Meldungen zum Kunstgeschehen

Die Symbiose von Kunst und Politik im Berliner Reichstagsgebäude

Am Wahlabend des 22. September 2013 werden wir nach Berlin blicken und gespannt die ersten Hochrechnungen verfolgen: Welche Partei liegt am Ende in der Wählergunst vorne und wer koaliert mit wem? Bereits jetzt wird vieles prognostiziert, noch mehr aber wird spekuliert. Deshalb hat sich Verena Paul dem Thema ›Politik‹ einmal von einer anderen Seite angenähert und gefragt: Welche Rolle spielt eigentlich die Kunst auf der Berliner Politbühne?

Im Berliner Parlament – der legislativen und damit ersten Gewalt im Staat – wird diskutiert, abgestimmt und über die Zukunft Deutschlands entschieden. Es werden Gesetze verabschiedet und die Regierungsarbeit kontrolliert. Außerdem erfolgt hier die Wahl des Kanzlers respektive der Kanzlerin. Was läge also wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2013 näher, als das Augenmerk auf die aktuell in der Öffentlichkeit debattierten Themen wie ›Abhörskandal‹ und ›Drohnen-Affäre‹ zu legen oder eine weitere stereotype Einschätzung der Gemengelage aus Wahlversprechen und viel besungener Politikverdrossenheit zu wagen?

Doch muss man sich dem politischen Feld nicht zwangsläufig von dieser Seite nähern, um zu einer pointierten Aussage über zeitgeschichtliches Geschehen zu finden. Kunstschaffende beispielsweise haben gesellschaftliche Umbrüche der Vergangenheit und neue politische Weichenstellungen viel spannender, vielschichtiger und bisweilen auch weitsichtiger interpretiert und kommentiert als nüchterne Darstellungen es vermochten. Das Berliner Reichstagsgebäude, das nicht nur Wirkungsstätte der Parlamentarier ist, sondern auch mit hochkarätiger Gegenwartskunst von international renommierten Künstlern und Künstlerinnen aufwarten kann, ist ein wunderbares Beispiel dafür. Viele der dort in die Architektur inkorporierten Werke zeichnen sich durch formalästhetische Qualität ebenso aus wie durch Inhalte, sind farbenprächtige, sich in den Bau lebendig einfügende Marksteine und zugleich hilfreiche Wegweiser im politisch aufwühlenden Tagesgeschäft. Sie sollen die Abgeordneten begleiten, ihnen bei der Arbeit geistige Impulse geben oder sie an ihre Verantwortung als Volksvertreter gemahnen.

Im Untergeschoss beim Osteingang vergegenwärtigt etwa der Franzose Christian Boltanski in seiner aus 4781 Metallkästen bestehenden Arbeit »Archiv der Deutschen Abgeordneten« die Vergangenheit. Dafür wurde jedes der Behältnisse einem der von 1919 bis 1933 und von 1949 bis 1999 gewählten Abgeordneten gewidmet. Signum der Aufhebung der Demokratie während des Dritten Reiches ist ein schwarz lackierter Kasten – eine Bruchstelle, die die Betrachter zur kritischen Reflexion animieren soll. Noch intensiver sind die Parlamentarier in einer riesigen, in der Nordeingangshalle aufgestellten Stele der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer eingebunden. Hier laufen kontinuierlich digitalisierte Textbänder herab – Ausschnitte aus 447 Reden und Debatten, die im Reichstag oder später im Bonner Bundestag über den Reichstag gehalten wurden. Dergestalt zeichnet die Installation ein Stück deutscher Parlamentsgeschichte nach und ist zudem Paradigma der fruchtbaren Wechselwirkung von Kunst und Politik.

Das fünfteilige, in Schwarz, Rot und Gelb gestaltete Großfoto Katharina Sieverdings in der Abgeordnetenlobby, das »Den von 1933 bis 1945 verfolgten, ermordeten und verfemten Mitgliedern des Reichstags der Weimarer Republik zum Gedenken« zugeeignet ist, geht über bloße Erinnerungskultur hinaus: Es ist eindringliche Mahnung. Forciert wird die Wirkung zusätzlich durch die drei vor der Arbeit aufgestellten Tische mit Gedenkbüchern, die an die konkreten Einzelschicksale der Abgeordneten erinnern. In seiner im nördlichen Innenhof realisierten Installation »DER BEVÖLKERUNG« lud Hans Haacke die Parlamentarier ein, Erde aus ihren Wahlkreisen mitzubringen und in seiner Arbeit zu vereinen. Inmitten des inzwischen wild wuchernden Pflanzenbeets findet sich – in Anspielung auf die Giebelinschrift des Westeingangs »DEM DEUTSCHEN VOLKE« – der Titel gebende Neonschriftzug. Es ist wohl eines der am meisten polarisierenden Werke des Reichstagsgebäudes, dazumal unter den Bundestagsabgeordneten zunächst eine heftige Kontroverse entbrannte: Stellt es die Giebelinschrift und damit vielleicht sogar Verfassungsgründsätze der BRD infrage oder evoziert es eine legitime Bedeutungserweiterung? Die Diskussion zeigt eindrucksvoll, dass Kunst und Politik sich spannend aneinander reiben und zu einem perspektivschärfenden Dialog beitragen können. Schließlich sollten Rolle und Selbstverständnis des Parlamentes nie unhinterfragt bleiben, sondern immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt werden.

Auf ganz unterschiedliche Weise nähern sich also im Berliner Reichstagsgebäude Künstler und Künstlerinnen wie Gerhard Richter, Sigmar Polke, Grisha Bruskin, Markus Lüpertz, Bernhard Heisig, Anselm Kiefer oder Hanne Darboven – um nur einige zu nennen – der deutschen oder, wie im Falle Bruskins, der russischen Geschichte an. Sie kommentieren politisches Geschehen mit Ironie, hinterfragen die den Abgeordneten in die Hände gelegte Macht oder visualisieren den Zeitverlauf. Dass dies stets in einer ästhetischen Weise geschieht, macht sie sowohl zu zeitkritischen Kunstschaffenden als auch zu ästhetisch Engagierten und ihre in geschichtsträchtiger Architektur präsentierten Werke zu einem wichtigen Bindeglied zwischen Kunst und Politik.

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