Buchrezensionen

Donna Tartt: Der Distelfink, Goldmann 2014

Nichts außer einem Dröhnen in den Ohren hört Theodore Decker nach der Bombenexplosion im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Er hat überlebt. Traumatisiert. Seitdem ist er außerdem im Besitz eines wertvollen Gemäldes, das in den Folgejahren zu einem wichtigen Begleiter wird. Darum geht es in Donna Tartts drittem Buch. Rowena Fuß hat sich von der Mischung aus Entwicklungsroman, Kunstkrimi und Milieustudie mitreißen lassen.

Warum kaufen Menschen Kunst? Weil sie ihnen Sicherheit vermittelt. So einfach ist das. Selbst, wenn sie eher zufällig in den Besitz eines Kunstwerks kommen. Es ist vermutlich dieser für alle Zeiten auf Leinwand, Holz oder Karton konservierte Moment – die für alle Ewigkeit zechende Wirtshausgesellschaft, das nicht alternde Porträt einer Person oder die unveränderliche Landschaft –, der uns dieses Gefühl vermittelt. Indem wir wie Tartts Hauptprotagonist zum Besitzer eines Gemäldes werden, haben wir Anteil an etwas Zeitlosem, Unsterblichem. Ein tröstlicher Gedanke.

Distelfink, Goldfink, Stieglitz. Verschiedene Namen, doch bezeichnen alle drei dasselbe putzige Kerlchen. Von schlanker Gestalt, mit kurzem Hals und dünnen Füßen kennzeichnen diesen Vogel eine kräftige rote Gesichtsmaske, weiße Halsseiten und – davon abgesetzt – ein schwarzer Nacken und Oberkopf. Seine spezielle Farbigkeit unterstreichen zudem die deutlich abgesetzten, breit leuchtenden gelben Binden an seinen Flügeln. So hat ihn auch der Niederländer Carel Fabritius (1622-1654) gemalt. Im Jahr seines Todes durch eine Pulverexplosion (!) hielt er den Vogel mit feinen Pinselstrichen fest. Die Geschwindigkeit seines Malwerkzeugs ist ebenso sichtbar, wie die sichere Hand und der dicke Farbauftrag. Fabritius will, das wir den daunigen Brustflaum fühlen können. Angekettet auf einer Stange seines Futternapfes sitzend, guckt uns der Fink an – entschlossen, nicht vor der Welt zurückzuweichen. Seit 1896 hängt das Ölgemälde, das etwa die Größe eine DIN A4-Blattes hat, im Haager Mauritshuis. Eigentlich ein kleines, unscheinbares Bild.

Bei Donna Tartt wird es jedoch zum heimlichen Zentrum ihres Romans. Auf insgesamt 1022 Seiten erzählt sie die Geschichte eines Jungen, der durch eine Bombenexplosion im New Yorker Metropolitan Museum of Art seine Mutter verliert und ein Bild stiehlt, nein, mitnimmt: Fabritius‘ Distelfink. Dieser war eine Leihgabe in der Sonderausstellung »Porträt und Stillleben: Nördliche Meisterwerke des Goldenen Zeitalters«. Jetzt gehört es Theodore Decker, ein schmächtiger Brillenträger von 13 Jahren mit hellen Augen und braunen Haaren. Eigentlich ein wohlerzogener Teenager der New Yorker Upper Class. Er trägt das Kleinod im Geheimen mit sich, wohin auch immer es ihn in den folgenden Jahren verschlägt: Las Vegas, New York, Amsterdam. Mit ihm übersteht er pflichtschuldig Schulbesuche, Sorgerechtsstreits, die Pubertät, seine Drogensucht, krumme Geschäfte, eine seltsame Männerfreundschaft und eine unerwiderte Liebe. 14 Jahre lang. Dann erfährt Theodore, dass das Bild, das er in einem sicheren Depot verwahrt, bloß ein Staatsbürgerkunde-Arbeitsbuch ist.

Man wird in seine Geschichte hineingesogen – dank Tartts Art, detailgenau alles zu beschreiben, sei es das Chaos in den Museumsräumen nach der Explosion oder der scharfe chemische Geruch des benutzten Sprengstoffs, sei es die Wirkung eines Rauschmittels oder die Maserung einer Holzsorte, die für Restaurierungsarbeiten an einem Sheraton-Sessel Verwendung finden soll, sei es der Hauch einer Gefühlsregung. Man stelle sich bloß vor, wie erschüttert Theodore war, als ihm sein Jugendfreund Boris die Wahrheit über das Päckchen in dem Depot mitteilte. All die Jahre hatte er sich umsonst Sorgen gemacht, dass man es entdeckt, dass er wegen Diebstahls angeklagt wird und ins Gefängnis kommt. Er hatte umsonst Ängste und Paranoia ausgestanden. Trotzdem fühlt er sich »wie ertrunken, ausgelöscht von der Unendlichkeit«. All seine Gedanken kreisen nun darum, das Gemälde wiederzubekommen. Das ist allerdings nicht so einfach, denn Boris hat das Bild als Pfand in illegalen Aktivitäten verwendet. Und so finden sich beide in Amsterdam wieder, um den Distelfink von zwielichtigen Gestalten zurückzupressen.

35 Stunden braucht es, sich durch diesen Wälzer zu arbeiten. Aber der Schluss ist so wunderbar, dass es sch lohnt. Denn Tartt schreibt: »… inmitten unseres Sterbens, da wir uns aus dem Sumpf erheben und schmählich in den Sumpf zurücksinken, ist es herrlich und ein Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt. … Und ich füge meine eigene Liebe der Geschichte der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet und sie aus dem Feuer gezogen und sie gesucht haben, als sie verloren waren, und die sich bemüht haben, sie zu erhalten und zu bewahren, während sie sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, … aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.«

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