Der Genter Altar verbindet künstlerische Vollendung mit einer spannenden Geschichte um Kopie, Raub und Rückgabe. Immerhin 100 Jahre lang befand er sich auch in Berlin bis er nach dem Ersten Weltkrieg nach Gent zurückkehrte. Dieser wechselvollen Geschichte gedenkt eine Ausstellung auf ganz besondere Art und Weise: Indem sie eine Collage aus unterschiedlichen Kopien präsentiert. Pia Littman und André Bischoff sind von diesem Konzept beeindruckt.
Die Ausstellung »Der Genter Altar der Brüder van Eyck in Berlin. 1820-1920« erinnert uns an die Großartigkeit dieses berühmten Retabels. In seiner hier gänzlich aus Kopien und Fotografien zusammengebauten Form beschert uns die Präsentation auf sinnlicher Ebene jedoch nur einen Abglanz des Originals. Dafür erkennen wir, dass Inhalt und Geschichte des Werkes bemerkenswerte Parallelen aufweisen.
Die Gemäldegalerie collagiert den im Jahr 1432 vollendeten Genter Altar aus gemalten Kopien des 16. und 19. Jahrhunderts sowie einer Reihe schwarzweißer Fotoreproduktionen des frühen 20. Jahrhunderts. Auf diese Weise wird an die rund 100 Jahre erinnert, in denen sich die nun in Schwarzweiß gezeigten Flügel in Berlin befanden. Als Reparationsleistung wurden sie für die im Ersten Weltkrieg zugeführten Schäden im Jahr 1920 nach Belgien zurückgegeben.
Der mächtige Altaraufsatz ist in der Wandelhalle der Gemäldegalerie platziert. Der Betrachter ist beeindruckt angesichts des auf insgesamt zwölf Innentafeln ausgebreiteten, hochheiligen Bildprogramms: Im oberen Register zeigt dieses den von der Muttergottes und Johannes dem Täufer flankierten Weltenrichter, im unteren die Anbetung des Lammes durch die überaus zahlreich vertretene Gemeinschaft der Heiligen.
Die komplexe Ikonographie des Ensembles, die den Kunsthistorikern schon viel Kopfzerbrechen bereitete, wird hier jedoch nicht thematisiert. Selbst die Angaben zum Inhalt der einzelnen Tafeln sind unauffällig auf den Innenseiten der beiden das Ensemble rahmenden Pfeiler angebracht. Auch kann es hier allein der Reproduktionen wegen nicht um die Innovationen altniederländischer Maltechnik gehen. So vermitteln etwa die Kopien von Michiel Coxcie zwar den Reichtum der Gewänder – die Plastizität des Originals und das herrlich distinguierte Lichtspiel der Krone zu Füßen Gottes lassen sie jedoch vermissen.
Der seit Langem diskutierten Frage der Handscheidung zwischen Jan van Eyck und seinem älteren Bruder Hubert leistet der Katalog allerdings Tribut. Die philologische Untersuchung der berühmten Inschrift am unteren Rand der geschlossenen Tafeln argumentiert plausibel für eine wieder wörtlich zu nehmende Übersetzung des kurzen Gedichtes, demzufolge Hubert das Wert begonnen und Jan, »in der Kunst der Zweite«, es auf Bitten des Auftraggebers Jodocus Vijd vollendet habe.
Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf der Genese der eigentümlichen Verschränkung farbiger und schwarzweißer Reproduktionen, mithin dem Zustandekommen dessen, was die Bild-Zeitung zutreffend das »heiligste Puzzle der Welt« nannte. Auf der grauen Schauwand links des Retabels erfährt der Betrachter, dass die Kopien der Trinität und der Anbetung des Lammes bereits auf das Jahr 1558 zurückgehen. Damals nämlich fertigte der flämische Maler Michiel Coxcie im Auftrag von König Philipp II. von Spanien eine Kopie des Altars an. Die Coxcie-Tafeln wurden vor einem Jahr in Leuven zusammengeführt. Sie lassen sich in guter Auflösung online anschauen und mit den hochauflösenden Aufnahmen des Originals vergleichen, die der Getty Trust auf der Website »Closer to Van Eyck« zur Verfügung stellt. Die Kopien der Tafeln der Muttergottes und Johannes des Täufers stammen ebenso wie die Adam- und Eva-Gemälde von dem Brandenburger Maler Carl Schulz. Zur Vervollständigung der Originalflügel gab sie die Berliner Galerie der alten Meister in Auftrag, hielt die Tafeln mit dem (nackten) ersten Menschenpaar dann jedoch unter Verschluss. Was in Berlin einmal im Original zu sehen war, zeigen aktuell ihre einst ebendort angefertigten, schwarzweißen Fotoreproduktionen.
