Buchrezensionen

Dominic Smith: Das letzte Bild der Sara de Vos, Ullstein 2017

Als »eleganter Pageturner um ein Gemälde aus dem 17. Jahrhundert« wird Dominic Smiths Romandebüt vielerorts angepriesen. Doch bietet die Geschichte des Australiers mehr: hintergründig schildert sie die Verbindung von Kunst und Leben. Rowena Fuß hat reingelesen.

Ein rauer Leineneinband, der sich im Wind zu blähen scheint. Dabei enthüllt sich am linken unteren Zipfel eine Winterlandschaft. Zu sehen ist ein vereister Fluss am Rand einer Stadt, auf dem Kinder Schlittschuh laufen. Das Licht ist dämmrig. Zum rechten Bildrand hin sind kaum noch Details zu erkennen. Ebenfalls nicht zu sehen, aber in einer nachfolgenden umfassenden Bildbeschreibung aufgeführt, ist ein kleines Mädchen am vorderen Bildrand, die blasse Hand um einen Birkenstamm gelegt und die Szenerie beobachtend. Um ihre Finger ist ein zerfranstes schwarzes Band geflochten. Ihre Fußspuren im Schnee führen in Richtung Wald und aus dem Rahmen hinaus, so, als wäre sie ins Bild gewandert. Es trägt den Titel »Am Saum des Waldes«.

Wie der Titel des Buches schon andeutet, handelt es sich um das letzte – und einzige überlieferte – Bild der Sara de Vos. Diese ist eine fiktive niederländische Malerin des 17. Jahrhunderts. Als erste Frau wird sie Mitglied der berühmten Lukasgilde, der Künstler wie Peter Paul Rubens, Jan Vermeer oder Pieter Bruegel d. Ä. angehörten. Ihr Schicksal und das Bild sind eng verknüpft.

Für den Besitzer Marty de Groot, einen New Yorker Patentanwalt, ist das Gemälde ohne Bedeutung. Es hängt als eines von mehreren Familienerbstücken in seiner Wohnung an der Park Avenue. Über dem Bett in seinem Schlafzimmer, um genau zu sein. Marty de Groot betrachtet es ab und zu, wenn er mit seiner Frau Rachel schläft. So fällt es ihm zunächst auch nicht auf, als es geraubt wird, oder besser: ausgetauscht.

Smith verbindet in seinem Roman verschiedene Handlungsstränge und Zeitläufe (New York City 1958, Amsterdam 1636, Sydney 2000, Heemstede 1638 bzw. 1649). Episodenhaft erzählen die kurzen Kapitel abwechselnd Ereignisse aus dem Leben Marty de Groots, Sara de Vos’ und Ellie Shipleys. Letztere ist eine ausgebildete Restauratorin und Doktorandin, die sich überreden lässt, eine Kopie von »Am Saum des Waldes« herzustellen.

Die geschilderten Momentaufnahmen – eine Dinnerparty, ein Strandausflug, eine Bildrestauration – sind nicht nur ein Erbe der bisher von Smith veröffentlichten Kurzgeschichten. Sie schwanken so stark zwischen Belanglosigkeiten und geradezu überbordend detailreich geschilderten emotionalen Befindlichkeiten, dass man sich fragen muss, ob hier nicht zwei Phänomene aus der Ecke der sozialen Medien den Weg zwischen zwei Buchdeckel gefunden haben.

Ein besonderes Highlight stellt der Abschnitt dar, in dem Smith Martys Flug nach Sydney zu einem Bericht über Probleme des Alterns macht, denn Inkontinenz, abnehmendes Seh- und Hörvermögen und Gedächtnislücken setzen dem inzwischen 80-Jährigen ziemlich arg zu. (Was auch nicht fehlt, ist die zu erwartende Portion Lamento über die geschilderten Gebrechen).

Ganze Kapitel hindurch passiert nichts. Man liest, wie Marty mit einem Privatdetektiv in einem Anglerboot auf dem Hudson dümpelt, Ellie mit ihrer Doktormutter über einen neuen Abschnitt in ihrer Dissertation redet, Sara de Vos ein bürokratisches Gespräch mit dem Gildenmeister über ihre Wiederaufnahme führt. Es ist fast schon frustrierend. Wirklich interessant sind vor allen Dingen die Anfangs- und Schlusskapitel.

