Ausstellungsbesprechungen

Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister, Museum Folkwang Essen, bis 10. Januar 2016

Mit dem Begriff »naive Kunst«, »outsider art« oder »art brut« werden Werke von Künstlern bezeichnet, die sich jenseits der Strukturen des etablierten Kunstbetriebs verorten lassen. Das Museum Folkwang stellt erstmals dreizehn dieser Autodidakten vor, von denen es nur Henri Rousseau gelungen ist, anerkannter Teil der professionellen Szene zu werden. Allen ist gemeinsam, dass ihre Werke viele Ähnlichkeiten mit bekannten Avantgarde-Künstlern des 20. Jahrhunderts wie Pablo Picasso, Constantin Brancusi, Paul Gauguin, Emil Nolde oder Max Ernst aufweisen und sie zum Teil nachweislich beeinflusst haben. Susanne Braun war dort.

Maßgeblich dazu beigetragen, dass »naive« Künstler Wertschätzung erfahren konnten, hat Jean Dubuffet. In den 1940er Jahren stellte der Künstler Werke, die jenseits des Kunstbetriebs entstanden waren, als Gegenmodell zur etablierten Kunst dar. Für Dubuffet waren diese Werke »roh« (»brut«) und damit unberührt von jeder Kultur, was ihnen aus seiner Sicht eine eigene Qualität verlieh. Roger Cardinal entwickelte den Begriff weiter und prägte den Begriff der »Outsider Art«. Gemeint war damit nicht »naive Kunst« im eigentlichen Sinne, sondern mehr das vom Kunstbetrieb ausgeschlossene, isolierte Individuum. Vielleicht beschreibt der von Roger Cardinal entwickelte Begriff die Verhältnisse, unter denen viele der Autodidakten gelebt und gearbeitet haben, etwas besser. Tatsächlich mussten viele von ihnen unter schwierigsten Bedingungen in prekären Verhältnissen leben, wobei die Malerei manchmal sogar erst die Grundlage für das wirtschaftliche Überleben darstellte.

Nikifor Krynicki beispielsweise gehörte zu einer in Polen verachteten Minderheit und besaß jahrelang keine Papiere. Er ist ein Leben lang Analphabet geblieben und da er außerdem behindert war und nur mit Mühe sprechen konnte, waren die tausende von Aquarellen, die er schuf, oft nicht nur einzige Einnahmequelle, sondern auch wichtigste Möglichkeit, sich mit anderen Menschen zu verständigen.

Die Putzfrau Séraphine Louis konnte immerhin Dank ihrer Auftraggeber in botanischen Nachschlagewerken, die damals zum üblichen Bestand bürgerlicher Hausbibliotheken gehörten, die Inspiration für ihre ungewöhnlichen Blumenbilder finden. Dass ihr letzter Dienstherr und Förderer, der Kunsthändler, Sammler und Kunstliterat Wilhelm Uhde, sie plötzlich nicht mehr finanziell unterstützen konnte, löste bei ihr eine solch handfeste Krise aus, dass sie in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden musste und diese Zeit ihres Lebens nicht mehr verlassen konnte.

Bill Traylor lebte als schwarzer US-Amerikaner auf der Straße und hatte in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts kaum eine Chance, einer geregelten Arbeit nachzugehen. Seine zahlreichen Bilder malte er auf Pappstreifen, die damals überall auf der Straße herumlagen. Erst gegen Ende seines Lebens begegnete er seinem Unterstützer Charles Shannon, einem weißen Künstler, der sein Talent erkannte, ihn mit Farbe und Pinseln versorgte und letztlich 1.200 Bilder von Traylor retten konnte. Trotzdem Shannon von der Qualität der Bilder überzeugt war und sie für wertvolle Dokumente des damaligen Zeitgeschehens hielt, konnte er keinen Galeristen davon überzeugen, die Bilder auszustellen.

