Ausstellungsbesprechungen

Dialog über Grenzen – Die Sammlung Riese, Kunsthalle St. Annen, Lübeck, bis 6. Januar 2012

Vierzig Jahre lang hat der Journalist Hans-Peter Riese Kunst in Ost und West gesammelt. Die schöne Sammlung konzentriert sich ganz auf Arbeiten der Sechziger und Siebziger Jahre, auf Konkrete Kunst und Op-Art, und demonstriert trotz der Trennung durch den Eisernen Vorhang eine parallele Entwicklung in ganz Europa. Stefan Diebitz hat die anregende Ausstellung besucht.

Schon seit zwei Jahren tourt die Sammlung durch Deutschland und Tschechien: Vor Lübeck wurde sie in Prag, Düren und Erfurt gezeigt, und auf ihrer letzten Station wird sie sich in Regensburg präsentieren. Ihr Titel spricht von einem »Dialog über Grenzen«. Aber der Sammler selbst korrigierte sich in der Einführung – als er von zwei Monologen redete – weil die Kunst aus dem Osten im Westen kaum zur Kenntnis genommen wurde. Von einem Gespräch kann da eigentlich keine Rede sein. Trotzdem fanden die Künstler in beiden getrennten Welten zu einer gemeinsamen Ästhetik; eben auf dieses Gemeinsame zielt die sehr durchdachte Konzeption der Ausstellung.

Es dürfte schwerfallen, einen kompetenteren Historiker der Kunst dieser Jahre in Osteuropa zu finden. Hans-Peter Riese – im Hauptberuf langjähriger politischer Korrespondent u.a. in Prag und Moskau (für die FAZ, aber auch für den Deutschlandfunk) – trat immer auch als Kunstkritiker und Buchautor hervor. Ihm selbst ist besonders seine Monografie über Malewitsch wichtig.

Rieses entsprechend sachverständige Einführung in Sammlung und Ausstellung war schon dank zahlloser Anekdoten ein besonderes Vergnügen. Zusätzlich fand seine jahrzehntelange Berufserfahrung ihren Niederschlag in höchst einprägsamen Umschreibungen. So sprach er treffend von der »Eiseskälte der konstruktiven Kunst«, deren fast ausschließlich schwarz-weiße Arbeiten sich in einem weißen Raum von der intimen Wärme einer Zahnarztpraxis versammelten. Hier durfte man eine bekannte Arbeit des Tschechen Jiří Kolář bewundern, eine »Venus nach Botticelli«. Ihr Bild hatte der Künstler geradezu aufgefächert, so dass die jugendliche Göttin doch ein wenig arg in die Breite gegangen ist. Die Arbeit gibt es in drei Varianten, von denen eine im Prager Nationalmuseum und eine in der UNO in New York zu bewundern ist.

Über Kolářs Arbeiten heißt es in dem sehr empfehlenswerten Katalog, dass er mit »großem Humor und ungemeiner Intelligenz […] in seinen äußerst vielseitigen Collagen, Rollagen, Crumblagen und Chiasmagen an und für sich unantastbare Wahrzeichen einer Stadt oder ikonische Meisterwerke eines Museums« darstellt. So wird Botticellis Venus »auf humorvolle Weise liebevoll und mit großer Freude, wie es scheint, entwürdigt«. Die Venus ist nach dieser humorvollen Behandlung jedenfalls weitaus umfangreicher als Botticellis gertenschlankes Original.