Während man so zwischen der Schauwand und dem Altar pendelt, entdeckt man, dass das Collagenhafte seiner Präsentation den Genter Altar auch innerbildlich kennzeichnet. Schließlich werden hier nicht weniger als 20 Tafeln, die noch dazu unterschiedliche Raumtiefen aufweisen, miteinander kombiniert. Betrachten wir allein die zentrale Mitteltafel mit dem Lamm Gottes, so zerfällt auch diese – darin der Arnolfini-Hochzeit ähnlich – bereits in aus unterschiedlichen Winkeln gesehene Einzelkörper: Während das Lamm Gottes uns frontal anschaut, blicken wir von schräg oben auf den davor liegenden Springbrunnen.
Neben den unterschiedlichen Provenienzen der in der Ausstellung gezeigten Stücke kommen im Katalog die mitunter haarsträubenden Geschichten der Originalteile zur Sprache: Allein zweimal wurde das Retabel von feindlichen Besatzern entführt, einzelne Teile wurden zudem verkauft, ja verschachert. Dennoch traf es den Genter Altar deutlich besser als das Bernstein-Zimmer, denn immerhin verschwand nur eine seiner Tafeln bis heute spurlos: Nachdem der Altar im Jahr 1921 endlich wieder vollständig an seinen ursprünglichen Aufstellungsort gelangt war, fielen wenig später zwei Tafeln einem Kunstraub zum Opfer. Neben dem Johannes, der freigekauft werden konnte, ereilte dieses Schicksal ausgerechnet die »Gerechten Richter«. Angeblich wollte der mutmaßliche Drahtzieher, ein gewisser Arsène Goedertier, ihr Versteck noch im Moment seines Todes preisgeben. Doch vergeblich, die Lüftung des Geheimnisses kam ihm einfach nicht mehr über die Lippen.
Trennung und Vereinigung, diese Umstände wurden dem Genter Altar nicht nur historisch zuteil. Das Werk verhandelt sie schon in sich selbst: Aus der Einöde, vom Drachenkampf oder aus finsteren Türmen – von überall her streben demütige Pilger, tapfere Ritter, keusche Jungfrauen, ja strebt die Gesamtheit der Heiligen zum Brunnen des Lebens und dem Lamm Gottes.
Und wir selbst werden zum Teil dieser Bewegung. Bei geschlossenem Altar, der Alltagsseite, befinden wir uns in einem Innenraum, der eine Verkündigung zeigt. Zwischen dem Erzengel Gabriel und der Jungfrau Maria sehen wir auf einen holzgetäfelten Raum, in dem sich zur rechten Seite eine mit Maßwerk bekrönte Nische mit eingestelltem Gießgefäß, Wasserbecken und sorgsam daneben gehängtem Handtuch befindet. Durch das Fenster auf der linken Seite aber werfen wir einen Blick auf eine in die Tiefe führende Straße der Stadt. So werden wir in diesem raffiniert aufgebauten Innenraum – allein diese sich über vier Tafeln erstreckende Szene weist drei unterschiedliche Tiefenstufen auf – auf unseren Weg vorbereitet. Denn bei geöffnetem Altar, auf der Festtagsseite also, sind wir nun Zeugen der zum Lamm strebenden Gemeinschaft der Heiligen. Die Stadt, aus der wir kommen, scheint hier neben anderen im Hintergrund zu liegen. So bringt uns der Innenraum des Altars in das Draußen des Bildraums.
Wir resümieren: Das Format der Ausstellung lässt uns die Verschränkung von Innen und Außen, die räumlich-optische Entgrenzung und die Multiperspektivität als wichtige Aspekte des Genter Altars erkennen. In diesen inneren Themen berühren die Darstellungen des Retabels seine nicht minder aufregende Geschichte, die uns die Berliner Gemäldegalerie nun in Teilen vor Augen führt. Happy End inklusive: Das Original wissen wir an seinem Ursprung und seinem Ziel, der St. Bavo Kapelle in Gent. Im Herzen Europas.