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Die Neue Sachlichkeit - 
Ein Jahrhundertjubiläum. Kunsthalle Mannheim, bis 9. März 2025. Katalog Deutscher Kunstverlag

Vor hundert Jahren, im Sommer 1925, fand im Jugendstil-Bau der Kunsthalle Mannheim eine Ausstellung statt, die Epoche machen sollte, „Die Neue Sachlichkeit“ – eine Begriffsschöpfung des damaligen Direktors Gustav Friedrich Hartlaub. Ein Jahrhundert später zeigt die Mannheimer Kunsthalle im neuen Hector-Bau (benannt nach dem Stifter-Ehepaar Hans-Werner und Josephine Hector) eine großartige, breit angelegte Jubiläumsausstellung, die an Hartlaubs bahnbrechendes Projekt erinnert, zugleich aber auch als dessen kritische Revision verstanden sein will und insbesondere das Schaffen jener Künstler*innen einbezieht, die in der ursprünglichen Schau fehlten. Zudem wird in einer digitalen Raumprojektion die historische Ausstellung des Jahres 1925, die bedauerlicherweise fotografisch nicht dokumentiert ist, wieder zum Leben erweckt. Rainer K. Wick hat die Ausstellung gesehen und kann ihren Besuch ebenso wie die Lektüre des zugehörigen, kiloschweren, mehr als vierhundert Seiten starken Katalogbuches nur empfehlen.

Arno Henschel: Dame mit Maske, 1928. © Görlitzer Sammlungen.
Arno Henschel: Dame mit Maske, 1928. © Görlitzer Sammlungen.

So eindeutig der Begriff „Neue Sachlichkeit“ auf den ersten Blick erscheinen mag und so sehr er sich in den letzten hundert Jahren als Stil- und Epochenbegriff etabliert hat, so sehr erweist er sich bei genauerer Betrachtung und konkreter Anwendung doch als ein Begriff mit erheblichen Randunschärfen, ja Unvereinbarkeiten, oder, wie Hans-Jürgen Buderer schon vor dreißig Jahren anlässlich der gleichnamigen Kunsthallen-Ausstellung festgestellt hat, als ein „Begriff mit Fragezeichen“. Dass das, was kunstgeschichtlich gemeinhin als „neusachlich“ rangiert, sowohl in stilistischer als auch in thematischer Hinsicht höchst unterschiedlich sein kann, machen die in der aktuellen Mannheimer Jubiläumsausstellung gezeigten Werke in eindrucksvoller Weise deutlich. Sie reichen von Max Beckmanns „transzendenter Sachlichkeit“, wie er es 1920 selbst nannte, über die bildnerisch formulierte Gesellschafts- und Zeitkritik von George Grosz und Otto Dix, die scheinbar objektiven, emotionslos registrierenden, unterkühlten Darstellungen von Mensch und Umwelt etwa von Christian Schad oder Carl Grossberg, die Tendenzen eines „magischen Realismus“, beispielsweise bei Franz Radziwill oder dem Niederländer Carel Willink, bis hin zu neo-romantischen Strömungen in Gestalt idyllischer, zeit- und realitätsfern anmutender Kompositionen von Franz Lenk oder Georg Schrimpf.

links: Kunsthalle Mannheim, Jugendstilbau von 1907 rechts: Ausstellungsplakat 1925
links: Kunsthalle Mannheim, Jugendstilbau von 1907 rechts: Ausstellungsplakat 1925