Mehrfach in der Ausstellung vertreten ist der Tscheche Vladimir Boudnik. Auch er, der in Westeuropa fast ganz unbekannt ist, verfolgte Konzepte, die denen deutscher Künstler zum Verwechseln ähnlich sind. Boudnik entwickelte, so heißt es im Katalog, »neben seinen Grafiken, in denen er mit Sand und erdigen Materialien Prägedrucke und Materialcollagen herstellte, öffentliche ‚performances’, wie sie auch von deutschen Fluxuskünstlern praktiziert wurden. So stellte sich Boudnik zum Beispiel vor eine Hauswand, befestigte daran einen Rahmen und erklärte das gerahmte Stück Mauerwerk zum Kunstwerk.«

Eine der schönsten der vielen Anekdoten betraf Günther Uecker, den Riese vor einer großen Ausstellung in Prag auf die Notwendigkeit hinwies, seine genagelten Bilder ausreichend zu bewachen. Uecker fand das lächerlich, musste aber schon zwei Tage später zugeben, dass die Warnung zu Recht erfolgt war: Die Nägel wurden aus den Bildern geklaut, und zwar die größten zuerst.

Laut Riese gab es in Osteuropa keineswegs nur Dissidenten auf der einen und staatstragende Realisten auf der anderen Seite. Denn dazwischen fand sich eine Reihe von Künstlern, deren eingeschlagenen Wege, denen ihrer westlichen Kollegen zum Verwechseln ähnlich sahen. Dabei waren die ästhetischen Standards einander gleichwertig. Es gab hier wie dort Konkrete Malerei, das Informel oder Lettrismus. Immer wieder betonte Riese die Parallelität der künstlerischen Konzepte und forderte die Besucher auf, einzelne Arbeiten verschiedenen Ländern zuzuordnen – ohne auf die kleinen Schilder zu schielen. Allerdings war es nicht möglich. Das spricht für die Konzeption der Ausstellung, indem es ihre Grundthese bestätigt, aber beweist es auch die Qualität der Kunst?

Was ist das für eine Kunst, die ihre Zeit, ihre intellektuelle Umgebung, ihre Heimat so vollkommen ausblendet, dass die einzelnen Arbeiten nicht einmal mehr einem Land oder einer Gesellschaftsform zugeordnet werden können? Ist es nicht so, dass eine totale Autonomie die Kunst zu einer bloß ästhetischen Erscheinung herabwürdigt? Macht es Sinn, wie Gerhard Leistner in seinem Katalogbeitrag von der Kunst zu sagen, sie sei »heute reine Erkenntnistheorie«? Wenn Kunst, so schreibt dieser Autor, dazu »imstande ist, beim Betrachter an seine Fähigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung zu appellieren, dann hat sie ihre Aufgabe bereits erfüllt.« Kann eine solche Kunst noch Ausstrahlung oder Bedeutung besitzen? Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, ob die Arbeiten dieser unangepassten Künstler sich im Anschluss an die Öffnung Osteuropas geändert haben.

Viele der ausgestellten Arbeiten sind sehr durchdacht und ästhetisch außerordentlich reizvoll – etwa Richard Paul Lohses »Sechs komplementäre Farbreihen« oder Adolf Luthers namenlose Plastik aus insgesamt 48 Spiegeln –, ohne dass ihnen irgendeine Bedeutung zukäme, die über das bloß Ästhetische hinausginge. Wird Kunst hier nicht zu bloßem Raumschmuck degradiert?

In der Ausstellung dominiert die Abstraktion, aber auch die figürliche Kunst fand Eingang; Riese selbst sprach mit Blick auf sie von »Ausreißern«. Besonders eindrucksvoll sind vier Blätter der Russin Gontcharowa von 1920 – 1922, folkloristisch anmutende Illustrationen von Märchen. Hier sieht man sofort, dass die Holzschnitte nach Osteuropa gehören. Stilistisch ebenfalls auf die Zwanziger Jahre verweist »Metro«, das allerdings erst zwischen 1985 und 1988 gemalte, in dunkelbraunen Farben gehaltene Bild einer überfüllten Bahn von Sergej Tschesnokow-Ladyschinskij. Die Isolation der Fahrgäste voneinander, ihre Verschlossenheit und der ins Depressive hinüberspielende Ernst ihrer Mimik wurde von dem Maler in einer ungemein konzentrierten Komposition eindrucksvoll festgehalten.

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