Ausstellungsbesprechungen

Dr. Zuhause. K.U.N.S.T. Erzliebe – Großmutter / Macht. Lübeck, St. Petri / Günter Grass-Haus bis 4. August 2019

Lübeck ist die Stätte einiger großartiger Museen, findet sich selbst aber zu altväterlich und bieder, und so lud man den wildesten und exaltiertesten Künstler ein, dessen man habhaft werden konnte, Jonathan Meese aus dem nahen Ahrensburg. Er möge das spießige Image der Stadt ein wenig aufpolieren, so lautete der Auftrag, und dafür überließ man ihm nicht weniger als fünf prominente Orte, an denen er sich bis in den Spätsommer austoben darf. Stefan Diebitz ist wenig amüsiert.

Meese liebt Lübeck 2014-2019 © PHOTOGRAPHY JAN BAUER . NET / COURTESY JONATHAN MEESE . COM
Meese liebt Lübeck 2014-2019 © PHOTOGRAPHY JAN BAUER . NET / COURTESY JONATHAN MEESE . COM

Ein großer Kunststar ist natürlich nicht umsonst zu bekommen, und so mussten sich fünf Institutionen zusammentun: im Februar die Kulturkirche St. Petri, in der bis Ende März eine gigantische Installation gezeigt wurde, sowie das Günter-Grass-Haus, das dem Künstler noch bis zum 4. August erlaubt, in einer Kabinettsausstellung einen Blick auf seine Biografie zu werfen. Am 30. März ging es im Overbeck-Pavillon im Garten des Behnhauses und dazu in der Kunsthalle St. Annen weiter, und jetzt endlich fand das große Projekt in den Fabrikhallen der Kulturwerft Gollan mit einer Performance des Meisters seinen Abschluss.

Wie teuer alles war und welchen Anteil die einzelnen Institutionen übernahmen, weiß man als Außenstehender nicht, denn man hat allein die Auskunft des Bürgermeisters. »Mit einem Kirchen- und Kulturausschuss«, so machte er deutlich, wäre ein derart ambitioniertes Vorhaben »nicht möglich gewesen«. Ohne aber offenbar schon, zumal einige große Stiftungen des Landes, des Bundes und die Lübecker Possehl-Stiftung mit Zuschüssen nicht geizten.

Alle taten sich zusammen, um einen Skandalkünstler nach Lübeck zu holen, den langmähnigen Jonathan Meese, der sich wiederholt wegen seiner Hitlergrüße vor Gericht verantworten musste. Sonst fabuliert dieser Herr in seinen »Ausgewählten Schriften zur Dikatur der Kunst« vom »Tag der Machtergreifung«, um bescheiden hinzuzufügen, er sei weder Prophet noch Guru, deshalb wisse er nicht zu sagen, worauf die Diktatur der Kunst hinauslaufe. »Kunst bedeutet doch nur, dass ich das, was ich tue, mit Hingabe tue. Ein Busfahrer, der seinen Bus supergeil fährt, ist doch ein totaler Künstler.«

Wahrscheinlich dient ein derartiger Nonsense allein dem Ziel, im Gespräch zu bleiben und womöglich den Marktwert noch ein wenig zu steigern. Das Stichwort dazu lautet »Branding« – man macht aus sich eine Marke. Herrn Meeses merkwürdige Trainingsjacken, in die er immer gekleidet ist, sind ein anderer Teil dieses Marketing; seine Mutter, die am 7. April ganzseitig in den »Lübecker Nachrichten« interviewt wurde, verriet dem interessierten Leser die Zahl der Trainingsjacken ihres genialen Sohnes: nicht weniger als vierzig.