Die Heterogenität dessen, was unter dem Begriff der Neuen Sachlichkeit rangiert, war einem so profilierten und breit aufgestellten Kunsthistoriker und Museumsmann wie Gustav F. Hartlaub natürlich nicht entgangen. Entsprechend unbestimmt, man kann auch sagen: unverbindlich, lautete der Untertitel der Mannheimer Ausstellung des Jahres 1925 „Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“. Berücksichtigt wurde dabei nur die gegenständliche Kunst, „die Kunst der abstrakten ‚konstruktivistischen‘ Richtungen“, wie Hartlaub es formulierte, blieb bewusst beiseitegelassen. Zwar hatte der Expressionismus unter dem Eindruck von Krieg und unmittelbarer Nachkriegszeit noch eine kurze zweite Blüte erlebt, doch mit der allgemeinen Ernüchterung zu Beginn der 1920er Jahre ging ein Abflauen des expressiven Pathos und eine Hinwendung zu einem „neuen Realismus“ einher. In dem schmalen Katalog zur Ausstellung, eigentlich nur ein Verzeichnis der ausgestellten Arbeiten mit einigen Abbildungen, unternahm Hartlaub den Versuch, der neuen Situation terminologisch Herr zu werden, indem er grob zwei Gruppen unterschied: „Die eine – fast möchte man von einem ‚linken Flügel‘ sprechen – das Gegenständliche aus der Welt aktueller Tatsachen reißend […]. Die andere mehr den zeitlos-gültigen Gegenstand suchend […]. ‚Veristen‘ hat man die einen genannt, Klassizisten könnte man fast die anderen nennen […].“ Im Jahr der Mannheimer Ausstellung erschien dann im Herbst aus der Feder des Kunsthistorikers, Publizisten, Fotografen und Collagekünstlers Franz Roh das Buch „Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei“. Mit dem Begriff des Magischen Realismus führte der Autor neben Hartlaubs Einteilung in einen „linken“, „veristischen“ und einen konservativen, klassizistischen, „rechten“ Flügel eine dritte Kategorie ein, mit der er Künstler zu berücksichtigen suchte, die von der italienischen Pittura metafisica und vom aufkommenden Surrealismus beeinflusst wurden. Trotz gelegentlicher Überschneidungen beziehungsweise fließender Grenzen sind damit begrifflich die drei Haupttendenzen innerhalb der Neuen Sachlichkeit erfasst, als deren Gemeinsamkeit trotz aller Unterschiede die Abkehr vom Expressionismus und die Anwendung bildsprachlicher Mittel des Realismus zu konstatieren ist.

links: Max Beckmann, Christus und die Sünderin, 1917/18 rechts: Frau Tube, 1919
links: Max Beckmann, Christus und die Sünderin, 1917/18 rechts: Frau Tube, 1919

Den Auftakt der von Inge Herold, stellvertretende Direktorin der Mannheimer Kunsthalle, außerordentlich sachkundig kuratierten Ausstellung, in der mehr als 230 Arbeiten von 124 Künstler*innen präsentiert werden, bildet im Erdgeschoss des Hector-Baus ein Raum, in dem sich mit Beckmann, Grosz und Dix drei Künstler ein Stelldichein geben, die schon in der historischen Schau des Jahres 1925 prominent vertreten waren. Hartlaub hielt Max Beckmann für den bedeutendsten zeitgenössischen Maler (was übrigens der Selbsteinschätzung des Künstlers entsprach), erwarb von ihm in den 1920er Jahren mehrere Gemälde für die Kunsthalle und richtete ihm 1928 die erste museale Einzelausstellung ein. Obwohl seine Zugehörigkeit zur Neuen Sachlichkeit keineswegs unumstritten ist – man dürfte ihm wohl eher gerecht werden, wenn man ihn als großen Einzelgänger einstuft –, war er 1925 mit vierzehn Gemälden (von 132, die von 32 Künstlern stammten) deutlich überrepräsentiert. Während sein ausdrucksstarkes Gemälde „Christus und die Sünderin“ (1917/18) mit seinen Formverzerrungen und -übertreibungen eher noch dem Expressionismus nahesteht, zeigt das „Bildnis Frau Tube“ von 1919 schon Merkmale, die sich mit dem erst später geprägten Begriff „neusachlich“ assoziieren lassen.

links: George Grosz, Grauer Tag, 1921 rechts: George Grosz, Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße, 1925
links: George Grosz, Grauer Tag, 1921 rechts: George Grosz, Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße, 1925

