Rezensionen

Ein Generaldirektor breitet die Schätze seines Riesenreichs aus. Bernhard Maaz: Die Gemälde der Münchner Pinakotheken

Was macht die Museen in Dresden, Berlin oder Bayern so ungeheuer überbordend, vielgestaltig und einzigartig in einer auch sonst doch sehr reichen deutschen Museenlandschaft? – Nach einigem Nachdenken fällt die Antwort nicht schwer: Sie verdanken sich dem Erbe von großen Dynastien und Königen, die über Jahrhunderte und etliche Generationen hinweg nach dem Motto «Legitimation durch Repräsentation» eine unerschöpfliche Sammelleidenschaft an den Tag legten. Dass sie dabei ganz andere Summen ausgeben konnten als bürgerliche Stifter oder Industriemagnaten, versteht sich von selbst. Im Falle der bayerischen Wittelsbacher ist das Erbe an Kulturgütern besonders reichhaltig an einem Ort zusammengeflossen. Der derzeitige Generaldirektor der Bayerischen Gemäldegalerien, Bernhard Maaz, hat nun in zwei opulenten Bänden persönlich einen Teil der ihm anbefohlenen Bilder vorgestellt. – Walter Kayser zeigt sich von der Neuerscheinung beeindruckt.

Cover © Hirmer Verlag
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Dass sich im schönen «Freistaat» Bayern, präziser: im Kunstareal an der Theresienstraße der Münchner Maxvorstadt, jeweils nur einen Steinwurf voneinander entfernt, Pinakotheken von einzigartigem Rang befinden, das dürfte Touristen aller Herren Länder bekannt sein, selbst wenn sie vor allem wegen des Oktoberfests oder der Allianz–Arena den Weg an die Isar gefunden haben sollten. Dass es darüber hinaus aber in Bayern ein weiteres Dutzend von erstklassigen Museen gibt, die sich ebenfalls «Staatsgalerien» nennen dürfen und sich gleichwohl nach Kräften dagegen zu wehren versuchen, als bloße «Außenstellen» der Bayerischen Gemäldesammlungen wahrgenommen zu werden, – das weniger. Dieser unglaubliche Reichtum an Gemäldesammlungen und Schlössern verdankt sich manchmal nur der Gunst des glücklichen Zufalls. Als beispielsweise der geradezu manische Sammler «Jan Wellem», Kurfürst von der Pfalz, «Erzschatzmeister des Heiligen Römischen Reiches» mit Residenz in Düsseldorf, 1716 ohne Nachkommen starb, fiel seine grandiose Sammlung, darunter nicht nur sagenhafte Bestand an Rubens– und Rembrandt–Werken, ausgerechnet den bayerischen Wittelsbachern in den Schoß. Ein Segen über Nacht und ohne eigenes Zutun, der schließlich Ende des 18. Jahrhunderts in München landete. Der verantwortliche Direktor, um nicht zu sagen: der stolze Herr all dieser Schätze, ist seit geraumer Zeit Bernhard Maaz.

Seine Lust am «begreifenden Sehen» muss gewaltig sein, wenn er auch «nur» tausend von den wohl mehr als 30.000 ihm anbefohlenen Kunstwerken in der hier zu besprechenden Neupublikation in den näheren Blick nimmt. Es ist kaum zu glauben, aber innerhalb nicht einmal eines einzigen Jahres, nämlich von Januar 2020 bis zum November (also zu Beginn der Corona–Epidemie), schaffte er es, diesen Überblick ganz allein zu schreiben. Ungläubig reibt sich der Leser angesichts einer solchen Herkulesaufgabe die Augen: Hatte Maaz nichts anderes zu tun? Musste er sich nicht auch noch um die Generalsanierung der zur Zeit geschlossenen Neuen Pinakothek und um die abschnittsweisen Bauarbeiten in der Alten Pinakothek kümmern? Maaz kommt einem vor wie ein sagenhafter Kaiser von China, der sich zu Fuß aufmacht, um alle Schätze seines Riesenreichs persönlich zu inspizieren und um sich auszubreiten. Denn nach den Namen von Mitautoren, also Anzeichen dafür, dass er dabei eifrig an seine Kurator:innen und Sammlungsleiter:innen delegierte, sucht man vergeblich. Das heißt nicht, dass diese nicht mit vielen Vorarbeiten im Hintergrund standen. Immer wieder, etwa in der Ära des Vorgängers Reinhold Baumstark, traten die einzelnen Abteilungen der Alten Pinakothek mit eigenen Teilkatalogen bei Hatje Cantz hervor. Und auch unter Maaz‘ens eigener Herausgeberschaft erschien schon 2015 unter Mitarbeit zahlreicher Referenten ein kleiner Führer bei Hirmer, der den Titel trug «Die Pinakotheken in Bayern». Doch dieser hatte in erster Linie den Zweck, einzelne Highlights sozusagen als Appetitanreger vorzustellen und damit einen Reiseanreiz für Besichtigungstouren quer durchs ganze Bundesland zu schaffen.

