Buchrezensionen

Der große van Gogh Atlas. Eine Reise durch Europa, Sieveking Verlag 2017

Lust auf eine Gedankenreise? Dann könnte dieser Atlas helfen, denn er nimmt mit auf eine Reise durch das Leben Vincent van Goghs und gleichermaßen durch Europa. Stefanie Handke verrät, was Sie erwartet.

»Von Z bis A«, so die Worte der Herausgeber Nienke Denekamp, René van Blerk und Teio Meedendorp, soll die Reise durch das Leben des niederländischen Künstlers gehen, genauer gesagt von seinem Geburtsort Zundert bis nach Auvers sur Oise, wo er die letzten Monate seines Lebens verbrachte und auch starb, selbstverständlich chronologisch. Geboren als Sohn des beliebten Pfarrers Theodorus van Gogh, wuchs er im kleinen Pfarrhaus von Zundert auf, seine Eltern zwar vornehme Leute, aber beliebt. Neben dem Unterricht in der Dorfkirche lernten die Kinder das Zeichnen von ihrer Mutter, und insbesondere Vincent unternahm Ausflüge in die Umgebung – und schwänzte dafür gern einmal die Schule. Der Bericht über die Zeit im Haus seiner Eltern blickt auch auf das Bild der Zunderner auf den jungen van Gogh, denn mit dem Bericht des Journalisten Benno van Stokvis‘, der dreißig Jahre nach dem Tod des Malers ehemalige Mitschüler und Nachbarn befragte, zeigt der Atlas einen stillen, wohl auch etwas seltsamen Jungen. Von dort aus ging es dann für den Elfjährigen, den seine Eltern nicht länger in der Dorfschule unterrichten lassen wollten, in das 25 Kilometer entfernte Zevenbergen, wo 1864 gerade erst ein Pensionat für etwa 30 Schülerinnen und Schüler eröffnet worden war. Der hier abgeschlossenen Grundschule folgte die Höhere Bürgerschule von Tilburg als Etappe – Lebensjahre, über die wenig bekannt ist, nicht einmal aus den Briefen des Künstlers.

Nach dem Schulabschluss ging es zunächst nach Den Haag, in die Kunsthandlung Goupil & Cie., deren Miteigentümer sein Onkel war (ebenfalls Vincent, »Onkel Cent«) und wo ihm die Arbeit Spaß machte. Nach vier Jahren dann folgte die Versetzung in die Londoner Filiale der Kunsthandlung, mit einem großen Umweg über Paris, von wo er die Reise nach einem Aufenthalt voller Museumsbesuche gemeinsam mit seinem Onkel Cent und der Tante Cornelia fortsetzte. Die englische Metropole schien es ihm angetan zu haben; insbesondere ihre Museen und Parks. Hier erlebte van Gogh scheinbar seine erste Krise, zumindest erlebte es seine Familie so, zog sich eines Tages plötzlich in sich selbst zurück, studierte die Bibel und vernachlässigte seine Arbeit. Eine Versetzung nach Paris sollte es richten. Dort mietete sich der junge Mann ein Zimmer in Montmartre, das er mit Kunstdrucken dekorierte, studierte offensichtlich intensivst die Bibel und fand nicht mehr zu seinem alten Gleichgewicht zurück. Nach einigen Querelen entließ Goupil den jungen Mann, sehr zur Enttäuschung der Eltern. Auf eine Episode als Hilfslehrer in England folgte die Anstellung in einer Dordrechter Buchhandlung, aber den jungen Mann, der sich immer mehr in seinen Bibelbetrachtungen verlor, zog es zum Theologiestudium nach Amsterdam – ein Plan, dem seine Familie recht skeptisch gegenüber stand: »Wird er bereit sein, 7 Jahre mit dem Studium der Sprachen und anderer Dinge zu verbringen?« frugen sich die Eltern in einem Brief an den Bruder Theo. Und sie sollte mit ihren Zweifeln recht behalten, denn Vincent klagte über seine Schwierigkeiten mit Latein und Griechisch, besuchte außerdem lieber seine Verwandten, erkundete die Stadt und ihre Museen – und brach nach gut einem Jahr schließlich ab. Eine Evangelistenschule sollte ihm wenigstens das Predigen und die Seelsorge ermöglichen, aber auch die wenigen Monate im Brüsseler Vorort Laken waren nicht von Erfolg gekrönt.

Was nun? Das Borinage, eine arme Berargbeitergegend in Belgien, deren Schilderung an Emile Zolas »Germinal« erinnert. Hier fand der psychisch labile Vincent van Gogh zunächst eine Anstellung als Laienprediger, doch als sein Vertrag nicht verlängert wurde, war er arbeitslos auf das Geld angewiesen, das ihm Bruder Theo und ein Vater schickten. Erstmals stritt er sich intensiv mit seinem Bruder Theo – ein Jahr Funkstille hatte das zur Folge. Danach kam das Geständnis: er wolle Künstler werden, beschäftigte sich ebenso fanatisch wie zuvor mit theologischen Fragen mit Perspektive und Anatomie, verließ das Borinage und schrieb sich an der (kostenlosen) Brüsseler Kunstakademie ein. Seinen Lebensunterhalt finanzierte die Verwandtschaft, sein Freund Anthon van Rappard ließ ihn sein Atelier mitbenutzen und der 27.Jährige konnte sich mit Feuereifer in die Arbeit stürzen. Nach einer Intervention des Bruders Theo richtete er sich 1881 bei seinen Eltern, die inzwischen in Etten lebten, ein Atelier ein, aber dramatische Episoden bestimmten weiter das Leben des Künstlers bis er Weihnachten 1883 im Streit das elterliche Haus verließ und erneut Den Haag ansteuerte, wo er bereits einige Wochen bei seinem Cousin Anton Mauve gelernt hatte und sich nun mit der Aquarellmalerei und dem Zeichnen nach Modellen beschäftigte, wofür er Bahnhöfe, Arbeiterviertel, Suppenküchen und andere verrufene Orte besuchte – um »Typen« zu zeichnen. Aber auch Stadtansichten sind aus dieser Zeit erhalten; vom Bahnhof, von Gärten, Brücken und Häusern, und Ansichten des nahen Scheveningen. Ebenso finden sich zahlreiche Zeichnungen der Prostituierten Clasina »Sein« Hoornik, mit der er eine Beziehung einging. Auch das sollte eine Episode bleiben und in der nächsten Generation ging es nach Drenthe, wo die Heidelandschaften den Künstler lockten.