Mit je sieben Gemälden hatten in der historischen Ausstellung von 1925 auch die „Veristen“ George Grosz und Otto Dix einen starken Auftritt. Ihnen ging es um die wahrheitsgemäße, um die wahrhaftige Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jahren der Weimarer Republik. Mögen die die „happy few“ ihr damaliges Leben goutiert haben, für das Gros der Bevölkerung, insbesondere für die unteren Schichten, für Tagelöhner, Kriegsversehrte, Prostituierte und sonstige sozial Deklassierte waren die Zwanziger Jahre alles andere als „golden“. Ein beredtes Zeugnis vom Elend der Zeit ist das Bild „Grauer Tag“ von George Grosz aus dem Jahr 1921. Für den im Mittelgrund dargestellten ausgemergelten, noch mit einer Soldatenuniform bekleideten arbeitslosen Einarmigen gibt es keine Zukunftsperspektive, ist doch von dem im Vordergrund karikierend wiedergegebenen, wohlgenährten „Magistratsbeamten für Kriegsbeschädigtenfürsorge“, so der Bildtitel im Katalog von 1925, keine Unterstützung zu erwarten. Der Industriearbeiter mit geschulterter Schaufel im Hintergrund geht gesichtslos seiner Tätigkeit nach, ein Schieber drückt sich an der rechten Hauswand entlang, um bei seinen Machenschaften möglichst unentdeckt zu bleiben – Malerei als beißende Gesellschaftskritik, oder mit den Worten Künstlers: „Der Verist hält seinen Zeitgenossen den Spiegel vor die Fratze. Ich zeichnete und malte aus Widerspruch und versuchte durch meine Arbeiten diese Welt davon zu überzeugen, dass sie hässlich, krank und verlogen ist.“ Eine Inkunabel der Neuen Sachlichkeit ist das „Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neiße“, das George Grosz 1925 auf Anfrage Hartlaubs zur Mannheimer Ausstellung beisteuerte. So radikal Grosz seinen politisch linken Überzeugungen Ausdruck verlieh, so konsequent verzichtete er darauf, seinem Modell – als Literat in seiner Zeit eine Größe, körperlich aber gehandicapt, klein, verwachsen, bucklig – zu schmeicheln. Vielmehr kultivierte er mit den Mitteln eines fast übergenauen Realismus eine Ästhetik, die ganz im Sinne seiner Suche nach „Wahrheit“ (lat. veritas) auch vor dem Hässlichen nicht Halt machte.

links: Otto Dix, Salon I, 1921 rechts: Otto Dix, Bildnis der Tänzerin Anita Berber, 1925
links: Otto Dix, Salon I, 1921 rechts: Otto Dix, Bildnis der Tänzerin Anita Berber, 1925

Dies gilt auch für Otto Dix, neben Künstlern wie (dem frühen) Georg Scholz, Rudolf Schlichter, Otto Griebel, Curt Querner und anderen Hauptvertreter des „linken Flügels“. Mit seinen Bildern von „Verlierern der Gesellschaft [schuf er] die Prototypen der Zeit“, wie Kuratorin Inge Herold treffend feststellt. Dazu gehörten auch die Prostituierten, deren traurige Existenz Dix in zahlreichen Gemälden thematisiert hat. In der Mannheimer Jubiläumsausstellung ist es das Gemälde „Salon I“ (1921), in dem der Künstler den tristen Alltag der schrill geschminkten, herausgeputzten Frauen – zwei von ihnen schon deutlich gealtert, die eine ausgezehrt und eingefallen, die andere aufgedunsen – in Erwartung ihrer Freier schildert. Das ist mehr als nur eine nüchterne Situationsschilderung, sondern eine Anklage gegen ein ausbeuterisches System, in dem Frauen ihren Körper feilbieten müssen, um überleben zu können. Im Jahr der historischen Ausstellung in Mannheim schuf Dix das eindrucksvolle „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, die in der ersten Hälfte der 1920er Jahre mit aufreizenden Nackttänzen für Furore sorgte und alkohol- und kokainsüchtig schon mit achtundzwanzig Jahren starb. Klaus Mann hat sie so beschrieben: „[…] das Gesicht zur grellen Maske erstarrt unter dem schaurigen Gelock der purpurnen Coiffure. […] Ihr Gesicht […] eine düstere und böse Maske. Der stark geschwungene Mund […] war keineswegs ihrer, vielmehr ein blutig-rotes Machwerk aus dem Schminktöpfchen.“

links: Leonore-Maria Stenbock-Fermor, Märkische Bäuerin, um 1930 rechts: Ilona Singer, Bildnis Robert von Mendelssohn, 1928
links: Leonore-Maria Stenbock-Fermor, Märkische Bäuerin, um 1930 rechts: Ilona Singer, Bildnis Robert von Mendelssohn, 1928