Die Gründe für die Verpflichtung des Herrn Meese hat der Leiter der Lübecker Museen, Herr Prof. Wißkirchen, im Fernsehen erläutert. Ihn sprach bei Herrn Meese nicht etwa die Qualität seiner Arbeit, sondern vielmehr deren Radikalität und Maßlosigkeit an. Ihm ging es bei der Verpflichtung des Künstlers um ein »Statement«, um einen »starken Gegenreiz«. Spießig wollte man beileibe nicht wirken und gab Herrn Meese deshalb – jetzt wieder in den Worten des Bürgermeisters – »carte blanche«. In der Tat, die Furcht vor dem Ruf, spießig zu sein, war das wahre Motiv, und zum Abschluss der Rieseninstallation bekräftigte St. Petri-Pastor Dr. Schwarze in einem Beitrag für die Online-Ausgabe der Lübecker Nachrichten diese Ansicht. »Ein kleiner Privatwahn«, verriet der Pastor, »der mich außerdem seit langem antreibt, ist, den Nachweis erbringen zu wollen, dass Lübeck gar nicht so spießig und langweilig ist, wie viele immer behaupten.«

Ort der Riesen-Installation war die Lübecker Kultur- und Universitätskirche St. Petri, die sonst Ausstellungen (meist in Zusammenarbeit mit der Overbeck-Gesellschaft) oder Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen dient; der eigenartige Grundriss der von jedem Mobiliar entblößten Kirche und ihre zentrale Lage lassen sie als besonders geeignet erscheinen – nicht zuletzt für Installationen, die meist unverhältnismäßig viel Platz beanspruchen.

Wer am 17. Februar zur Eröffnung der Meese-Ausstellung eintrudelte, der wähnte sich auf einem eher niedrigpreisigen Flohmarkt, denn Herr Meese hatte mit mehreren Lastwagen alles das, was er in den vergangenen Jahren wegzuwerfen vergessen hatte, aus Berlin herbeigeschafft und sodann, vom Regionalfernsehen dokumentiert, mit genialischer Geste hierhin oder dorthin geworfen oder an Leinen aufgehängt oder mit Heftzwecken irgendwie befestigt, wobei er selbst nicht müde wurde, auf die Beliebigkeit seines Tuns aufmerksam zu machen. (Dazu weiter unten.) In der folgenden Woche freute sich die örtliche Presse, dass nichts gestohlen wurde, aber warum hätte man auch Müll stehlen sollen?

Es war natürlich Folge einer überaus rührigen Pressearbeit, dass sich das Publikum derart drängte; die Lübecker Nachrichten opferten, nachdem sie schon im Januar ganz groß die »Meese-Festspiele« angekündigt hatten, in den Tagen vor der Eröffnung gleich dreimal eine ganze Seite, in der nachfolgenden Woche gab es mehrere Artikel im selben Format, und auch das Regionalfernsehen war immer wieder, bis hinein in den Mai, vor Ort.

So kann es vielleicht nichts schaden, einen Blick auf die journalistische Begleitung der Ausstellung zu werfen. Am Morgen der Eröffnung konnte man an der Stelle des politischen Kommentars lesen, was die örtliche Edelfeder zu dem Wirken und den Äußerungen des Herrn Meese zu sagen hatte: »In der Kunst muss er maßlos sein, sagt er. Tut ihm leid. Da hat er keine andere Wahl. Sonst gehen die Dinge ja nicht voran. Und wenn einer sie verflucht, verlacht, verwirft, wird der seine Gründe haben. Was natürlich in Ordnung ist. Aber es nützt ja nichts. Er muss ja weitermachen.« Er, das ist Herr Meese, das von Herrn Wißkirchen so beredt beschworene Antidot zum Gift des Spießertums. Sein künstlerisches Wüten wird von der lokalen Edelfeder in etwa so beschrieben, wie sich die Genieästhetik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts die Arbeit Michelangelos an seinen großen Plastiken vorstellte: Das Genie ist getrieben von der Gegenwart eines Göttlichen in seinem Innern; es kann gar nicht anders, es muss einfach wüten.

