Buchrezensionen, Rezensionen

Eckhard Leuschner (Hg.): Figura umana. Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939, Michael Imhof Verlag 2012

Zwischen 1919 und 1939 suchten italienische Künstler nach dem Bild des "Idealmenschen". Die vorliegende Publikation gibt Antwort darauf, wie ideale Schönheit in Malerei, Kunsttheorie, Architeltur, Plastik, Film, Literatur und Werbung formuliert wurde. Rainer K. Wick hat den Band gelesen.

Die Suche nach dem „Idealmenschen“ zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheitsgeschichte. Bei Nietzsche fand sie in Gestalt des „Übermenschen“ ihre prominenteste Ausformung. Faschisten in Italien und Nationalsozialisten in Deutschland knüpften an diese Übermensch-Konzeption an und deformierten sie zur Ideologie des (arischen) Herrenmenschen. Ihre kanonische Ausformung erfuhr diese Ideologie in der „Kunst“ des Dritten Reichs in den monumentalen, im Laufe der Jahre mehr und mehr jeder Maßstäblichkeit entsagenden, pathetisch übersteigerten und einem hohlen Neoklassizismus huldigenden Figuren Arno Brekers — materialisierter Ausdruck der Rassenideologie der Nazis und ihres heroischen Körperideals.

Früher noch als im Hitler-Faschismus findet sich derartiges aber auch im faschistischen Italien. Erwähnt seien nur die rund sechzig Kolossalstatuen muskulöser Sportler im Stadio dei Marmi auf dem Gelände des heutigen Foro Italico in Rom, das zu Zeiten des „Duce“ Foro Mussolini hieß. Hier waren es Romeo Gregori, Bernardo Morescalchi und andere, die vorformulierten, was in ähnlicher Form im Nazi-Deutschland bald zur verbindlichen ästhetischen Norm werden sollte.

Entgegen der Erwartung, dass dies alles in einer Publikation über »Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919-1939« ausführlich zur Sprache kommt, konzentriert sich das von Eckhard Leuschner herausgegebene Buch »Figura umana« nicht auf das, was oft simplifizierend für die offizielle, an klassischen Vorbildern orientierte „Staatsästhetik“ im faschistischen Italien gehalten wird. Vielmehr spiegeln die Einzelbeiträge, die zum Teil auf eine Tagung am Kunsthistorischen Institut in Florenz im Jahr 2008 zurückgehen, einen Pluralismus und eine Offenheit für ästhetische Konzepte der Moderne, wie sie in Nazi-Deutschland unter dem Verdikt der „entarteten Kunst“ unvorstellbar waren. In einem künstlerischen Klima, in dem der Spagat zwischen Tradition und Moderne möglich sein sollte, manifestierte sich die Idee des „superuomo“ in erster Linie in der Gestalt des Diktators selbst und im Körperkult Mussolinis (siehe dazu die Beiträge von Franziska Meier und Giuliana Pieri).

Wie vielfältig und differenziert das Bild des Menschen in der Kunst, im Grafikdesign, im Film und in der Literatur der Zwischenkriegszeit gewesen ist, verdeutlichen zwölf Einzelbeiträge deutscher und italienischer Autorinnen und Autoren. Eckhard Leuschner gibt der Publikation gewissermaßen den Rahmen, indem er in einem ersten Aufsatz »Maßkonzepte in der italienischen Kunst von der Pittura Metafisica bis zur Scuola Romana« erörtert und sich in seinem abschließenden Beitrag mit dem Thema „Mensch“ bei Schlemmer, Le Corbusier, Melotti und der italienischen Architektengruppe B.B.P.R. auseinander setzt.

Richtet er in seiner einführenden Analyse das Augenmerk zunächst auf die zeittypische Mess- und Mathematikbegeisterung, auf die „metrologische Obsession“ prominenter italienischer Künstler wie Severini, de Chirico, Carrà, Sironi und Prampolini und andere, so erweitert Leuschner zum Schluß des Buches die Perspektive, indem er das Ringen um die Darstellung der menschlichen Figur in der Kunst Italiens der 1920/30er Jahre in ein internationales Bezugssystem einbettet. Dabei konzentriert er sich exemplarisch auf das Bauhaus, speziell auf Oskar Schlemmers Unterricht „Der Mensch“, und auf Le Corbusier und dessen „Modulor“.

