Ausstellungsbesprechungen

Die Geburtsstunde der Fotografie, Reiss-Engelhorn-Museen, Museum Zeughaus C5, Mannheim, bis 24. Februar 2013

In Mannheim erwarten den Besucher Meilensteine der Fotografiegeschichte: Von der ersten fotografischen Außenaufnahme, über Daguerrotypien und Reisefotografien bis hin zum Fotojournalismus nach '45 reicht das Spektrum. Rainer K. Wick war vor Ort und berichtet.

Mit der Erfindung der Fotografie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann ein lang gehegter Menschheitstraum in Erfüllung zu gehen, nämlich Bilder »in unnachahmlicher Treue« (Humboldt) apparativ herstellen zu können, also ohne sich der geistgeleiteten und handwerklich geschulten Hand bedienen zu müssen. Es handelte sich zweifellos um eine der folgenreichsten technischen Erfindungen der Neuzeit, die das Versprechen einer „objektiven“ Wiedergabe der Wirklichkeit enthielt.

Teil der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen, die regelmäßig mit spektakulären archäologischen, historischen und kunstgeschichtlichen Sonderausstellungen aufwarten, ist u.a. das Forum Internationale Photographie (FIP). Es beherbergt die ca. 4.000 Fotos umfassende Kollektion historischer Reisefotografien des 19. Jh. aus der Sammlung des Geschwister Reiß, das Fotoarchiv des 1924 geborenen, bedeutenden Fotografen Robert Häusser und den zeitgenössischen Teil der Fotosammlung von Helmut Gernsheim mit mehreren tausend fotografischen Arbeiten aus dem 20. Jahrhundert.

Helmut Gernsheim (1913-1995), selbst ausgebildeter Fotograf, emigrierte in der Nazi-Zeit nach England und begann in den 1940er Jahren gemeinsam mit seiner englischen Frau Alison in geradezu obsessiver Manier Fotografien erster Güte zu sammeln. 1963 verkauften die Gernsheims ihre inzwischen auf rund 35.000 Originalabzüge angewachsene Sammlung an die Universität Texas in Austin (heute befindet sie sich im Harry Ransom Center). Das Ehepaar setzte sich im schweizerischen Lugano zur Ruhe. Doch nach Alisons frühem Tod erwachte die Sammelleidenschaft Gernsheims, der sich auch als Autor einer bis heute grundlegenden Fotogeschichte (»The History of Photography«) verdient gemacht hat, erneut. Im Mittelpunkt seiner Aktivitäten als Sammler stand nun die zeitgenössische Fotografie. Sieben Jahre nach seinem Tod konnten die Reiss-Engelhorn-Museen im Jahr 2002 diese zweite Gernsheim-Sammlung erwerben. Eine hochkarätige Auswahl aus beiden Teilen der Gernsheim-Collection ist noch bis zum 6. Januar 2013 im Museum Zeughaus in Mannheim zu besichtigen.

Der Mannheimer Foto-Parcours führt den Besucher von einem Highlight der Fotogeschichte zum anderen. Den absoluten Höhepunkt der Ausstellung bildet die in einem hermetisch geschlossenen, klimatisierten Schaukasten wie eine Reliquie fast sakral inszenierte erste Fotografie der Welt, ein Werk, das in der Presse auch als »Urknall des Fotografie« (FAZ) apostrophiert wurde. Das ist eine bombastische Formulierung, zumal angesichts des unscheinbaren Aussehens dieses Exponates. Zieht man seine Bedeutung als Ausgangspunkt einer Medienrevolution ungeahnten Ausmaßes in Betracht, ist die Urknall-Metapher allerdings absolut berechtigt. Im Jahr 1826 gelang dem Franzosen Joseph Nicéphore Niépce mit einer Camera Obscura die Herstellung einer sog. Heliografie (abgeleitet aus dem Griechischen „gráphein“= schreiben, zeichnen, und „hélios“ = Sonne), die als erste Fotografie in die Geschichte einging. In einer für diesen Zweck eigens konstruierten Kamera platzierte er eine mit Asphalt beschichtete Zinnplatte (etwas kleiner als DIN A4), die er über acht Stunden lang dem Sonnelicht aussetzte, also belichtete. Durch die Einwirkung des Lichtes wurde der Asphalt gehärtet. Bei der anschließenden Behandlung der Platte mit Lavendelöl und Petrolium wurden die schwächer belichteten Asphaltpartien herausgelöst, während die anderen „fixiert“ blieben. Das Resultat war ein dauerhaftes Direktpositiv.