Natürlich ist ein Genie nur als verkanntes Genie ein wirkliches Genie. Und damit es wirklich verkannt werde, muss es Anstoß erregen. So läuft in dieser Sicht der Dinge »die« Kunst auf Provokation hinaus, auch wenn die Edelfeder von Irritation zu sprechen vorzieht. »Irritation ist nicht das Schlechteste, was man von der Kunst erwarten darf. Kunst kann die Perspektive verändern.« Inwiefern und warum die Ausstellung irritiert, wird uns allerdings nicht verraten; nach meinem Eindruck hat allein die Tatsache, dass ein großer, nachlässig hingeworfener Haufen Müll als Kunst ausgerufen wird, irritiert und provoziert.

Dem Fernsehen sei ausdrücklich gedankt! In seinem Regionalprogramm dokumentierte es das Verteilen und Drapieren des Mülls, äh die Genese »der« Kunst durch das Kraftgenie. »Und hier die Luftpolsterfolie – die ist doch Spitze!« Und der Meister, in seine ewige Trainingsjacke gekleidet, legt die Folie um den Hals einer Schaufensterpuppe, die zufällig zur Hand ist. Dann schreitet das Kraftgenie fort, wobei es uns Einblick in eher schlichte Gedankenwelten gibt, während es seine Sachen mal hierhin wirft, mal dorthin. »Was soll man da falsch machen? In der Kunst kann man ja nichts falsch machen!« (Schon wieder: »die« Kunst!) Und so greift sich das Genie eine Lampe und erläutert, während es sie verbiegt: »Die Lampe könnte so sein, sie könnte aber auch so sein; ich könnte sie auch wieder mitnehmen.« Zweifellos, das könnte es.

Ein eigenes Thema ist die enorme Wortlastigkeit der Ausstellung, ja die Wortlastigkeit all seines Tuns. Eine Parole reiht sich an die andere… Herr Meese wird nicht müde zu erklären, dass er sich zunächst und vor allem als Kämpfer gegen jede Form von Ideologie sehe, aber er selbst verbreitet seine Weisheiten in Form von Schrifttafeln, und zwar durchweg in apodiktischer, Widerspruch ausschließender Form. Seine Performance bestand zum wesentlichen Teil darin, dass er Banner, die er »Standarten« nannte – man spielt halt gern mit nationalsozialistischem Vokabular – hin- und herschleppte, wobei er furchtbar herumschrie, meistens mit dem Hinweis, etwas sei »Wahnsinn« oder doch wenigstens »geil«.

Zurück zu St. Petri. Hatte man sich also, von Fernsehen und Edelfeder eingestimmt, zusammen mit vielen, vielen anderen Kunstenthusiasten und Neugierigen durch den Krempel hindurchgezwängt und umgeschaut, wohl auch die Tafeln studiert, sich von ihren Parolen belehren lassen und sich in eines der unzähligen Porträts des Herrn Meese vertieft, da wurden auch schon Reden geschwungen. Und zwar von Kulturfunktionären, obwohl Herr Meese doch zuvor mehr als deutlich gemacht hatte, dass er »gegen Kulturfunktionäre« sei. Aber gaben sie nicht zusammen eine Pressekonferenz, auf der sie buchstäblich miteinander schmusten? Und hat er sie nicht auch in St. Petri in den Arm genommen, um sie recht zu herzen und sich für ihre Ansprachen zu bedanken?

Aber zu unserer Überraschung schätzt Herr Meese die Kulturpolitiker trotzdem nicht, ja er nennt sie in seinen »Ausgewählten Schriften« gar die »gehirntoten Zombies«. Aber das hält den Meister nicht davon ab, auf sie zurückzugreifen: »Sie sollen alle der Kunst dienen.« Also seinen Projekten (»der« Kunst). Zum Dank nimmt er sie dann in den Arm – aber erst, nachdem sie ihre Lobreden gehalten haben, in St. Petri oder später in der Kulturwerft.

