Ausstellungsbesprechungen

Edvard Munch – Zeichen der Moderne.

Edvard Munch in der Fondation Beyeler — (K)eine Rosskur des Munchbildes

Als Franz Kafka in der Nacht auf den 23. September des Jahres 1912 »von zehn Uhr abends bis sechs Uhr früh Das Urteil« niedergeschrieben hatte (»die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn«), fand er für den schöpferischen Prozess in seinem Tagebuch anschließend folgende Worte: »[...] die Geschichte ist wie eine regelrechte Geburt mit Schmutz und Schleim bedeckt aus mir herausgekommen. Und etwas später: Nur so kann geschrieben werden in einem solchen Zusammenhang, mit solcher Öffnung des Leibes und der Seele.« Als Edvard Munch seine Bilder, inneren Vorstellungen, ja obsessiven Projektionen seiner Seele, auf die Leinwand bannte, konnte es geschehen, dass er ein Gemälde malträtierte wie ein gewalttätiger Vater ein ungezogenes kleines Kind: Er verstieß es nach draußen an die frische Luft, setzte es Regen und Schnee aus, griff es wütend an, trat es mit Füßen oder verwünschte es: »Warte nur, bis es ein paar Regenschauer, Kratzer und Nägel mehr abbekommen hat und in allen möglichen miserablen und undichten Kisten rund um die Welt geschippert worden ist« (hier S.11). Als vor einiger Zeit Anselm Kiefer befragt wurde, wie er seinen eigenen Produktionsprozess erlebe, gestand er: »Da ich nicht genügend talentiert bin, arbeite ich mit Helfern. Das sind die Zeit, der Regen und der Wind. Ich setze die Bilder der Witterung aus und hoffe auf Veränderungen. Ein Bild bekommt sein eigenes Leben schon über Nacht.« (hier S.22)

Offensichtlich tun sich Künstler, die nicht nur unter Geltungssucht und Schaffensdrang, sondern unter »unbedingtem Ausdruckszwang« (Arnold Schönberg) leiden, sehr schwer, etwas von sich preiszugeben. Sie müssen es sich vom Herzen reißen, und das tut weh. Sie agieren an den Dingen, die ihr Innenleben preisgeben, all die Hassliebe aus, die sie ehedem gegenüber den nächsten Bezugspersonen empfanden. Das gehört offensichtlich zum Prozess der Kreativität, denn das Kunstwerk ist im Sinne Donald Winnicotts ein »Übergangsobjekt«, ein Substitut des Verlorenen, ein ewig defizitäres Erscheinungsbild und zugleich doch ein notwendiger Vermittler zur Realität.

Hilft uns das, Munch zu verstehen? Bedingt. Ist es ein Qualitätsbeweis von Malerei, wenn man den Produktionsprozess als schwere Geburt erlebt und das Werk wie ein Kind, das auf dem Weg der Verselbstständigung nicht hören und nicht fühlen will? Wohl kaum. Denn eine bis ins Pathologische überfeinerte Sensibilität ist vielleicht eine wesentliche Voraussetzung, aber keineswegs eine Garantie für gelungene Kunst.

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Seit 10 Jahren gibt es die wunderschöne Fondation Beyeler in Riehen, seit 60 Jahren arbeitet der feinsinnige Freund der zeitgenössischer Kunst als Kunsthändler in Basel.

Der merkwürdig farblose Titel der Ausstellung, mit denen dieses Jubiläumsjahr 2007 eröffnet wird, ist wohl als Programm gemeint: »Zeichen der Moderne«.  Was soll man darunter verstehen? Zeichen im Sinne von Anzeichen, bloße Hinweise auf etwas? Das wäre nicht gerade neu, dass Edvard Munchs Kunst Anzeichen von Modernität aufweist. Gerade weil er in keine der üblichen Schubladen hineinpasst: nicht Naturalist, nicht Impressionist oder Postimpressionist, und auch kein Art-Nouveau-Maler mit immer stärker werdenden Neigungen zum Symbolismus oder einer der Fauves. Auch dass seine Ausstellungen in Berlin 1892 und 1902 in jeder Hinsicht anstößig waren und der Norweger nichts weniger als zum Leuchtturm für die junge deutsche Avantgarde avancierte, auch das ist nicht neu.