Inge Herold bezeichnet Dix zu Recht als „schonungslosen Porträtisten“, und damit stand er innerhalb der Neuen Sachlichkeit nicht allein, wie der Themenschwerpunkt „Das Bild des Menschen“ in der Mannheimer Jubiläumsausstellung deutlich macht. Hier sind es nicht nur die ganz großen Namen, die die Szene beherrschen, sondern auch kaum bekannte oder durch die Maschen der Kunstgeschichte gefallene Künstler*innen, die zu einem facettenreichen und differenzierten Panorama neusachlicher Porträtkunst beitragen. Erwähnt sei beispielsweise das nur selten zu sehende Gemälde „Märkische Bäuerin“ (um 1930) von Leonore Maria Gräfin Stenbock-Fermor, das in Nahsicht eine alte Frau mit faltendurchfurchtem Gesicht bei der Küchenarbeit zeigt. Ob hier der Begriff „schonungslos“ zutreffend wäre, mag dahingestellt bleiben, denn trotz aller nüchternen Darstellung sucht man in diesem Bild den für die Neue Sachlichkeit allgemein als typisch erachteten „kalten Blick“ vergeblich. Eher scheint hier etwas von der Fähigkeit der Künstlerin auf, sich in die bescheidene Existenz eines Menschen, der ein Leben lang hart gearbeitet und dafür körperlich bezahlt hat, einfühlen zu können. Im Unterschied zu diesem berührenden Bild zeichnen sich die neusachlichen Menschendarstellungen häufig aber dadurch aus, dass die Körper statisch, wie erstarrt und die Gesichter emotionslos und distanziert erscheinen und der Blick ins Leere zu gehen scheint, so wie etwa in dem unterkühlt anmutenden „Bildnis Robert von Mendelsohn“ (1928) der jüdischen Künstlerin Ilona Singer, die 1944 im KZ Auschwitz ums Leben kam.
Das Interesse der neusachlichen Künstler*innen galt sowohl dem individuellen Gesicht als auch der Charakterisierung von Typen der unterschiedlichsten Klassen, Schichten und Milieus, die das Erscheinungsbild der Weimarer Republik bestimmten – einer Gesellschaft, die durch den Weltkrieg aus den Fugen geraten war und im Begriff war, sich neu zu formieren. Neben tradierten Berufen wie Bauern, Handwerkern und Arbeitern spielten die Angestellten eine zunehmende Rolle und gerieten als „neuer Mittelstand“ nicht nur in den Fokus von Soziologen – man denke an Siegfried Kracauers Buch „Die Angestellten“ von 1930 –, sondern auch von Literaten und bildenden Künstlern. „Die neue Frau, vom Girl über die Garçonne bis hin zur berufstätigen Angestellten, fand Eingang in die Kunst“, wie Inge Herold bemerkt. Typische Frauenberufe der damaligen Zeit waren Stenotypistinnen, Buchhalterinnen, Telefonistinnen und Laborangestellte – in Mannheim ist es die mit ikonischem Kurzhaarschnitt auftretende „Laborantin“ (1927) von Richard Birnstengel, die das Eindringen von Frauen in eine bislang männlich dominierte Berufswelt signalisiert.

links: Richard Birnstengel, Laborantin, 1927 rechts: Friedel Dethleffs-Edelmann, Selbstbildnis in der Malkutte, 1932
links: Richard Birnstengel, Laborantin, 1927 rechts: Friedel Dethleffs-Edelmann, Selbstbildnis in der Malkutte, 1932