Dreh- und Angelpunkt seiner elaborierten, Positionen der damaligen Anthropologie einbeziehenden Untersuchung sind die zwölf identischen, überlebensgroßen menschlichen Gipsfiguren des Bildhauers Fausto Melotti, die heute als »Costante Uomo« bekannt sind und 1936 auf der Triennale von Mailand in der »Mostra dell’Abitazione« Aufstellung gefunden hatten (siehe die Abbildung auf dem Buchumschlag). Diese Figuren mit gesichtslosen, eiförmigen Köpfen, ohne Arme und Füße sowie Geschlechtsmerkmale, lediglich mit dem Negativabdruck einer menschlichen Hand im Bereich des Thorax, markieren in ihrem Abstraktionsgrad einen äußersten Gegensatz zum neoklassizistischen Figurenideal muskulöser Athleten, wie sie sich im Foro Mussolini präsentieren. Zugleich signalisieren sie die im faschistischen Italien lange Zeit mögliche Koexistenz unterschiedlicher stilistischer Haltungen zwischen Tradition und Moderne, wie sie gleichzeitig im Nazi-Deutschland undenkbar war. Leuschner zeigt, dass aber auch Melottis „moderne“ Figuren in ihrer vollkommenen Anonymität im propagandistischen Kontext des Faschismus zu verorten sind, deutet sich in ihnen doch im Sinne dessen totalitärer Ideologie das Aufgehen des Individuellen im Kollektiven an.

Nach den großen künstlerischen Umbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – Expressionismus, Kubismus, Futurismus, die den normativen Quaderbau der Renaissance endgültig einstürzen ließen – und den Erschütterungen des Ersten Weltkriegs gab es in Italien (und anderswo) deutliche Tendenzen einer dezidierten Rückkehr zur Ordnung („Ritorno all’ordine“), die sich u.a. in einer Wiederbelebung des Interesses an einem durch Maß und Zahl regulierten, kanonischen Menschenbild manifestierte. Und doch gab es für die Darstellung des Menschen in der Kunst Italiens zwischen 1919 und 1939 nicht eine einheitliche und alles nivellierende Norm. Zu beobachten ist vielmehr ein beachtlicher Pluralismus, der von de Chiricos einflussreicher Kunstfigur des Manichino, einem „Mannequin“ als Gliederpuppe, über die ausgesprochen akademischen Aktdarstellungen von Giovanni Colacicchi (Susanna Ragionieri) bis hin zu den „Maschinenmenschen“ reicht, wie sie sich im Zweiten Futurismus der Nachkriegszeit etwa bei Ivo Pannaggi ausformten (Alessandra Scappini).

Gino Severini, eine der zentralen Figuren der italienischen Kunst im 20. Jahrhundert, der schon während des Ersten Weltkriegs vom Futuristen zum Neoklassizisten konvertierte, sind in Leuschners Anthologie zwei Beiträge gewidmet: eine Analyse aus der Feder des Severini-Spezialisten Piero Pacini, der mit Hilfe grafischer Schemata die rationale, geometrische Bildstruktur einiger der Kompositionen des Künstlers im Bemühen um eine Wiederentdeckung der „göttlichen Proptionenen“ und der Wiedergewinnung einer „neuen Klassizität („Nouva classicità“) aufdeckt, und die Studie von Christoph Wagner, der Severini und das Bauhaus – unter besonderer Berücksichtigung Klees und Ittens – mit Blick auf deren Suche nach einem „Neuen Pythagoras“ miteinander in Beziehung setzt und damit jene internationale Perspektive bestätigt, die, wie erwähnt, auch Leuschner ein besonderes Anliegen ist.

Das vorliegende Buch leistet einen maßgeblichen Beitrag zur Differenzierung des vielfach immer noch zu monolithischen Bildes, das sich die Kunstwissenschaft vom faschistischen Italien macht. Insofern sei Leuschners »Figura umana« jedem am Thema Interessierten nachdrücklich empfohlen. Dass von den zwölf Beiträgen fünf in italienischer und zwei in englischer Sprache publiziert wurden, entspricht bei einem Tagungsband, an dem internationale Wissenschaftler beteiligt sind, der üblichen Praxis. Gleichwohl ist zu bedauern, dass, durch das Fehlen einer deutschen Übersetzung, Lesern, die des Italienischen unkundig sind, die Lektüre eines nicht unwesentlichen Teils dieses Werkes verschlossen bleibt.

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