Andere sogenannte primitive Künstler wie Morris Hirshfield oder Ernst Bödeker begannen erst im Ruhestand mit dem Malen. Hirshfield arbeitete sein Leben lang in der Modebranche. Erst drei Jahre vor seinem Tod widmete das Museum of Modern Art in New York ihm eine Retrospektive, die allerdings von Seiten der Presse stark kritisiert wurde. Bödeker war Bergmann und fing nach seiner Frühpensionierung an, künstlerisch tätig zu werden. Er hat rund 700 Skulpturen geschaffen, von denen er viele in seinem Garten in Recklinghausen zur Schau stellte. Andere Werke wurden Teil privater und öffentlicher Sammlungen wie der des Museums für Deutsche Volkskunde in Berlin-Dahlem.

Einzig und allein Henri Rousseau ist es gelungen, als Autodidakt Teil des etablierten Kunstbetriebs zu werden. Sein mächtigster Fürsprecher, Guillaume Apollinaire, strickte an seiner Legendenbildung, indem er fantasiereiche Geschichten über ihn und die Entstehung seiner Bilder erfand. Wassily Kandinsky, Franz Marc, Otto Dix, Ferdinand Léger, Max Beckmann sowie Pablo Picasso diente er nachweislich als Inspiration. Dieser Sonderrolle ist es geschuldet, dass Hermann Czech die Architektur der Ausstellung um die Gemälde Henri Rousseaus im Zentrum gruppiert hat. Beim Betreten des Ausstellungsbereichs gelangt man fast unmittelbar zu seinen Bildern und dann von dort aus zu den, einesteils in der Halle und anderenteils in separaten kleinen Räumen arrangierten, Werken anderer Künstler. Die Abgeschiedenheit verleiht etwa den Werke Séraphine Louis`, Adalbert Trillhaases oder André Bauchants eine Intimität, die fast mit einem Wohnungsbesuch vergleichbar ist. Durch die Kunstwerke etablierter Künstler in der Halle werden die eindeutig erkennbaren Ähnlichkeiten mit den Arbeiten der Autodidakten deutlich.

Ganz besonders ins Auge stechend sind neben den Parallelen zu Avantgarde-Künstlern des 20. Jahrhunderts die vielen offenkundigen Anspielungen auf ältere Kunstwerke beispielsweise aus der Zeit des Mittelalters, der Gotik oder der Renaissance. Adalbert Trillhaases thematisch oft durch die Bibel inspirierten Gemälde greifen Motive des von 1506 bis 1515 entstandenen Isenheimer Altars von Matthias Grünewald auf, an anderer Stelle lässt die Gestaltungsweise bestimmter Personen Ähnlichkeiten mit dem Renaissance-Maler Hieronymus Bosch erkennen. An die Tradition der Marinemaler knüpft der ehemalige Seemann Alfred Wallis an, der mit siebzig Jahren anfing, Motive wie Segel-, Dampf sowie Fischerboote auf hoher See und maritime Landschaften aus dem Gedächtnis zu malen. Die Porträts, Landschafts-, Blumen-, Historien- und Passionsbilder sowie die Gesellschaftsstücke von Bauchant lassen Gemälde der Renaissance und des Barock von Raphael, Tizian, Ingres oder Giotto als Inspirationsquelle erkennen. André Bauchant war kein naiver Künstler im klassischen Sinne, er hat die Weltausstellung 1900 in Paris gesehen und ist dort Besitzer der ‚Klassiker der Flammarion-Weltgeschichte‘ geworden. Seine Landschaften weisen häufig gewisse Ähnlichkeiten mit der Vogelperspektive einer Landkarte auf, wohingegen es sich bei den Themen meist um kenntnisreich interpretierte historische oder christliche Sujets handelt.

Die Ausstellung eröffnet insofern viel mehr als nur einen neuen Blick auf viele Avantgarde-Künstler des 20. Jahrhunderts, sie bietet außerdem viel Gelegenheit, klassische Werke in einem ungewohnt modernen Kontext wieder zu entdecken.

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