Ausstellungsbesprechungen

Ein heller Hauch, ein funkelnder Wind. Bernard Schultze zum 100sten Geburtstag, Arp Museum Bahnhof Rolandseck Remagen, bis 1. Mai 2016

Kürzlich zurückliegende oder nah bevorstehende 100. Geburtstage einer Reihe bedeutender deutscher Maler der Generation um 1915 – Emil Schumacher 1912, Karl Otto Götz 1914, Hann Trier 1915, Fred Thieler 1916 – geben Anlass, sich erneut mit der Kunst des Informel bzw. des Tachismus auseinanderzusetzen. Dazu gehören auch drei große Ausstellungen in Düsseldorf, Köln und Remagen, mit denen der am 31. Mai 1915 geborene Bernard Schultze geehrt wird. Rainer K. Wick hat die Schau im Arp Museum Bahnhof Rolandseck besucht.

Nach dem Siegeszug der Pop Art schien das Informel um 1970 »out« zu sein. Von Ausnahmen abgesehen, etwa Manfred de la Mottes Anthologie »Dokumente zum deutschen Informel« im Jahr 1976, nahm auch die Kunstwissenschaft der 1970er Jahre kaum mehr von dieser Hauptströmung der Nachkriegskunst Notiz. Erst nach 1980 setzte, beginnend mit Gabriele Luegs Dissertation »Studien zur Malerei des deutschen Informel«, eine neuerliche Beschäftigung mit dem Informel ein. Inzwischen sind zahlreiche Monografien zum Thema erschienen. Hervorgehoben sei nur Rolf Wedewers gründliche Untersuchung »Die Malerei des Informel. Weltverlust und Ichbehauptung« von 2007. Dass die Marktpreise längst kräftig angezogen haben, sei nur am Rande bemerkt.

Nun sind die Phänomene, die unter dem Label »Informel« subsumiert werden, überaus vielgestaltig, reichen sie doch von kraftstrotzenden, gestisch-spontanen Niederschriften bis hin zu zarten, feingliedrig-filigranen Bildwelten. Bernard Schultze gehört zu jenen, die eher der letzten Kategorie zuzurechnen sind. Sofern man das Informel auf Spontaneität, Automatismus und gestisches Ausdruckgebaren reduziert, wurde (und wird) Schultze »allzu unbedenklich in die Schublade Informel gepreßt« (Wedewer), und wenn Ludwig Baron Döry schon 1981 die kritische Frage aufwarf, »Ist Schultze ein Tachist?« (wobei hier Tachismus und Informel gleichgesetzt wurden), ließ das aufhorchen.

Die in dem vor acht Jahren eröffneten, großartigen Museumsneubau Richard Meiers großzügig präsentierte Schau bestätigt derartige Bedenken. Mag ein frühes gegenstandsloses Werk wie »Wege durch Blühendes I« von 1952, also aus der Zeit, als der Künstler zusammen mit K. O. Götz, Heinz Kreutz und Otto Greis in Frankfurt die Künstlergruppe »Quadriga« begründete, den typisch impulsgesteuerten gestischen Duktus informeller Malerei zeigen und sich vom surrealistischen Konzept der »écriture automatique« herleiten lassen, ist seit den frühen 1960er Jahren ein deutlicher Paradigmenwechsel erkennbar. Eindrucksvoll belegt dies die großformatige Arbeit »Moonen« von 1961, die damals in der Ausstellung »Phantastische Architektur« in Baden-Baden gezeigt wurde und seither nicht mehr öffentlich zu sehen war. Hatte der Künstler schon in den 1950er Jahren begonnen, durch Einbeziehen unterschiedlicher Materialien die Bildfläche plastisch werden zu lassen, so überschritt er mit »Moonen« dezidiert die tradierten Grenzen der Malerei – Fläche und Rahmen –, indem er ein komplexes, scheinbar wachsendes, ja gleichsam wucherndes dreidimensionales Gebilde schuf, das die Flächenbindung aufgibt und in den Raum ausgreift. Entstanden ist eine ungegenständliche »Figurengruppe«, die sich als Zwitter zwischen Malerei und Skulptur präsentiert und zu der in jenen Jahren zeittypischen Gattung des Environments tendiert. Schultze gab derartigen aus Holz, Draht, textilen Stoffen und plastischen Massen geformten, farbig bearbeiteten Werken den Phantasienamen »Migofs«. So phantastisch diese Wortschöpfung, so phantastisch ist auch die Erscheinungsweise dieser skulpturalen Mischwesen. Jutta Mattern, die Kuratorin der Ausstellung, spricht im Zusammenhang mit den Migofs mit ihren »feinen Antennen [...], Rüsseln [und] Tentakeln« von »insektenhaften, außerirdischen, archaischen Wesen«, die eine Sphäre des »Werdens und Vergehens, des Geheimnisvollen«, auch »des Komischen und Unergründlichen« aufscheinen lassen. Das Erbe des Surrealismus ist offenkundig, etwa im Fall des »Flügeltier-Migofs« von 1974, und Bernard Schultze hat immer die Bedeutung des vom Vordenker der surrealistischen Bewegung André Breton propagierten »Diktats des Unbewussten« für sein eigenes künstlerisches Œuvre hervorgehoben.

