Ausstellungsbesprechungen

Der ewige Wanderer. Henry van de Velde in Jena, Kunstsammlung Jena, bis 26. Mai 2013

Henry van de Veldes Leben war von Rastlosigkeit geprägt und führte ihn Anfang des 20. Jahrhunderts nach Thüringen. Hier fand er eine Bühne der Avantgarde vor, die der belgische "Alleskünstler" zu bespielen wusste. Die Vielfalt seiner Beziehungen nach Jena abzubilden, ist Ziel der Ausstellung. Doch wer sich vorher nicht schon belesen hat, wird es schwer haben, sich zurechtzufinden. Rowena Fuß war vor Ort.

Henry van de Velde ist vielen wohl als Architekt, Möbeldesigner und Buchgestalter ein Begriff. Der Bibliophile wird deshalb gleich nach dem Betreten der Ausstellung feuchte Hände und Herzrasen bekommen. Denn in einer Vitrine liegen Exemplare von Nietzsches »Ecce homo« (1908) und van de Veldes selbst gestaltetem Traktat »Vom neuen Stil« (1907), auf der zweiten Etage findet sich auch eine Ausgabe von »Also sprach Zarathustra« (1908). Beide Nietzsche-Ausgaben gehören zu Monumenten der Buchkunst. Gedruckt wurde in Schwarz, Purpur und Gold auf schweres Van-Geldern-Bütten. Van de Velde gestaltete die Prachtbände innen und außen, sorgte sich dabei um jedes typografische Detail und überwachte die gesamte Herstellung. Dabei war er keineswegs ausgebildeter Illustrator oder Mediengestalter, wohl aber ein Künstler, der den intellektuellen und emotionalen Extrakt eines Buchs in eine Form binden konnte. Vergleichbar ist van de Veldes konstante Aktivität auf dem Gebiet der Buchgestaltung einzig mit seiner architektonischen Arbeit.

Natürlich setzte er auch in Jena bauliche Akzente. Man denke nur an das Ernst Abbe-Denkmal. Doch eigentlich sollte der Belgier vor allem die mittlerweile rückständige lokale Wirtschaft in das moderne Zeitalter führen. Aus diesem Grund war er 1902 nach Thüringen berufen worden.

In 120 Gemälden, Plastiken, Zeichnungen, Skizzen und Drucken entwirft die Ausstellung ein Panorama seiner Thüringer Zeit. Zugegeben, ein wenig origineller Ansatz. Entstanden ist letztlich ein seltsames Geflecht, das im Kern den Umgang des künstlerischen Beraters für Kleingewerbe und Kunsthandwerk thematisiert, aber seine Person selbst weitestgehend ausklammert. Van de Velde bleibt – bis auf den Raum zum besagten Abbe-Denkmal – nicht greifbar. Zumal sich die ganze zweite Etage hauptsächlich dem Verhältnis von van de Velde und Ernst Ludwig Kirchner widmet – in Bildnissen, die aus der Hand des letzten stammen. Ihn verbindet mit Jena wiederum Botho Graef. Der Jenaer Kunsthistoriker hatte nicht nur Kirchner, sondern auch Emil Nolde ein verständnisvolles Publikum erschlossen. Porträts von Botho Graef und des Philosophen Eberhard Grisebach, ab 1931 Professor in Jena, machen den engen Kontakt Kirchners zur lokalen Geisteswelt deutlich. Mit Ausschnitten aus dem Briefwechsel und Porträts Henry van de Veldes sowie dessen Tochter Nele wird versucht, diese Beziehung abzubilden. Der Belgier war für den Expressionisten so etwas wie ein weltmännischer Vater. Zu Nele van de Velde, selbst Künstlerin, pflegte er eine väterliche Freundschaft. Doch können die verwendeten Mittel nur an der Oberfläche kratzen. Vielleicht weiß die ein oder andere Führung ein lebendigeres Bild dieser Bekanntschaft zu zeichnen.

Ein großer Raum widmet sich dem wichtigsten Bauwerk van de Veldes in Jena: dem Abbe-Denkmal. Bereits kurz nach dem Tod des Physikers, Unternehmers und Sozialreformers 1905 wurde der Wunsch nach einem Denkmal laut. Verschiedene Künstler, u.a. der Leiter der Weimarer Bildhauerschule Adolf Brütt, Max Klinger und der Berliner Adolf von Hildebrand wurden angefragt. Letztlich wurde der Bau ein Gemeinschaftsprojekt, an dem auch die Jenaer Bevölkerung regen Anteil nahm. Dies bekunden Ausschnitte aus lokalen Zeitungen, die jedoch nicht in diesem Raum hängen, sondern bei Kirchner in der zweiten Etage. Warum, weiß der Fuchs.

So schrieb Abbes Nachfolger in der Zeiss-Geschäftsleitung, Siegfried Czapski, am 1. Februar ablehnend im Jenaer Volksblatt: »Wenn ich mich aber frage, würde er, der Dahingegangene in einem Denkmal (Standbild) den würdigsten Ausdruck unserer Gefühle erblickt haben, so glaube ich auch diese Frage Frage mit Nein beantworten zu müssen.« Eugen Diederichs, ein bedeutender Verleger, führte dies am 15. Mai 1906 in der Jenaischen Zeitung genauer aus: »… Meines Erachtens sollte man bei Abbe den Kopf für das Wesentliche halten und nicht den Körper mit seiner Tageskleidung … Wer sich die Erinnerung an die äußere Gestalt eines Toten bewahren will, braucht keine Kunst, da tut die Photographie bessere Dienste.«

Dementsprechend wurden die Standbild-Entwürfe von Hildebrand und den anderen verworfen. Stattdessen schuf der belgische Künstler Constantin Meunier vier Reliefs zu den Themen »Ernte, Industrie, Hafen und Bergwerk«, der Grafiker und Bildhauer Max Klinger eine Herme mit Abbe-Büste und Henry van de Velde den Überbau für diese beiden Dinge. Van de Veldes Außenansichten und Schnitte sowie Meuniers erste Entwürfe für eine Skulptur Ernst Abbes als „Held der Arbeit“ zeugen im Saal von der Entstehungsgeschichte des Denkmals.

Ein ebensolches für van de Velde in Jena zu setzen, vermag die Schau leider nicht. Dazu verliert sie sich zu sehr in der Metaphysik der Beziehungsgeflechte. Genauer: Bilder sind das falsche Medium, um den Umgang eines Menschen darzustellen, die Kontakte, die er im Laufe seines Lebens hatte. Diese aufzuschlüsseln und für den Laien greifbar zu machen, wird Aufgabe des gleichnamigen zur Ausstellung erscheinenden Katalogs sowie des Begleitprogramms sein.

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