In Gustav F. Hartlaubs Ausstellung des Jahres 1925 war keine einzige Künstlerin vertreten, was ursächlich mit der historischen Benachteiligung von Frauen im Kunstbetrieb zusammenhing. In Deutschland durften sie erst mit der Einführung des Frauenwahlrechts im Jahr 1919 an Kunstakademien studieren, und bis 1925 hatten sich neusachlich malende Frauen, manche Schülerinnen der Protagonisten der Neuen Sachlichkeit, offensichtlich noch kaum als Künstlerinnen etablieren können, so dass sie seinerzeit Hartlaubs Aufmerksamkeit entgangen sein dürften. Tatsächlich traten aber nach 1925 zahlreiche Frauen in Erscheinung, die im Stil der Neuen Sachlichkeit arbeiteten und die nun in der großen Mannheimer Jubiläumsausstellung ihren angemessenen Platz gefunden haben. Fridel Dethleffs-Edelmanns minutiös gemaltes „Selbstbildnis in der Malkutte“ von 1932 ist ein eindrucksvolles Dokument des Selbstbewusstseins, mit dem Frauen in der Zwischenkriegszeit als Künstlerinnen auftreten konnten.

links: Ottilie Roederstein, Hanna Bekker vom Rath im Profil, 1923 rechts: Anita Rée, Bildnis Hildegard Heise, 1927
links: Ottilie Roederstein, Hanna Bekker vom Rath im Profil, 1923 rechts: Anita Rée, Bildnis Hildegard Heise, 1927

Nach der Devise „Frauen malen Frauen“ traten sie insbesondere als Porträtmalerinnen hervor, so etwa Ottilie Roederstein, die mit einer altmeisterlich in der Manier der italienischen Frührenaissance gehaltenen Profilansicht der Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath präsent ist, oder Anita Rée, die die Fotografin Hildegard Heise, eine Schülerin des neusachlichen Meisterfotografen Albert Renger-Patzsch, en face porträtiert hat. Dass sich nicht nur Männer wie Christan Schad auf die Aktmalerei verstanden – in Mannheim ist sein „Halbakt“ von 1929 zu sehen, ein Meisterwerk hyperrealistischer Malerei und unterkühlter Erotik –, sondern auch Frauen, zeigen Arbeiten von Anita Rée, Kate Diehn-Bitt oder Gussy Hippold-Ahnert, deren veristisches Gemälde „Sitzender Akt“ von 1930 den direkten Einfluss ihres Lehrers Otto Dix an der Dresdner Akademie erkennen lässt.

links: Christian Schad, Halbakt, 1929 rechts: Gussy Hippold-Ahnert, Sitzender Akt, 1930
links: Christian Schad, Halbakt, 1929 rechts: Gussy Hippold-Ahnert, Sitzender Akt, 1930

Neben Bildern gesellschaftskritischen Inhalts von Malern des „linken Flügels“ sowie Figurenbildern und Porträts gehörten insbesondere Stillleben, Darstellungen der urbanen und industriellen Realität und Landschaften zu den thematischen Schwerpunkten der Malerei der Neuen Sachlichkeit. Sie zeichnen sich in der Regel durch ein hohes Maß an Präzision, durch Detailtreue und einen strengen Bildaufbau aus. In den neusachlichen Stillleben, in denen zum Teil eine metaphysische Grundstimmung herrscht, tauchen neben schlichten Gegenständen des täglichen Gebrauchs häufig Zimmerpflanzen wie Kaktus und Gummibaum auf – Pflanzen, die robust, genügsam und anspruchslos in der Pflege in den 1920er Jahren „zu Favoriten und zum Spiegel des Zeitgeschmacks“ wurden, wie die Kuratorin Inge Herold bemerkt. Hanna Höch, die gemeinhin dem Berliner Dadaismus zugerechnet und als avantgardistische Collagekünstlerin gefeiert wird, beeindruckt in der Mannheimer Ausstellung mit dem im Jahr 1927 entstandenen Gemälde „Gläser“ nicht nur deshalb, weil sie sich hier als Meisterin gegenstandsorientierter Malerei erweist, sondern weil die in starker Aufsicht wiedergegebenen Objekte den neuartigen Sichtweisen entsprechen, wie sie damals von Fotografen des sogenannten Neuen Sehens erprobt wurden. Bemerkenswert ist weiterhin, dass sich in der Spiegelung der hohen Glasvase ein kleines Selbstbildnis der Künstlerin an der Staffelei verbirgt, und ferner, dass das auf die Spitze gestellte Quadrat der Tischplatte als eine versteckte Huldigung an die geometrische Abstraktion etwa eines Stijl-Künstlers wie Theo van Doesburg oder anderer konstruktivistischer Künstler, die zeitlich parallel mit der Neuen Sachlichkeit aktiv waren, gelesen werden kann.