Höchst beeindruckend ist die Akribie, mit der Schultze seine Werke geschaffen hat und die erst bei der Betrachtung aus nächster Nähe ersichtlich wird. Sie sind das Resultat beharrlicher Arbeitsvorgänge, die nichts mit Malakten im Sinne unkontrollierter Selbstentäußerungsprozesse zu tun haben, wie sie für das Informel als so charakteristisch gelten. Dies trifft für die komplex gebauten Migofs ebenso wie für die monumentalen Ölgemälde des Spätwerks des Künstlers, z.B. »denkend an Jörg Ratgeb« (1990) und die z.T. auf Leinwand ausgeführten, großformatigen, minutiös durchgearbeiteten Zeichnungen zu. Rolf Wedewer hat bei Schultze zu Recht eine »Strategie der Langsamkeit« ausgemacht, Ausdruck eines nachhaltigen Misstrauens »gegenüber dem Anspruch spontaner Unmittelbarkeit auf Verbindlichkeit«. Schon 1957 hat Bernard Schutze seine Vorgehensweise, bei der das Moment des Zufalls eine nicht unerhebliche Rolle spielt, einmal so erklärt: »Zufälle [...] müssen als solche erkannt, gesteuert oder getilgt werden, um neuen Zufällen Platz zu machen, bis man einhalten muss, bis ‚es stimmt‘. [...] Durch die Folge der Schichten entsteht ein sehr kompliziertes System der Überlappungen. [...] Relikte, Übermalungen, Lasuren, eine Unzahl von Nuancen, kurzum Spuren mannigfacher Bemühungen kennzeichne[n] eine derartig behandelte Fläche.« Dazu passt, dass der Künstler häufig betont hat, am Anfang einer Arbeit gebe es keinerlei konkreten Plan, sondern die entstehende Gestalt sei das Ergebnis einer steten Interaktion zwischen Hand und Auge, Auge und Hand, gespeist aus den Tiefen des Unbewussten und kontrolliert durch das, was behelfsweise als bildnerisches Denken bezeichnet wird.

Es gehört zur selbstverständlichen Freiheit eines Kurators, aus den verfügbaren Arbeiten eines auszustellenden Künstlers eine Auswahl zu treffen. Jutta Mattern hat sich entschlossen, die in den 1960er Jahren entstandene Werkgruppe der sog. Mannequin-Migofs – Schaufensterpuppen, an denen Schultze in drastischer Weise Prozesse der Verletzung, des Verfalls, der Verwesung demonstriert hat, möglicherweise ein Nachhall seiner grauenhaften Kriegserfahrungen – konsequent zu Gunsten gegenstandloser, non-figurativer Arbeiten des Künstlers zu vernachlässigen. Damit gelingt eine in ihrer Stringenz zwar überzeugende Präsentation, die allerdings eine nicht unwichtige Facette des Lebenswerks von Bernard Schultze ausblendet und Schultze ganz auf das Informel reduziert. Im Unterschied zu den Mannequin-Migofs mit ihren relativ eindeutigen Botschaften bleiben die in Rolandseck gezeigten informellen Arbeiten mit ihren Wucherungen, ihrem scheinbaren Wildwuchs, ihren labyrinthischen Strukturen, zerklüfteten Oberflächen und schrillen Farbkombinationen semantisch unbestimmt. Es sind »offene Kunstwerke« (Umberto Eco), die das Unabgeschlossene, Fragmentarische zum Programm erheben und dem Betrachter damit Angebote zum freien Assoziieren machen und beträchtliche Interpretationsspielräume eröffnen. Oft bleiben sie rätselhaft, wie auch das Motto der Ausstellung »Ein heller Hauch, ein funkelnder Wind« zunächst hermetisch bleibt. Es handelt sich um ein Zitat aus dem Erzählband »Die Zimtläden« des polnischen Schriftstellers und bildenden Künstlers Bruno Schulz, der 1942 von der Gestapo erschossen wurde. Häufig bezog Bernard Schultze für sein bildnerisches Tun Anregungen aus der Literatur, und so lässt sich in diesem Fall zeigen, dass er in seinem Exemplar der »Zimtläden« diesen Satzteil, der offenbar sein besonderes Interesse fand, markiert hat. Dass der Titel der zarten und heiter anmutenden großformatigen Arbeit »Windgestalten im Frühling« von 1994, in der andeutungsweise Figuratives sichtbar wird und Gemaltes und Gezeichnetes, Farbiges und Unfarbiges sich gleichsam kontrapunktisch begegnen, unschwer mit der erwähnten Textstelle in Beziehung gesetzt werden kann, dürfte unmittelbar evident sein. Mag das zum Teil beunruhigende Œuvre Bernard Schultzes passagenweise von zerstörten Ordnungen, bedrohlichen Ungewissheiten und existenziellen Zweifeln zeugen, so gelangen dem Künstler in seinem Spätwerk Arbeiten, deren frische Farbigkeit und spielerische Leichtigkeit sie – wie er es selbst einmal formuliert hat – zu einem »Fest für die Augen« machen konnten.

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