Oder sind die »Zeichen der Moderne« so gemeint, dass das eigentlich Moderne erst das Heutige sei, frei nach Wagner im Schlafrock »…und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht?« Ist die Gegenwartskunst das Maß aller Dinge? Munch wird nämlich von den Ausstellungsmachern immer wieder als Vorläufer von Georg Baselitz und Anselm Kiefer gesehen. Adelt es ihn, oder erscheinen diese eher als seine Epigonen?

Fast möchte man die vielen wunderbaren Bilder dieser Ausstellung (mit 130 Gemälden und 85 Arbeiten auf Papier die größte außerhalb Norwegens seit dem Tod Edvard Munchs im Jahre 1944) gegen die Sicht in Schutz nehmen, die uns der Katalog empfiehlt. Um es mit einem Satz zu sagen: Sie ist verkürzt.

Der leitende Kurator Dieter Burchart will es uns in seinem Basisartikel erklären. »Die Dualität einer materialbasierten Modernität« lautet dessen grausig sperriger Untertitel. Das ist nicht nur grässliches Deutsch, sondern klingt ganz so, als würde sich jemand gerade intellektuell verheben. Dabei lehnt sich Burchart überdeutlich an das ohne Zweifel wichtige Buch von Monika Wagner »Das Material in der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne« von 2001 an. Gemeint ist Folgendes: Bei Edvard Munch finden wir schon im Frühwerk Pinseleingrabungen in den Farbauftrag, wuchtig hingewischte Schläge ohne tonige Verreibung.

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Überhaupt ist die Leinwand von den Spuren der Attacken übersät, die er selbst mit der griffigen Formulierung Rosskuren zusammenfasste. Da wird in den Farbkörper eingeritzt, er wird abgeschabt und regelrecht verwundet. Das lässt sich beispielhaft an Munchs »Selbstporträt« von 1886 aus dem Osloer Nationalmuseum für Kunst, Architektur und Design studieren. Hier hält die Hochnäsigkeit des aus den Augenwinkeln herab gesenkten Blicks und der zugespitzte Mund jeden Betrachter einschüchternd auf Distanz, damit sich im Gegenzug für den Maler in der Behandlung der Farbe die Möglichkeit eröffnet, seine ganze Verwundbarkeit zu offenbaren.

Die Leinwand als Schürfwunde, als Spiegelbild einer geschundenen und nur notdürftig vernarbten Seele. Die von keiner Firniss geschützte Farbdecke eine Epidermis, ihre Auswaschungen ein Erbleichen, russige Kratzer wie Falten, Rostflecken wie Ekzeme.

Noch deutlicher wird das an dem fulminanten »Das kranke Kind« von 1896, das damals nur unter dem Titel »Studie« ausgestellt war. Dieses Bild empfängt gleich den Betrachter im ersten Raum des langen Rundgangs. In der Ausstellung wird neben der Göteborger, der zweiten von sechs Fassungen des Gemäldes, auch noch eine spätere gezeigt. Ein zeitgenössischer Betrachter, blind für die revolutionäre Kraft dieser Kunst, hatte so Unrecht in der Wahl seiner Vergleiche nicht: »Farben, verwischt und ausgewaschen wie die Grundfarbe einer Hauswand, anämisch und krank wie eine Schwindsüchtige, die von keinem Blut genährt sind und kein Tageslicht gesehen haben, oder, wenn es hoch hergeht, schneidend gelbe Flecken und schreiend rote, nervöse Kleckse…«

Doch was ist so neu daran? Die Farbmaterie und den Bildträger als Objekt aggressiver Auseinandersetzung und die Vernarbung und Verwitterungseinflüsse als haptisch bleibende Qualität. Gab es das nicht auch schon vorher, bei Goya, bei Turner? Und hat nicht schon Rembrandt in seinem Münchner »Selbstbildnis« von 1629 ungestüm mit dem Pinselstiel in die noch feuchte Farbe hineingekratzt? Könnte man in puncto vollkommene Unfertigkeit und Spuren von Gewalt nicht auf Michelangelos im Block eingespannte Sklaven des Julius-Grabmals verweisen, auf seine Zertrümmerungsattacken (die Pietà Rondanini war ja kein Einzelfall)? Der mal breit-pastose, mal locker-flüssige Al-prima-Pinselstrich war immer schon ein Hinweis auf ungestüme Impulsivität, Genialität und virtuose Treffsicherheit (etwa in der karolingischen Buchmalerei, im Utrechter Codex). Kennen wir nicht das Spiel mit dem offenen oder wieder freigelegten Leinwandgrund allzu gut von solch einem konventionellen Malerfürsten wie Franz Lenbach, die dicke Schichtung von Farbschollen aus Rembrandts Spätwerk, ganz zu schweigen von Turner oder van Gogh?