links: Xaver Fuhr, Stilleben, um 1925 rechts: Hannah Höch, Gläser, 1927
links: Xaver Fuhr, Stilleben, um 1925 rechts: Hannah Höch, Gläser, 1927

Zahlreiche Bilder zeugen von der Faszination, die in den 1920er Jahren die fortschreitende Urbanisierung, der technische Fortschritt und die Industrialisierung auf die Maler der Neuen Sachlichkeit ausübten. Reinhold Nägele hat in seinem Gemälde „Weißenhofsiedlung bei Nacht“ (1928) gewissermaßen die Essenz des „Neuen Bauens“, wie es sich 1927 in der legendären Mustersiedlung des Deutschen Werkbunds in Stuttgart manifestiert hatte, auf die Leinwand gebannt, Carl Grossberg schuf in zeichnerischer Härte Bilder von Bauprojekten in moderner Skelettbauweise, von Industrieanlagen und von technischem Gerät. In seinem in forcierter Perspektive gestalteten „Dampfkessel mit Fledermaus“ von 1928 erhält die technoid kühle Sachlichkeit, die die meisten seiner Gemälde auszeichnet, durch die Einbeziehung einer fliegenden Fledermaus und eines am Boden befindlichen Flughundes eine surreale Note und mutiert zu dem, was Franz Roh mit „Magischen Realismus“ gemeint hat.

links: Reinhold Nägele, Weißenhofsiedlung Stuttgart bei Nacht, 1928
links: Reinhold Nägele, Weißenhofsiedlung Stuttgart bei Nacht, 1928

Konjunktur hatte in der Malerei der Neuen Sachlichkeit auch das Thema der Landschaft, dem sich vor allem jene Künstler*innen zuwandten, die in der Terminologie Hartlaubs eher dem „rechten Flügel“ angehörten. Die künstlerischen Formulierungen reichten von penibel gemalten, unberührten Landschaften, die an die Malerei der Romantik anknüpfen (Georg Schrimpf, Franz Lenk) über realistische Landschaftsdarstellungen, in denen sich das Eindringen der Industrie in den Naturraum zumindest andeutet (Georg Scholz, der Mitte der 1920er Jahre von seinem dadaistisch inspirierten gesellschaftskritischen Frühwerk abgerückt war) bis hin zu Erbslöhs und Kanoldts kraftvollen, streng komponierten und kubisch gebauten Italienbildern mit Ortsansichten von San Gimignano in der Toskana, Olevano Romano in Latium oder Positano in Kampanien, die geeignet sind, die Sehnsucht nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ (Goethe) anzuheizen.

links: Georg Scholz, Ansicht von Grötzingen bei Durlach, 1925 rechts: Alexander Kanoldt, Olevano II, 1925
links: Georg Scholz, Ansicht von Grötzingen bei Durlach, 1925 rechts: Alexander Kanoldt, Olevano II, 1925