Zweifellos markierte dieses Experiment einen entscheidenden Schritt hin zur automatischen Bildaufzeichnung. Das Bild zeigt einen Blick aus dem Fenster des Zimmers von Niépce in Le Gras bei Chalon-sur Saône. Technisch allerdings noch unzureichend, war es dann Louis Jacques Mandé Daguerre, dem Ende der 1830er Jahre die Vervollkommnung des heliografischen Verfahrens gelang und der mit seinen Daguerrotypien allgemein als Erfinder der Fotografie gefeiert wird, was historisch freilich nicht ganz korrekt ist. Doch das ist eine andere Geschichte.

Die Mannheimer Ausstellung ist nicht chronologisch, sondern nach Themengruppen geordnet: Landschaft und urbaner Raum, Reise- und Ethnofotografie, Stillleben, Bildjournalismus, TIO-Gruppe, Menschenbildnisse, Experimentelle Fotografie. Dass diese Kategorien weder trennscharf noch auf einer gemeinsamen Abstraktionsebene angesiedelt sind, soll angesichts der Tatsache, dass dem Besucher in seltener Dichte Ikonen der Fotogeschichte vorgeführt werden, nicht überbewertet werden. Hier ist alles versammelt, was Rang und Namen hat, es ist ein Who Is Who der bedeutendsten Fotografen des 19. und 20. Jahrhunderts, und einzelne Namen hervorzuheben verbietet sich allein schon deshalb, weil es keinen plausiblen Grund gibt, einige zu nennen und andere unerwähnt zu lassen. Jedenfalls bietet die Ausstellung erstklassige Belegstücke für alle wichtigen Stationen der Fotogeschichte, von der Reisefotografie des 19. Jahrhunderts über die Kunstfotografie und den Piktorialismus um 1900, die amerikanische Straight Photography, das Neue Sehen und die Neue Sachlichkeit der 1920er Jahre, die Subjektive Fotografie der 1950er und 60er Jahre sowie den Sozialen Dokumentarismus und den Fotojournalismus nach 1945.

Lediglich ein Foto sei herausgegriffen – nämlich die Ikone der Kriegsfotografie des 20. Jahrhunderts – Robert Capas berühmtes Bild »The Falling Soldier«, aufgenommen 1936 im Spanischen Bürgerkrieg. Bis heute ist umstritten, ob dieses Foto tatsächlich den tragischen Todes eines republikanischen Kämpfers dokumentiert, oder ob es sich um eine ästhetisch überaus effektvolle Inszenierung, ein Fake, handelt. Die anhaltende Kontroverse um Capas Foto bietet einmal mehr die Gelegenheit, die Grundsatzfrage zu stellen, ob der eingangs erwähnte Anspruch der Fotografie auf „Wirklichkeit“, Wahrheitstreue und Authentizität haltbar ist. Dass dieser Anspruch keinesfalls immer und nur bedingt aufrecht zu erhalten ist, dürfte sich allerdings spätestens im Zeitalter des digitalen Bildes allgemein herumgesprochen haben.

Keine noch so qualitätvoll gemachte Publikation kann die Erfahrung des Originals ersetzen. Dennoch sei allen an Fotografie Interessierten, die die Ausstellung in Mannheim nicht sehen können, dringend das exzellente, hervorragend bebildert Katalogbuch empfohlen.

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