Die Installation wurde von drei promovierten Herren in ihrer Eigenschaft als Kulturfunktionäre und lokale Vorzeigeintellektuelle eingeleitet. Eigentlich hätte man von ihnen erwarten dürfen, dass sie fragten, warum sich Herr Meese so sehr gegen die Ideologie an und für sich stemme, so sehr, dass der Kampf gegen sie all sein Wirken bestimme. Was versteht er eigentlich unter einer Ideologie? Die geradezu groteske Substanzlosigkeit der Einführungen durch die gehirntoten Zombies kann man bereits daran festmachen, dass wohl niemand im Raum diese Frage hätte beantworten können.

Dass Religion eine Ideologie sein kann und sicherlich oft genug auch ist, steht ja außer Frage, aber muss es immer so sein? Und ist es nicht ein wenig unhöflich, sich in dieser Weise in Gegenwart des Hausherrn zu äußern, der so nett war, ihm seine Kirche zur Verfügung zu stellen? Warum gibt der Pastor sogar sein Hausrecht freiwillig ab? »Eigentlich«, so spricht er, »eigentlich darf ich hier ja gar nicht reden.«

Vielleicht wurden ja manche dieser Fragen vor oder während der Performance oder durch sie beantwortet? Die Festredner, ganz im Bann der einzigartigen Persönlichkeit des Herrn Meese, teilten dem interessierten Publikum einige der morgendlichen Weisheiten des Kraftgenies mit. Man müsse »sich schön machen«, hatte Herr Meese verkündet, und erklärt, es sei das Wesen der Kunst, »einen Schritt nach vorne zu gehen«. Überhaupt; »Keine Zeit ist geiler als die Zukunft.« Und abends? Während das Kraftgenie schnaufend und schwitzend auf und ab lief und hin und her und wieder zurück, brüllte es seine Parolen hinaus, wieder und wieder, verkündete sein »Nein zur Ideologie« und fragte »Wer hat Interesse an gestern? Der durchidelogisierte Mensch.« Immerhin, das war endlich einmal ein Hinweis auf das, was Herr Meese unter Ideologie versteht. An Kindern schätzt er ihr »ideologieloses Gesicht«. Und dann, die Standarte in der Faust, entbietet Herr Meese wieder seinen zweifellos gänzlich ideologielosen Hitlergruß, den die Lokalpresse eigentümlicherweise zu erwähnen vergaß. Warum eigentlich?

Ohne jede Ironie: Die Performance war in ihrer Stupidität, in ihrer Lautstärke und mit ihren ewigen Wiederholungen kaum zu ertragen, und ungefähr die Hälfte der Zuschauer verließ vorzeitig die Gollan-Kulturwerft. Anderen gefiel es offensichtlich, und sie lächelten amüsiert oder juchzten gar begeistert. Fiel ihnen gar nicht der Widerspruch auf, der zwischen seiner Absicht, »sein Ego herauszupupen«, und der Egozentrizität aller fünf Ausstellungen bestand? Schaute Herr Meese nicht salutierend aus allen, aber wirklich allen Winkeln seiner Installation? Schon in St. Petri war nicht mancher, sondern ausnahmslos jeder Pfeiler in St. Petri mit seinen Fotos gepflastert. Alle Ausstellungen hatten ausschließlich ihn selbst zum Thema, selbst dort, wo man es gar nicht vermutete. Zum Beispiel erfuhr man, dass die vielen, vielen Blechdosen, die einst der Aufmunterung seines Genies gedient hatten und ein stark koffeinhaltiges Getränk enthielten, von ihm höchstpersönlich geleert worden waren. Deshalb standen sie in St. Petri dort, wo sonst der Altar steht, waren Kunst und damit etwas, das blieb, jedenfalls vorläufig; jetzt werden sie wohl nicht mehr sein. Auch freute man sich zu hören, dass »Heidegger’s Trog« auf die Vorliebe des eifrigen Lesers Meese für Herrn Heidegger hinwies, einen bekannten Schriftsteller. Vielleicht war dieser Haufen also deshalb Kunst: weil sich alles um Herrn Meese drehte?

Aber als Lübecker bin ich herzlich froh, dass wir endlich unser Spießerimage losgeworden sind. Mein aufrichtiger Dank den gehirntoten Zombies meiner lieben Vaterstadt!

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