Bezeichnend ist gleich zu Beginn des Buches die Dinnerparty bei den de Groots. Rachel möchte sie mit ein paar »Mietintellektuellen« (Beatniks) interessanter gestalten. Das endet in einer kleinen Katastrophe. Die Gruppe, die als »Wiederannäherung an das Leben« gedacht ist, entpuppt sich als »Dämonen« im Drogenrausch. Natürlich müssen sie entfernt werden – wobei der Hausherr allerdings keine gute Figur abgibt. Den größten Störenfried bringt Martys betagter Chef Clay zur Raison, ein ehemaliger Boxer, der zudem Sanitäter im Ersten Weltkrieg war. Überdies wird Marty auf dieser Party das Bild gestohlen. Als er es Monate später bemerkt, denkt er sich eine Geschichte aus. Summa summarum ergibt sich das Bild einer jungen, degenerierten Oberschicht, die vom Leben gelangweilt und mit den einfachsten Sachen überfordert ist.

Es nimmt daher nicht wunder, wenn Herr de Groot – kaum, dass er den Diebstahl entdeckt hat – Kontakt zu Ellie aufnimmt. Er tut dies unter dem Alias Jake Alpert und führt sie in dieser Person zum Essen und zu Auktionen aus, um sie näher kennenzulernen. Seltsam, mag sich der ein oder andere denken. Warum ruft er nicht die Polizei? Später gesteht er ihr, dass sie wohl frischen Wind in sein ödes Leben gebracht hätte und er sich verliebt habe. Wenig verwunderlich ist, dass es Ellie auch so ging. Als er sie schließlich nach einer Nacht im Hotel überstürzt verlässt, ist sie dementsprechend ratlos. Erst als sie vor ihrer Haustür ihre Kopie von »Am Saum des Waldes« vorfindet, dämmert es ihr.

Die Beziehung zwischen Marty und Ellie nimmt im Roman einen großen Raum ein. Kontrastierend stellt der Autor die zarte Liebesgeschichte zwischen den beiden der Tragödie um Sara de Vos gegenüber. Das de Vossche Bild wird dabei zum Mittler zwischen Zeiten und Personen.

Nach dem krankheitsbedingten Tod ihrer einzigen Tochter Kathrijn stürzt für Sara und ihren Mann eine Welt zusammen. Der Bilderverkauf stagniert, sodass ihr Mann illegale Wege beschreitet, die nicht nur zum Ausschluss aus der Malergilde führen, sondern den Schuldenberg weiter wachsen lassen. Man hat am Ende nicht einmal mehr Geld für Brennholz. Atmosphärisch dicht schildert Smith schlaflose Nächte, müßige Überlegungen, warum kein Porträt der Tochter existiert, außer einer Kohlezeichnung und Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse. Von der Trauer eingehüllt malt Sara »Am Saum des Waldes«. Für sie ist es ein Sinnbild für Kathrijns Übergang von den Lebenden zu den Toten: »Ein Mädchen, das für alle Zeit im Schnee wandert«.

Am Ende geht es für Sara de Vos gut aus. Smith lässt es den Leser durch eine kleine Hinterhältigkeit wissen. Denn »Am Saum des Waldes« ist nicht das letzte Bild der Künstlerin. Sie malte noch ein Selbstbildnis. Es zeigt sie als Zwanzigjährige vor einer Staffelei. Im Hintergrund schaut ein Reiter durch das Fenster der Werkstatt. Der Betrachter nimmt die Position eines Hereintretenden ein, der von der Künstlerin mit einem Lächeln begrüßt wird.

Fazit: So anrührend, wie die Szene mit der grüßenden Malerin auch sein mag, ist sie doch ebenfalls mit einer traurigen Grundierung versehen. Als sie das Bild malt, ist Sara krank. Ob sie dies überlebt, lässt Smith offen. Seine Schilderungen nehmen so den Ton einer Vanitas an. Abwechselnd thematisiert er Krankheit, Tod und Leben. Man ist versucht, in seinen ausgiebigen Beschreibungen zu versinken – wäre da nicht ihre Trivialität. Auch die fortwährende Selbstbezüglichkeit bei Inhalt und Form der Geschichte(n) ist zuweilen anstrengend. Nun ja, auch die Kunst des Goldenen Zeitalters in den Niederlanden ist nicht jedermanns Lieblingskost.

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