Cover © Hirmer Verlag
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Die von einem Schuber zusammengehaltenen und in jeder Beziehung gewichtigen zwei Bände haben nun einen viel grundsätzlicheren Ansatz. Sie bilden ein gewaltiges Kompendium, einen überreichen Bestandsüberblick, der die Münchner Häuser genauso berücksichtigt wie das Netz der anderen Sammlungen, von Oberfranken bis Oberbayern, von Würzburg bis zum Walchensee. Die momentan gezeigten Bestände kommen genauso vor wie das in Depots Verborgene, das in Katalogen Verzeichnete ebenso wie das als Dauerleihgaben woanders Untergebrachte.
Die Ausführungen sind in jeder Hinsicht beeindruckend. Vom extensiven Umfang wie vom Breitenansatz her: opulente Folianten, die, wenn sie einmal aus Unachtsamkeit aus dem Regal fallen, jedermann erschlagen könnten, – mithin nicht weniger als ein repräsentativer Querschnitt durch die gesamte Kunstgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart in exakt 150 Kapiteln. – Da braucht es einen Generalisten in den besten Jahren. Bernhard Maaz, noch nicht ganz an der Schwelle zur Pensionierung, ist ein solcher. Immerhin liegen auf seinem Karriereweg solche «dicken Brocken» wie die Leitung der Alten Nationalgalerie in Berlin, deren Generalsanierung er nebenbei zu verantworten und zu überstehen hatte, die Leitung der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister und des dortigen Kupferstichkabinetts, bevor er als Nachfolger von Klaus Schrenk zum 1. Februar 2015 als neuer Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bestellt wurde. Seit gut sieben Jahren hat er nun schon die Oberaufsicht von drei Münchner Pinakotheken, zudem der Sammlung Schack, der Sammlung Brandhorst und eines Netzes von den oben erwähnten zwölf Staatsgalerien. Mit anderen Worten: Bernhard Maaz ist die Verkörperung von dem, was man heute so gern «Leitungskompetenz» nennt, und das heißt vor allem: mehr Teamfähigkeit als Alpha–Tier–Gehabe und Machtinstinkt. Dazu eine groß gewachsene, sportlich–schlanke Erscheinung und ein verbindliches, stets seriöses und doch smartes Auftreten (modisches Markenzeichen: Fliege und Seidenschal).

Im Vorwort beteuert der Verfasser immer wieder, wie wenig erschöpfend seine zahllosen Darstellungen zu sein beanspruchen. Er verweist stattdessen auf die online verfügbare, vertiefende Datenbank der Bayerischen Gemäldesammlungen, die 2017 freigeschaltet wurde.
Angesichts der Wuchtigkeit des monumentalen Unterfangens war es ihm offensichtlich sehr wichtig, dem Ganzen eine klare Struktur als Gegengewicht zu geben: Da ist die nahezu symmetrische Zweiteilung mit zweimal nahezu 75 Kapitel für die anderthalbtausend Seiten, nicht von ungefähr mit der Aufklärung als Trennscheide zwischen alter Malerei und der Romantik als Zäsur zur Moderne. Dazu passen die einheitlich gehaltenen Kapitelüberschriften. Sie sind wiederum durchweg zweiteilig gewählt, indem sie einen programmatisch gedachten Begriff nach einem Doppelpunkt durch zwei weitere Abstrakta näher einzulösen versprechen. Das mag manchmal einleuchtend sein (etwa, wenn die Vorkriegsbilder eines Heckel, Marc oder Picasso unter die Überschrift «KRISTALLINE FRAGMENTIERUNG : KUBISTISCHES UND FUTURISTISCHES» subsummiert werden); oft bleiben diese Formulierungen aber auch in ihren vagen Verallgemeinerungen völlig banal, vieldeutig und unplausibel («LÄNDLICHES LEBEN : IDEAL UND WIRKLICHKEIT», «MYTHISCHER TUMULT : GÖTTER UND MENSCHEN», «VARIABLE NATUR : WEITE UND TIEFE». Das ist bestenfalls vom Sprachrhythmus her gut durchgehalten. Vielleicht überspielt es aber auch nur, dass sich der Autor mit kompetentem Sachverstand in allen Sätteln gerecht zeigt, ob es das 16., 17., 18. Jahrhundert oder die Malerei der Gegenwart.

Cover © Hirmer Verlag
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Überhaupt erweist sich der Verfasser als Spezialist fürs ganz Allgemeine. Es gehe bei Gemälden um das Interesse an «Verhaltensnormen», um «gesellschaftliche Ideale und Fragen», um die Kritik und Entfaltung von Weltbildern, um einen «geistigen Schatz einer Museumslandschaft, deren Horizont menschheitlich» bedeutsam sei (12). – Wer will solchen Allgemeinplätzen widersprechen? Dennoch möchte der Verfasser «nicht belehrend, sondern einladend»(10) sein. Natürlich kommt das auch wie keine andere Begabung seiner Rolle als Kommunikator und Kapitän einer gewaltigen Flotte zu. Schließlich hat er täglich als Direktor aller Gemäldegalerien an einer Schnittstelle vieler Experten und Einzelinteressen, von Forschung und Publikum, von Kunst und Politik, Verwaltung und Innovation Divergierendes zusammenzuführen und Gegensätze zu vermitteln. Wie er fachkundig über Malerei zu schreiben weiß, bleibt so allgemein wie unwiderlegbar. Gleichwohl ist es so, dass er sich mit diesem opus maximum unbedingt Respekt verschaffen kann. Bernhard Maaz weist sich nicht nur Fachmann aus, der zu Kunstwerken aller Art und Zeit kompetent etwas zu sagen hat; bei etlichen Bildern kommt er sogar aus der Deckung des «common sense», indem er neue Thesen, was Datierung und Forschungssicht angeht, wagt. Was er in mancher Bildbetrachtung sagt, ist auch stilistisch sehr unterhaltsam und brillant formuliert. Dass diese Bestandsaufnahme bei kaum einem Verlag in besseren Händen lag als bei Hirmer, der in gewohnter Weise für eine ausgezeichnete Reproduktionsqualität der Abbildungen sorgt (und das noch für einen erstaunlichen Preis), versteht sich fast von selbst.

Mit besonderem Interesse hat Maaz im Blick, woher die Bilder kamen, für die er jetzt zuständig ist. Wenigstens eine kurze Provenienzinformation ist jeder Abbildung hinzugefügt. Die Geschichten, die die Gemälde erzählen könnten, wie sie monatelang auf den Schultern von Trägern über die Alpen geschafft, wie etwa Dürers Aposteltafeln aus dem Nürnberger Rathaussaal entwendet wurden oder eine Madonna Leonardos sich in eine Günzburger Apotheke verirrte, – das alles würde nochmals eigene Bände füllen.

Die Alte Pinakothek wurde als eines der ersten 1826 von Leo von Klenze im Auftrag König Ludwigs I. von vornherein als «Schule des Sehens» und «Wunderkammer für das Volk» für eine breite Öffentlichkeit geöffnet. Bernhard Maaz geht es nun vollends darum, den Reichtum dieses kulturellen Erbes stolz vor jedermanns Auge auszubreiten, als wolle er sagen: «Seht her, das alles steht euch allen als Angebot offen! Die bayerischen Gemäldegalerien sind Orte der Begegnung – warum nutzt ihr diese Himmel auf Erden nicht?» Das wiederum lässt an den Dichter Friedrich Hebbel zurückdenken. Als der im März 1840 Abschied von München nahm, um zu Fuß zurück nach Hamburg zu wandern und zum letzten Mal durch die Pinakothek geschlendert war, notierte er in sein Tagebuch: «Gerade die Kunst ist es, die das Leben erweitert, die es dem beschränkten Individuum vergönnt, sich in das Fremde und Unerreichbare zu verlieren; dies ist ihre herrlichste Wirkung.»

Bernhard Maaz

Die Gemälde der Münchner Pinakotheken

Band 1: Vom Mittelalter zur Aufklärung. Band 2: Von der Romantik zur Moderne
Maße: Breite 240 mm, Höhe 280 mm
Gewicht: 7166 g

1040 Abbildungen auf 1416 Seiten

Verlag Hirmer, München Oktober 2022
SBN/GTIN: 978–3–7774–3938–

Preis: 98 €

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