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Die Katalogverfasser von »Zeichen der Moderne« möchten unbedingt dem gängigen Munch-Bild eine Rosskur verpassen. Dies ist ihr Lieblingswort. Sie tun so, als sei Munchs Modernität noch zu entdecken, als habe man den Maler nicht schon zu seinen Lebzeiten erkannt. Sie haben eine ganze Reihe solcher angeblichen Formneuerungen ausgemacht, mit denen sie unseren Blick auf Edvard Munch leiten wollen:

  • Übermalungen werden nicht, wie es Jahrhunderte lang die akademische Regel war, auf einer erneuerten, deckenden Grundierung angebracht, so dass sie nur
  • noch mit Röntgenstrahlen sichtbar gemacht werden können; vielmehr sind sie transparent, mit viel Malmittel so flüssig aufgetragen (zum Teil, nachdem die Bilder schon auf Ausstellungen zu sehen waren), dass der Prozess des Umschaffens nicht vertuscht, sondern mitgesehen werden soll;
  • bestimmte Erscheinungen wie Lichteffekte, die nur auf Blitzlicht zurückzuführen sind, erstarrte Wischbewegungen wie auf Schnappschussabzügen, Verdopplungen wie auf Doppelbelichtungen, eine überrissene Perspektivität oder bewegliche Schnittfolgen lassen Rückwirkungen von Photographie und Film in Munchs Bildern erkennen;
  • das Zusammenstellen von Gemälden zu »temporären Collagen« lässt auf Atelierphotographien erkennen, wie Munch ein Einzelwerk in einem übergreifenden Werkzusammenhang  weiterwirken sah;
  • verschiedene zeitliche Verschiebungen und Simultaneitäten werden unter dem hochtrabenden Begriff »Metakörperlichkeit« zusammengefasst (Büttner S. 35f.), etwa auf der einflussreichen Lithographie von 1895, welche das Gesicht des Malers ganz in schwarzen Grund getaucht zeigt und zugleich parallel zur unteren Bildrahmung seinen linken Arm bereits als Skelett antizipiert;
  • Eine auffällige Neigung zu »Serialität«, die anderen Impulsen folgt als beispielsweise bei Monets Getreideschobern, Heuhaufen oder Fassadenbildern der Kathedrale von Rouen;

schließlich die Tendenz zum Auslöschen des Motivischen, die insbesondere in der späteren Holzschnitten zu spüren ist, wenn die Gesichter zu Hohlspiegel für Projektionen werden und die Wellen der Maserung alles Figurative überspülen.

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Natürlich haben Burchart und die anderen Mitautoren des Katalogs, welche offensichtlich in konzertierter Aktion die Materialität als das Wesentliche hinstellen wollen, Recht. Aber ist ihre Sicht deshalb auch richtig? Natürlich war Edvard Munch wegweisend und wir finden in Partien seiner Gemälde die Anfänge von Informel und Tachismus; aber das ist eine Binsenweisheit. Natürlich wirkt es schon ungewöhnlich, ja verblüffend, gerade bei diesem Maler fast ganz von den Inhalten und allem Ikonographischen abzusehen; aber kann man das angesichts von Gemälden, die wie keine anderen die abgründigsten Gefühle der menschlichen Psyche offenbaren? Kann man das scheinbar willkürliche Anschneiden von Figuren nicht auch zuvor bei Degas und anderen beobachten? Auch der Impressionismus kennt die Serialität als Vorstufe zur Sequenz. Und schon bei Monets Pappelreihen hat die Tendenz zu Bildfolgen, allen Kalenderdrucken zum Trotz, nicht nur den Grund darin, dass hier der Wechsel des Tageslichts die bloße sensualistische Oberfläche eines ewigen Sonntags eingefangen werden sollte; ihr Grundton ist auch hier schon die unheimliche Flüchtigkeit des Augenblicks und die Vergänglichkeit des schönen Scheins.

