Gegenwart, die in eine Mythologisierung kollektiver wie individueller Lebensumstände mündet.

Die biografischen Angaben, die über den Künstler zur Verfügung stehen, beschränken sich auf die Eckdaten seines Lebens. Geboren 1896 in Friedeburg, von Beruf Maurer und Zimmermann, baute er 1923 selbst das Haus, das er im Rentenalter verkleiden sollte. Abgesehen von einer Fensterumrandung am Haus eines Heilpraktikers in Wilhelmshaven ist keine weitere künstlerische Arbeit von ihm bekannt. Heinrich Coordes verstarb 1980.

Der Begriff eines Lebenswerks trifft bei Coordes in besonderem Maße zu, denn seine ganze Existenz kulminierte in einer künstlerischen Arbeit, die er erst gegen Ende seines Lebens zu leisten imstande war. Als Maurer war ihm die Technik des Verblendens ebenso vertraut wie das Verfahren zur Herstellung von Waschbetonplatten. Was über Jahrzehnte seinen Berufsalltag ausmachte, befreite er nach dem Eintritt ins Rentenalter aus der Routine. Die rasante künstlerische  Entwicklung, die das Verblendwerk so eindrucksvoll dokumentiert, ist nur vor dem Hintergrund eines handwerklichen Könnens vorstellbar, das eine lebenslange Beschäftigung mit dem Metier voraussetzt.

Bei den Hunderten von Einzelplatten, die zu dem Verblendwerk zusammenfügt sind, liegt die Vermutung nahe, dass auch ein Selbstbildnis des Künstlers darunter zu finden ist. Sollte es sich um das gewitzte Männchen mit Prinz-Heinrich-Mütze handeln, das mit dem Fuß aus der Platte herauszutreten scheint? Wie dem auch sei, so oder ähnlich mögen wir uns Heinrich Coordes vorstellen, wie er fernab von der Kunstwelt ein Werk schuf, das den Bogen spannt vom Waschbeton zur Pop-Art.

Kontakt: info@rolfschoenlau.de

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns