Ausstellungsbesprechungen

Doris Salcedo – Tabula Rasa. Kunsthalle St. Annen, Lübeck, bis 03.11.2019

Mit Doris Salcedo erhielt eine prominente Künstlerin aus Kolumbien den erstmals verliehenen internationalen Kunstpreis der Lübecker Possehl–Stiftung. Stefan Diebitz hat ihre erste Werkschau in Deutschland überhaupt besucht.

Doris Salcedo Plegaria Muda, 2008-2010 Kunsthalle St. Annen, Lübeck 2019 Foto: Stefan Hirtz Doris Salcedo Foto. David Heald © the artist. Courtesy White Cube Doris Salcedo A Flor de Piel, 2013-2014 Kunsthalle St. Annen, Lübeck 2019 Foto: Stefan Hirtz Doris Salcedo Thou-Less, 2001-2002 Kunsthalle St. Annen, Lübeck 2019 Foto: Stefan Hirtz
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 In ihren raumgreifenden Installationen thematisiert die in Bogotá geborene und bis heute wohnende Künstlerin Gewalt jeder Art, besonders jene gegen Frauen; und natürlich steht der Bürgerkrieg, der seit vielen Jahrzehnten ihre Heimat Kolumbien gefangen hält, im Mittelpunkt ihrer puristischen, immer durchdachten Arbeiten. Als Einzelkämpferin sieht sich die Künstlerin dennoch nicht. »Das bin nicht ich«, sagt Salcedo über eines ihrer Projekte in einem Interview, das man im Katalog findet, »es ist zu hundert Prozent eine kollektive Arbeit.«

Zum Beispiel A flor de piel (die Nerven liegen blank), eine Installation, die in Lübeck das oberste von den drei Stockwerken der Kunsthalle füllt. In dieser Arbeit werden die Leiden einer zu Tode gefolterten Krankenschwester dargestellt oder besser: symbolisiert. Tausende von behandelten Rosenblättern wurden von Salcedos Team zusammengenäht und sollen an die menschliche Haut und die Qualen einer Frau erinnern. Am Boden liegend nimmt die »Blütenhaut« einen großen Raum ein. Jedoch: wer nicht von der Krankenschwester gehört hat, wird diese Installation nicht verstehen. Schließlich nimmt die geschundene Frau keine Gestalt an.

»Ich weigere mich«, sagt Salcedo in demselben Interview, »gewaltsamen Tod auf obszöne Art darzustellen, da er aber obszön ist, entzieht er sich einem jeglichen Versuch, ihn zu symbolisieren.« Wenn sie aber weder Tod noch Qualen symbolisiert hat – was hat sie dann getan?

Bei Plegaria muda, der Stillen Fürbitte, handelt es sich um aufeinandergelegte Tische. Spontan wurde ich an meine Schulzeit erinnert, als wir nach der letzten Stunde die Stühle auf die Tische stellen mussten, damit die Putzfrauen darunter feudeln konnten; hier aber sind es nur Tische, die aufeinandergestellt wurden, die Tischplatten einander zugekehrt. Diese Tische – in einer Broschüre als »sarggroß« bezeichnet – symbolisieren das Leiden uns unbekannter Menschen in Los Angeles. Gleichzeitig aber stehen sie für die Hoffnung, denn aus einer dünnen Schicht Erde zwischen den Tischplatten wächst Gras heraus. Von der Erde muss man hören oder lesen – sehen kann man allein das feine Gras. So ist es entweder ein ästhetisches Erlebnis ohne jede Lehre oder Moral, das den Betrachter ratlos zurücklässt, oder doch eine symbolische Darstellung, die sich an die mitfühlende Seele des Publikums wendet, nachdem dieses über die Zusammenhänge aufgeklärt worden ist.

So auch Disremembered (2014/15), das zarte Stoffe aus Rohseide zeigt, die insgesamt 12000 Nadeln enthalten. Sie wurden von Salcedos Mitarbeitern eingesetzt – eine Art Nessoshemd, das die seelischen Qualen symbolisiert, die Mütter von ermordeten Kindern erleiden mussten. Der Titel deutet daraufhin, dass den jugendlichen Opfern von Gewaltverbrechen in Chicago die Anerkennung durch den Staat verweigert wurde. Mit den betroffenen Müttern hat Salcedo zahlreiche Interviews geführt. Derartige Forschungen gehören zu ihrer ernsthaften Herangehensweise.