Kann man von einer »dual materialbasierten« Rezeption her, mit einem Dubuffet, Masson, Emil Schumacher oder Jackson Pollock im Hinterkopf, auf Munch zurückzublicken und damit seiner Eigenart gerecht werden? Das ist so, als würde man sagen, eines der erschütterndsten Werke der Musik, Schuberts Streichquintett in C-Dur zum Beispiel, sei eine Veranstaltung für lange Rosshaare, getrocknete Därmenstränge und dünne Tannholzbrettchen. Das stimmt zwar, trägt aber nicht sehr viel zu einem vertieften Verständnis des Werks bei.

Dass Form und Inhalt eines Kunstwerks nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen, sondern als Einheit begriffen werden wollen, ist eine Banalität, die offensichtlich nicht selbstverständlich ist. Dass wirklich Eindrückliche dieser Schau ist die Fülle an (qualitativ keineswegs gleichrangigen) Werken. So hängen Bilder, die man in allen Museen der Welt als repräsentative Einzelwerke wahrnimmt hier oft als Serien nebeneinander. So ist mit einem Mal zu verfolgen, wie die sich ins Dunkel kauernde Umklammerung eines Paares im Kuss im Laufe der Jahre immer mehr aus der Raumsituation löst. Die Silhouette des Paares verschmilzt immer stärker zu einer Formel, die sich verselbständigt und, im Gedächtnis eingebrannt, in verschiedene Farbräume gesetzt wird. Ein Thema in immer neuen, tastenden Variationen.

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Was die Ausstellungsmacher, nicht die Ausstellung, verschweigen wollen ist die leider nicht als neu zu verkaufende Erkenntnis: Der Mittelpunkt des Munch’schen Oevres ist und bleibt der leidende Mensch, sind die tiefen Gefühle von herber Einsamkeit, Leidenschaft, Eifersucht, schuldhafter Verstrickung, Angst, Abschied und Tod. Erst in diesem interpretatorischen Bezugrahmen ist es sinnvoll, über eine Himmelsfarbe zu sprechen, die aussieht wie gerinnende Tränen oder wie das Gemisch von Blut und Wasser, welches aus der Seitenwunde des Gekreuzigten floss. Erst wenn man die Leiden des Kindes bedenkt, den frühen Tod der Mutter, den Tod der Schwester, den gnadenlos pietistischen Vater, erst wenn man von Munchs panischer Angst weiß, »Krankheit, Wahnsinn und Tod« als die einzigen Konstanten seines Lebens »zu vererben«, kann man verstehen, warum die kehligen Pinselkurven keine Unterscheidung von innen und außen kennen.

Eine der ungewöhnlichen Leihgaben aus der Privatsammlung Courtesy Galleri Faurschou in Kopenhagen, Die Insel von 1900 /01, zeigt diese Ununterscheidbarkeit von innen und außen besonders deutlich. Wie so oft wüsste man nicht zu sagen, ob das fahle Licht eines dunklen Tages oder die Helligkeit einer skandinavischen Sommernachtnacht über der Szene liegt. Alles körperhaft Feste löst sich auf zu luftigen oder biomorphen Gebilden, die sich verselbständigen. Unheimlich wird im Sinne Mallarmés die Landschaft als Landschaft der Seele entwickelt: als flösse die felsige Küste teigig dahin, geht das Nadeldach einer Kiefer über in helle Strudel aus schlierigen Farbwirbeln, die sich wieder in eine anthropomorphe Büste wandeln. 

Es sind dieselben ovalen Umkreisungen, mit denen die hohle Wange eines Gesichts, die Verschattung einer tiefen Augenhöhle, die Endloslinie eines Stegs, die Lichtbahn des im Wasser reflektierten Mondes oder die Schmelzwasserkuhlen im Frühjahrsschnee eingefangen werden. Versuche, Obsessionen in immer neuen Annäherungen zu bannen, was innen ist. Denn Munchs Vorsatz war es, »nicht mehr so zu malen, wie man sieht, sondern wie man es gesehen hat«. Ulf Küster hat in seinem Beitrag darauf hingewiesen, dass man angesichts von Munchs Gemälden das berühmteste Stück des norwegischen Dramatikers Ibsen, »Gengangere«, anders übersetzen müsste: nicht, wie üblich, mit »Gespenster«, sondern mit »Wiedergänger, Heimsuchungen« von immer wieder sich neu aufdrängenden Bildern, »Widerhall« des Verdrängten.

 

Weitere Informationen

 

Öffnungszeiten Fondation Beyeler

Täglich 10-18 Uhr
Mittwoch 10-20 Uhr

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