Wie fließend die Grenzen um 1930 zwischen der Malerei der Neuen Sachlichkeit und der späteren parteiamtlich sanktionierten NS-Kunst waren, zeigt das Gemälde „Feldarbeit“ (1931) von Werner Peiner, einem Künstler, der im Dritten Reich eine steile Karriere machte und 1944 in Hitlers „Gottbegnadeten-Liste“ aufgenommen wurde. In diesem bäuerlichen Szenario kündigt sich schon früh das Blut-und-Boden-Narrativ an, das bald zu einer der maßgeblichen ideologischen Säulen der nationalsozialistischen Herrschaft werden sollte und das sich ebenfalls in dem in Mannheim ausgestellten Werk Adolf Wissels mit dem Titel „Kalenberger Bauernfamilie“ von 1939 manifestiert. Es suggeriert die Idylle einer aus drei Generationen bestehenden harmonischen, der „nordischen Rasse“ zugehörenden Bauernfamilie, die exemplarisch als Nukleus einer agrarisch basierten „gesunden Volksgemeinschaft“ postuliert wurde. Obwohl die Nazis zahlreiche einflussreiche neusachliche Maler als „entartet“ brandmarkten, vor allem jene des „linken Flügels“, kaperten sie gewissermaßen die bildsprachlichen Mittel der Neuen Sachlichkeit – Gegenständlichkeit, Detailreichtum, Statik – und instrumentalisierten sie für ihre eigenen ideologischen und propagandistischen Zwecke.

links: Werner Peiner, Feldarbeit, 1931 rechts: Adolf Wissel, Kalenberger Bauernfamilie, 1939
links: Werner Peiner, Feldarbeit, 1931 rechts: Adolf Wissel, Kalenberger Bauernfamilie, 1939

In Hartlaubs Ausstellung des Jahres 1925 waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen wie etwa dem Schweizer Nikolaus Stöcklin, nur deutsche Künstler vertreten. Tatsächlich war die Hinwendung zur gegenständlichen Bildsprache aber kein auf Deutschland beschränktes Phänomen, sondern es gab in den 1920er und 30er Jahren in Europa und darüber hinaus vielfältige Tendenzen eines neuen Realismus. Mit dem Bild „Night Windows“ (1926) von Edward Hopper, einer Leihgabe aus dem Museum of Modern Art in New York, erinnert die Mannheimer Jubiläumsausstellung an den US-amerikanischen Realismus der Zwischenkriegszeit, und Werke etwa von Ubaldo Oppi, Felice Casorati und Mario Tozzi verweisen auf Entwicklungen in Italien, wo sich nach dem Ersten Weltkrieg mit der sogenannten Novecento-Bewegung und unter dem Motto „ritorno all’ordine“, Rückkehr zur Ordnung, neorealistische und neoklassizistische Strömungen herauszubilden begannen. Anknüpfend an die aktuelle Schau in Mannheim und diese erweiternd wird man sich übrigens vom 27. April bis zum 10. August 2025 im Rahmen der Ausstellung „European Realities“ im Museum Gunzenhauser in Chemnitz erstmals in gesamteuropäischer Perspektive von den Realismusbewegungen der 1920er und 30er Jahre überzeugen können.
Die Neue Sachlichkeit blieb nicht auf die Bereiche Malerei und Grafik beschränkt. In der Architektur fand sie in Gestalt des sogenannten Neuen Bauens ihren Niederschlag und prägte entscheidend auch die Fotografie der Zwischenkriegszeit. Parallel zur Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim präsentieren die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen noch bis zum 27. April 2025 die Schau „Sachlich neu!“, die Fotografien von August Sander und Albert Renger-Patzsch zeigt und die Bildsprache der Neuen Sachlichkeit mit Arbeiten des eng mit Mannheim verbundenen Fotografen Robert Häusser, die Jahrzehnte später entstanden, in Beziehung setzt.


alle Fotos © Rainer K. Wick

Katalog
Zur Ausstellung „Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertjubiläum“ ist im Deutschen Kunstverlag ein umfassendes Katalogbuch erschienen, herausgegeben von Inge Herold und Johan Holten. Der zweisprachige Katalog (deutsch, englisch) enthält neben Abbildungen aller ausgestellten Werke einen Einführungstext und ergänzende Kurztexte über die in der Schau behandelten Themenbereiche von Inge Herold sowie Einzelbeiträge von Gunnar Saecker, James A. van Dyke, Olaf Peters, Jelle Bouwhuis, Christoph Vögele, Henning Lobin, Claude W. Sui und Harald Stockert/Anja Gillen.
408 Seiten
ISBN 978-3-422-80250-6

Cover © Deutscher Kunstverlag
Cover © Deutscher Kunstverlag

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