Bis dahin hatte der inzwischen knapp 30-jährige van Gogh bereits einige Umzüge hinter sich, stand sich mit seinen Eltern schon lange nicht mehr gut, wenngleich er bei ihnen immer wieder Zuflucht suchte, und schien seit seiner Londoner Zeit keines stabilen Alltags mehr fähig. Umso schwieriger ist es für den van Gogh Atlas all die Stationen, an denen er einige Wochen verbrachte, aufzulisten und es fällt auf: immer wieder ist das elterliche Pfarrhaus Anlaufstelle, die nach einiger Zeit im Streit wieder verlassen wird. So auch 1883 wieder, als es ihn zu Vater und Mutter nach Nuenen zog. Immerhin blieb er diesmal zwei Jahre bei seinen Eltern, bis zum Tode des Vaters 1885. Dass der wunderliche Pfarrerssohn Konflikte mit den Dorfbewohnern hatte, aber auch mit seiner Familie und schließlich der der Witwe van Gogh unter die Arme greifenden Schwester Anna, wundert nicht. Nächste Station: Antwerpen. Auch hier bot die Kunstakademie kostenlosen Unterricht an, aber schnell sollte van Gogh in Konflikt mit den anderen Studenten sowie dem Direktor Karel Verlat kommen – er brach ab.

Durch das Leben des Künstlers zieht sich dabei stets sein Geldmangel: Arbeitsmaterialien sparte er sich oft vom Munde ab, ebenso das Honorar für Modelle, und stets griff ihm der Bruder Theo unter die Arme, auch in Amsterdam, wo van Gogh wortwörtlich unter Hunger litt, der seiner Gesundheit schadete. Der Kontakt der Brüder intensivierte sich und mehr oder weniger spontan – ein Umzug nach Paris zum Bruder war zwar geplant, jedoch erst einige Monate später – bestieg Vincent einen Zug und überraschte Theo am 28. Februar 1886. Zwei Jahre lang sollten sie sich eine Wohnung leisten. Hier konnte van Gogh endlich die impressionistische Malerei aus der Nähe studieren – zu seiner Enttäuschung. Nichtsdestotrotz probierte er ihre Techniken aus, experimentierte mit farbigen Strichen und Punkten, und fand zu einer helleren Farbpalette. Die Vorliebe für ländliche Motive aber blieb auch in der Metropole erhalten. Auch hier hielt es ihn aber nicht lange, und seine Sehnsucht nach den Farben des Südens zog van Gogh nach Arles, wo es zum berühmten Verlust seines Ohrs kam. Die Ärzte im Krankenhaus überwiesen ihn dann zu seiner Sicherheit in die Heil- und Pflegeansteil Saint-Rémy de Provence, wo er sich regelrecht an die Malerei klammerte. Als er sich hier nicht mehr wohlfühlte, machte er sich zu guter Letzt nach Auvers sur Oise auf, wo ihn der Arzt Paul Gachet betreuen sollte. Hier fand van Gogh ideale Bedingungen vor; er verstand sich mit seinen Herbergsleuten, ihm sagte das ländliche Flair zu und er fühlte sich wohl. Er verfiel in einen wahren Schaffensrausch – in gut zwei Monaten schuf er rund 140 Gemälde und Zeichnungen. Doch seine nach wie vor labile Persönlichkeit und die Sorgen in der Familie des Bruders waren es wohl, die ihn sich am 27. Juli 1890 in die Brust schießen ließen. Zwei Tage später starb er.

Hier könnte der Atlas eines bewegten Künstlerlebens ändern, doch er tut es mitnichten. »Nach Vincent van Goghs Tod« widmet sich abschließend dem Engagement Theo van Goghs und seiner Familie für das Erbe des Malers, das ihn abschließend berühmt machen sollte. Ein Maler ist eben nicht nur Bildkünstler, sondern es braucht auch das, was wir heute Marketing nennen.

Das Buch bietet in allem einen reizenden leichten Zugang zum dramatischen Leben Vincent van Goghs, ist doch jedes Kapitel angereichert mit zahlreichen Bildern und Fotografien, mit Briefauszügen, Karten und Kurzinformationen zum Leben im 19. Jahrhundert. Vielleicht wäre man aber mit der Bezeichnung »Reiseführer« besser bedient gewesen, denn ein Kartenwerk ist das Buch nicht. Es bietet Beschreibungen der Lebensstationen Vincent van Goghs, führt vor Augen, was er zu seiner Zeit gesehen haben muss, illustriert sein Leben im besten Sinne. Und ja, van Gogh wird hier als Europäer sichtbar, der sich wie selbstverständlich vor allem zwischen Frankreich und den Niederlanden hin- und herbewegte. Das lebendige Layout machen es eher zu einem Geschenk für interessierte Laien – das ist dann aber eines, das Freude macht, denn es lädt dazu ein sich auf die Spuren des Künstlers zu begeben. Vielleicht ja im nächsten Urlaub.

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