Thou–Less – der Titel ist Altenglisch und bedeutet Ohne Dich – erinnert an einen Guerillaüberfall auf das Justizgebäude von Bogotá 1985. »Bereits im Jahr 2002«, liest man in der Broschüre der Possehl–Stiftung, »ließ Doris Salcedo zur Erinnerung an die Todesopfer ab der Uhrzeit der Ermordung des ersten Opfers für jeden getöteten Menschen einen Stuhl an der Fassade des mittlerweile abgerissenen und neu aufgebauten Justizgebäudes hinabgleiten«. In Lübeck kann man Stühle aus Metall bestaunen, die kunstvoll mit einer holzähnlichen Maserung versehen und in ähnlicher Weise wie die Tische bei Plegaria muda aufgestellt sind. Ohne den begleitenden Kommentar steht man aber auch dieser Arbeit ratlos gegenüber.

Tabula rasa, die titelgebende Arbeit der Schau, kann man im Erdgeschoss anschauen – es sind Tische, welche an die von Folter und Vergewaltigungen begleiteten Verhöre erinnern sollen. Zerstört und wieder neu zusammengesetzt symbolisieren sie, dass keine Gewalttat jemals ungeschehen gemacht werden kann. Spuren bleiben immer.

Was ist problematisch an dieser Kunst? Anders als ein Jonathan Meese ist Doris Salcedo ein ernsthafter Mensch, weder selbstverliebt noch größenwahnsinnig. Ihre Arbeiten sind mit großer Sorgfalt erstellt, genauestens durchdacht und von einem Ethos durchzogen, das sich sehr leicht aus ihrer Herkunft erklärt. Immer geht es ihr um die Darstellung von Gewalt und deren Folgen. Direkt allerdings wird weder das eine noch das andere gezeigt, weder die Folterung oder Vergewaltigung noch der zerstörte Mensch. Vielmehr findet alles einen symbolischen Ausdruck, der sich dem Betrachter jedoch in keiner Weise von selbst erschließt.
Die Kommentarbedürftigkeit solcher Arbeiten (und damit sind nicht allein jene von Doris Salcedo gemeint – ich erinnere an die Überlegungen von Arnold Gehlen in seinen »Zeit–Bildern« – scheint mir ein schwerer Mangel zu sein, denn sie gründet ja in der schon fast absoluten Subjektivität der Symbolik, in die keinerlei Traditionen oder Konventionen eingeflossen sind. Dazu kommt die Fragwürdigkeit der (nun allerdings nicht von der Künstlerin zu verantwortenden) Kommentare in der Broschüre und im Katalog. Was zum Beispiel soll folgender Satz bedeuten, der sich auf die steigende Gangkriminalität in den Vereinigten Staaten bezieht: »Diese Gangs sind eine gesellschaftliche Randgruppe, deren Verlust sich für weite Teile der Bevölkerung in der Anonymität verliert.«? Und gleich im Anschluss – ähnlich rätselhaft – heißt es: »Darüber hinaus werden wiederkehrend Bezüge zu den tausenden verschwundenen Zivilisten in Kolumbien hergestellt«. Doch: Wo finden wir diese Bezüge? In den Vorstellungen der Künstlerin oder der Kommentatoren? Ich sehe nur aufeinander gestellte Tische.

Und inwiefern haben die von Salcedo geführten Interviews bei Plegaria muda Eingang in das Konzept dieser Installation gefunden? Hätte Salcedo nicht dasselbe tun können, ohne etwas über die Vorgänge in Los Angeles zu wissen? Nur hätte sie dem Betrachter trotzdem wissen lassen müssen, worauf sie sich bezieht und was sie eigentlich sagen will. Wenn ich an die Darstellung unschuldiger Kriegsopfer denke, fällt mir Käthe Kollwitz ein, deren Bilder und Plastiken keines Kommentars bedürfen.
Was ist geschehen, dass die Künstler unserer Tage das Leid und den Schrecken nicht mehr darstellen können?


Katalog:
Doris Salcedo Tabula Rasa. Herausgegeben im Auftrag der Possehl–Stiftung von Oliver Zybok. Verlag der Buchhandlung Walther König

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