Buchrezensionen

Dorlis Blume u. a. (Hg.): Europa und das Meer, Hirmer 2018

In den letzten Jahren sind Europas Meeresküsten wieder stark in das allgemeine Bewusstsein der Menschen und Medien getreten. Während es für die heutigen Flüchtlinge eine Barriere ist, ist es für Seefahrer auch immer ein Tor zur Welt gewesen. Mit seinen zahlreichen Küsten kann Europa schon seit jeher als ein maritimer Kontinent angesehen werden. So hatte das Meer nicht nur einen prägenden Einfluss auf die Kultur, sondern fand auch Eingang in die Kunst. Andreas Maurer hat sich mit dieser wechselvollen europäischen Geschichte auseinandergesetzt.

In einem Ruderboot sitzen Männer, Frauen und Kinder verschiedener sozialer Schichten und Altersgruppen. Die meisten von ihnen scheinen mit Sorge in die Zukunft und auf die bevorstehende Auswanderung zu blicken. Das den Wellen ausgesetztes Schiff – ein Symbol für die menschliche Existenz im Sturm des Lebens. Das Meer dabei – die zu überwindende Grenze.

Gemeint ist das Titelbild des Katalogs zur Ausstellung „Europa und das Meer“ des Deutschen Historischen Museums (DHM) in Zusammenarbeit mit dem Jean Monnet Lehrstuhl für Europäische Geschichte der Universität Köln.
Wer nun aber glaubt es handle sich bei dieser Abbilung um ein Foto von Flüchtenden aus den aktuellen Medien, der irrt. Denn Antonie Volkmars Gemälde „Abschied der Auswanderer“ (aus dem Bestand des DHM) stammt von 1860 und beweist, dass auch Europa selbst einmal ein Kontinent der Emigranten war! Die Gründe damals waren dieselben wie heute: Armut, Krieg, Verfolgung oder die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft.

Anhand diesem und vieler anderen Themen rund ums Meer belegt der Katalog, dass die Bedeutung des Meeres für Europa keinesfalls zu unterschätzen ist. Zwar spielt für viele die See heute in erster Linie nur mehr als Urlaubsort eine Rolle, dennoch: Europa ist und bleibt ein maritimer Kontinent, besiedelt von den Küstenstädten aus, seine Entwicklung untrennbar mit dem Meer verbunden.
Gemessen an der Küstenlänge hat übrigens keiner der anderen Erdteile mehr Berührungspunkte mit dem Meer. Hätten Sie das gewusst?!

In 4 Teilen mit 13 Unterkapiteln schlüsselt der Katalog eindrücklich auf, was das Meer für die Europäer durch die Jahrtausende war und ist und zeichnet dessen Bedeutung als „Herrschafts– und Handelsraum“, als „Brücke und Grenze“ sowie als „Ressource“ nach. Schließlich, nach über 400 Seiten, wird die Leserschaft mit dem Kapitel „Sehnsuchts– und Imaginationsort“ in den wohlverdienten Strandurlaub entlassen.

Vorwiegend sind die einzelnen Themenbereiche mit je einer Hafenstadt (darunter Piräus, Venedig, Danzig, Sevilla, Lissabon, Amsterdam, Nantes, London u.a.) verbunden und spannen den geschichtlichen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart. Dabei stets im Hintergrund mitschwingend: die Beherrschung der Meere als Ziel europäischer Machtpolitik.
Denn schon seit jeher war die See nicht nur Mythos, sondern auch der Weg zu fernen Ländern und zu Handel. Wirtschafltiche Blüte, die aber stets auch eine Schattenseite hatte, denn Expansion und Kolonialisierung bedingten ebenso Sklavenhandel und Unterdrückung. Zwar kennt man die Geschichten und die Bilder dieser dunklen Periode noch aus den Schulbüchern, Plan, Profil und Raumaufteilung des Sklavenschiffes Marie–Séraphique lassen einem aber nach wie vor einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

Didaktisch nähert sich der Katalig den über 2000 Jahren maritimer Kulturgeschichte, macht sie greifbar und mit über 400 Abbildungen auch sichtbar.
Die Reise beginnt etwa mit Europa auf dem Stier, einer Terrakottafigur aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., lässt die Leserschaft zu Entdeckungsreisen auf die Takelage klettern und endet gegenwärtig mit den Smartphones von Mohammed Ebrahimi und Sakineh Karimi sowie dem Rucksack von Mehdi Sawari (allesamt Gegenstände, die sie auf ihrer Flucht aus dem Iran nutzten und mit denen nicht nur positive Erinnerungen verbunden sind).

Neben erklärenden Essays vermitteln vor allem die Exponate und deren Abbildungen das große Ganze dieser komplexen Beziehung zwischen Kontinent, Bevölkerung und Meer.
Unter anderem kann man anhand einer Nachbildung des ersten Marinechronometers „H1“ (Original von 1735 von John Harrison) nachvollziehen, wie wichtig exakte Positionsmessungen auf See für die Synchronisierung und Standardisierung der Welt waren und wie dankbar diese Erfindung von Großbritannien und dem Wunsch nach maritimer Vormachtstellung aufgenommen wurde.

Dazwischen lässt sich aber immer wieder auch Originelles bis Witziges entdecken: Wie etwa die Geschichte des Frachstschiffes „Ever Laurel“, das in den 90ern auf dem Weg von Hongkong in die USA von einem Sturm überrascht wurde und dabei Container mit über 20.000 Plastiktieren verlor. Jahre später tauchten viele der Spielzeuge, darunter gelbe Quietscheentchen, weltweit an verschiedenen Küsten auf und halfen dadurch Forschern das Netzwerk der verschiedenen Meeresströmungen besser zu verstehen.
Nostalgische Rückblicke vermitteln im letzten Kapitel Werbeplakate und Bademoden aus dem frühen 20. Jahrhundert.

Etwas zu kurz kommt in dieser Reise durch die maritime Kulturgeschichte vielleicht die Kunst (gezeigt durch Positionen u.a. von Max Liebermann, Carl Gustav Carus, Théodore Géricault), die vorwiegend im 19. Jahrhundert in den Meeres– und Küstenlandschaften ein neues aufregendes Sujet fand. Höhepunkt dieser Station: Jochen Heins großformatiger Tryptichon Nordsee von 2003.

Und jetzt? Was assoziieren wir (Mittel-)Europäer heute mit dem Begriff „Meer“?
Wahrscheinlich überfüllte Strände, Flüchtlinge und Plastikmüll. Denn es heißt, dass 60 Prozent der Europäer zum Urlaub ans Meer fahren, 8 Millionen Tonnen Plastik die Wellen bewältigen müssen, während darunter 90% des Internetverkehrs über Tiefseekabel verläuft.
Dabei gäbe es so viel mehr zu entdecken. Allein die Lektüre des Katalogs zeigt, dass sich Europas Schicksal auch in Zukunft im und am Meer entscheiden wird.
Denn: Europa, das ist Me(h)er.

Titelangaben

Dorlis Blume u. a. (Hg.)
Europa und das Meer
Hirmer Verlag, ISBN 978-3-7774-3014-0, Ladenpreis 39,90 €

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