Ausstellungsbesprechungen

Der Sturm – Zentrum der Avantgarde, Von der Heydt-Museum Wuppertal, bis 10. Juni 2012

Mit einer als sensationell zu bezeichnenden Ausstellung erinnert das Wuppertaler Von der Heydt-Museum derzeit an den Galeristen und Kunstvermittler Herwarth Walden, der vor hundert Jahren in Berlin seine Sturm-Galerie eröffnete. Zwanzig Jahre lang war sie ein »Zentrum der Avantgarde« (so der Untertitel der Ausstellung) und hat maßgeblich zur Durchsetzung der modernen Kunst in Deutschland beigetragen, bevor ihr die Nazis ab 1933 den Garaus machten. Rainer K. Wick hat sich die Schau angesehen.

In einem gut gegliederten Parcours mit hochrangigen Gemälden und Skulpturen, die aus Museen und Privatsammlungen in aller Welt zusammengetragen wurden, kann der Besucher der Wuppertaler Ausstellung zwei heroische Jahrzehnte der Moderne des 20. Jahrhunderts anschaulich nachvollziehen. Es ist das besondere Verdienst des Museumsdirektors Gerhard Finckh und der Kuratorin Antje Birthälmer, dass nicht eine beliebige Werkauswahl prominenter Sturm-Künstler offeriert wird, sondern dass von den etwa 200 Exponaten ca. 90% einstmals tatsächlich in der Sturm-Galerie gezeigt wurden und damit ein überaus authentischer Eindruck von den avancierten Aktivitäten Waldens gewonnen werden kann.

Zwar sind es die Kunstwerke selbst, die im Mittelpunkt der Wuppertaler Ausstellung stehen und dem Betrachter ein Highlight nach dem anderen offerieren, doch macht die Ausstellung auch deutlich, dass Kunst soziologisch erst durch einen komplexen Vermittlungsprozess zu dem wird, als was wir sie gemeinhin wahrnehmen. In diesem Prozess spielen neben der Kunstpublizistik, den Sammlern, den Museen und der Kunstwissenschaft vor allem mutige und weitsichtige Kunsthändler eine maßgebliche Rolle, die oft die ersten sind, die der neuen Kunst Öffentlichkeit verschaffen und zum Durchbruch verhelfen. Genau dies war die historische Leistung Herwarth Waldens, die mit der aktuellen Wuppertaler Ausstellung auf eindrucksvolle Weise ins Bewusstsein gehoben wird.

Etwas mehr als vier Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, am 3. März 1910, hatte der 1878 geborene Herwarth Walden in Berlin die erste Ausgabe einer Avantgarde-Zeitschrift erscheinen lassen, die den Titel »Der Sturm« trug. Walden machte unmissverständlich klar, dass es sich um das Sprachrohr der progressiven Kulturschaffenden selbst handeln sollte: »Der Sturm ist das Blatt der Unabhängigen. Kultur und Kunst der heutigen Zeit werden kritisch bewertet. In dieser Zeitschrift äußern sich nur Persönlichkeiten, die eigene Gedanken und eigene Anschauungen haben. Ausgeschlossen ist jede Art von Journalismus und Feuilletonismus«. Zwei Jahre später, am 12. März 1912, gründete Walden in Berlin eine Kunstgalerie, die Sturm-Galerie. Der Name war Programm, ging es hier doch um die Präsentation und Vermittlung der revolutionärsten Strömungen der damaligen Zeitkunst.

Zu einem Höhepunkt der Ausstellungsaktivitäten Waldens wurde im Jahr 1913 der Erste Deutsche Herbstsalon mit etwa 400 Werken von mehr als 80 Künstlern. Walden setzte ausschließlich auf das aktuellste Kunstschaffen. So wurden nicht nur Kokoschka, die „Blaue Reiter“-Künstler und die italienischen Futuristen gezeigt, sondern Arbeiten in Deutschland noch kaum bekannter Künstler der internationalen Avantgarde: der französische „Orphist“ Robert Delaunay allein mit 21 Arbeiten, die Pariser Kubisten Jean Metzinger und Albert Gleizes mit je einer Arbeit (Picasso fehlte allerdings, da er vertraglich anderweitig verpflichtet war), der Deutsch-Amerikaner Lyonel Feininger mit 4, der Schweizer Paul Klee mit 22, der Prager Kubist Emil Filla mit 4 und der russische „Rayonist“ Michail Larionow mit 3 Arbeiten.

Ein besonderes Faible hatte Walden für die russische Moderne. So zeigte er nicht nur Kandinsky, Larionow, dessen Partnerin Natalia Gontscharowa und den Bildhauer Alexander Archipenko, sondern kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch mehr als 30 Arbeiten von Marc Chagall. Zu erwähnen ist, dass Walden — zur damaligen Zeit keineswegs selbstverständlich — auch progressiven Künstlerinnen eine Plattform bot, meist Frauen oder Partnerinnen der von ihm vertretenen Künstler, so neben der erwähnten Natalia Gontscharowa etwa Sonia Delaunay, Gabriele Münter (damals Lebensgefährtin Kandinskys) oder die lange vergessene Belgierin Marthe Donas, Freundin Alexander Archipenkos, die nun mit ihren kubistischen Arbeiten, meistens Zeichnungen, im Zuge der Wuppertaler Ausstellung gleichsam eine Auferstehung erlebt.

Regelmäßig wird „Der Sturm“ mit dem Expressionismus identifiziert. Dass dies zu kurz gegriffen ist, zeigen Herwarth Waldens Aktivitäten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als er — in geradezu obsessiver Weise immer auf der Jagd nach Neuem — Schwitters’ dadaistische „Merz“-Kunst zeigte oder sich der Spielarten des Konstruktivismus annahm, sei es dem anthropozentrischen Konstruktivismus eines Oskar Schlemmer und Willi Baumeister oder dem geometrischen Konstruktivismus eines Walter Dexel, eines Moholy-Nagy, eines Lajos Kassák oder eines Victor Servranckx.

Immer am Puls der Zeit, blieb Walden auch in der Weimarer Republik einer der einflussreichsten Kunstvermittler, bevor er 1932 in die Sowjetunion emigrierte, wo er 1941 dem stalinistischen Terror zum Opfer fiel. Wie die Künstler ihren Galeristen sahen, dokumentieren in der Wuppertaler Ausstellung einige eindrucksvolle Porträts Herwarth Waldens, immer mit der charakteristischen Mähne, so Kokoschkas expressionistisches Bildnis von 1910, William Wauers großartige, kubistisch inspirierte Bronze von 1917 und Edmund Kestings giftig-gelbes Porträt von 1932, das letzte Bildnis dieses Ausnahmegaleristen, bevor er Deutschland verließ.

Weitere Informationen

Zur Ausstellung ist ein umfangreiches Katalogbuch erschienen, das eine ausgezeichnete Ergänzung der großen Sturm-Monografie von Georg Brühl (1983) und des Delmenhorster Kataloges »Der Sturm im Berlin der Zehner Jahre« (2000) darstellt. Die Erweiterung betrifft v. a. die Rolle, die das Rheinland und insbesondere Wuppertal (damals noch als Elberfeld und Barmen kommunal selbständig) für die frühen Aktivitäten Waldens spielten. Der Katalog kann über den Buchhandel oder das Museum bezogen werden.

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