Ausstellungsbesprechungen

El Greco und die Moderne, Museum Kunstpalast, Düsseldorf, bis 12. August 2012

El Greco (1541-1614) gilt gemeinhin als Maler des Spirituellen. Seine psychologisierenden Kompositionen machten ihn zu einem Ahnherren für die Künstler der Klassischen Moderne. Nach 100 Jahren, die zwischen dem ersten Greco-Fieber und heute liegen, präsentiert das Museum Kunstpalast eine Zusammenschau seiner Werke und der moderner Künstler wie Lehmbruck oder Dix. Rainer K. Wick hat es sich angesehen.

Kunstsoziologie und Rezeptionsästhetik verdanken dem Dadaisten Marcel Duchamp eine klassisch gewordene Formulierung, nämlich die, dass es die Betrachter seien, die »die Bilder machen«; oder anders gesagt, dass sich das Kunstwerk erst (und immer neu) im Zuge seiner Rezeption erfüllt. Und Duchamp fährt fort: »Heute entdeckt man El Greco; das Publikum malt seine Bilder dreihundert Jahre nachdem der eigentliche Urheber sie gemalt hat«. Dass Duchamp zu Anfang des 20. Jahrhunderts ausgerechnet El Greco nennt, ist natürlich alles andere als zufällig. Denn „der Grieche“, wie die Spanier ihn kurz und bündig nannten, erlebte nach einer längeren Phase, in der er weitgehend in Vergessenheit geraten war, um 1900 gleichsam eine zweite Geburt, wurde er nun doch gleichermaßen von Kunsthistorikern und Künstlern wie auch vom Publikum mit einem neuen, veränderten Blick auf die Vergangenheit wahrgenommen.

Der konzeptionelle Ansatz der aktuellen Greco-Ausstellung in Düsseldorf markiert das doppelte Interesse an El Greco als einen Künstler, dessen extraordinäres Œuvre in seiner eigenen Zeit absolut singulär ist, und als einen Maler, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Schaffen zahlreicher moderner Künstler maßgeblich beeinflusst hat. Circa 40 meist hochkarätigen Gemälden von El Greco werden rund 100 Arbeiten von Künstlern der Klassischen Moderne gegenübergestellt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts explizit oder implizit auf Greco bezogen – von Paul Cézanne über Pablo Picasso, Robert Delaunay, Franz Marc, Oskar Kokoschka, Egon Schiele, Max Beckmann, Heinrich Nauen bis hin zu Wilhelm Lehmbruck, um nur einige namentlich zu nennen.

El Greco, 1541 als Doménikos Theotokópoulos auf Kreta (zur damaligen Zeit venezianisch) geboren, entstammte künstlerisch einem durch und durch konservativen Milieu, nämlich dem der griechisch-byzantinischen Ikonenmalerei. Um 1560 verließ er Kreta und kam nach Venedig, wo er 1563 zwar noch als „Meister der Ikonenmalerei“ Erwähnung fand, sich aber unter dem Einfluss Tizians und vor allem Tintorettos vom Byzantinismus ab- und dem Manierismus zuwandte. 1570 begann ein langjähriger Aufenthalt in Rom, doch waren die Jahre in Italien nicht von dem erwarteten Erfolg gekrönt. Spanien war zur damaligen Zeit die Großmacht Nummer 1. König Philipp II. hatte 1561 den Hof von Toledo nach Madrid verlegt und bald darauf begonnen, 45 km von Madrid entfernt die gigantische Schloss- und Klosteranlage El Escorial errichten zu lassen. Grecos Hoffnungen, hier als Hofmaler zu reüssieren, erfüllten sich allerdings nicht, so dass er sich 1577 in Toledo niederließ, wo er bis zum seinem Tod 1614 lebte und sein umfangreiches, unverwechselbares Œuvre schuf.

Hugo Kehrer, einer der „Entdecker“ Grecos, hat 1920 im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches »Die Kunst des Greco« folgendes geschrieben: »Er rüttelte am Quaderbau der Renaissance mit ihrem einseitigen Formalismus. Die Renaissance wusste nicht mehr, was Seele heißt, kannte nicht mehr die Sehnsucht nach dem Unendlichen, das Metaphysische«. Damit wurde eine Sichtweise auf den Künstler zementiert, die vor allem im frühen 20. Jahrhundert populär war und im Umkreis des deutschen Expressionismus allgemein akzeptiert wurde: Greco als der Maler des Spirituellen, ja als malender Mystiker in Zeiten der spanischen Inquisition. Heute scheint erwiesen, dass Greco keine sonderlich ausgeprägten mystischen Neigungen hatte. Eher wird er, der eine große Bibliothek besaß und ein Malereitraktat plante, aktuell als »Intellektueller, [als] ein ‚pictor doctus’«, also als ein gelehrter Maler »im italienischen Sinne« (Michael Scholz-Hänsel) diskutiert.

Gleichwohl war Greco in erster Linie ein Maler des Religiösen, was sich allein schon daraus ergab, dass die Kirche sein hauptsächlicher Auftraggeber war. Die großzügig gehängte Düsseldorfer Ausstellung versammelt eine Reihe erstrangiger Arbeiten des Künstlers, die dies eindrucksvoll dokumentieren, darunter Schlüsselwerke wie die »Entkleidung Christi (El Espolio)« (zwischen 1580 und 1595), »Christus am Ölberg« (1590er Jahre) oder »Die Öffnung des Fünften Siegels« (um 1608-1614). Aber Greco hat nicht nur christliche Themen bearbeitet. Mit seinem »Laokoon« (um 1610-1614) gelang ihm eine der eigenwilligsten Interpretationen des antiken Stoffes, mit der er sich formal dezidiert vom Vorbild der 1506 in Rom gefundenen hellenistischen Laokoon-Gruppe absetzte und den Vorfall – den Tod des trojanischen Priesters und seiner Söhne durch zwei Schlangen – vor die Kulisse Toledos verlegte.

Grecos ausdrucksstarke, affektgeladene Kompositionen verweigern sich entschieden der Norm des Klassischen, die in der Hochrenaissance einige Jahrzehnte zuvor noch als verbindlich galt. Seine antiklassische Formensprache manifestiert sich vor allem in den überlängten Körpern, Gesichtern und Gliedmaßen und im manieristischen Figurenideal der figura serpentinata mit ihren verschraubten Drehbewegungen. Der gestische Rhythmus der Formen korrespondiert mit einer vibrierenden Farbigkeit, in der schweflige Gelb-, fahle Blau- und kalte Rottöne aufflackern, während das Inkarnat – manchmal fast leichenbleich – in Grau-Rosa-Tönen changiert.

Das alles, gepaart mit dem in Nahsicht enorm lockeren, nervös zuckenden Pinselduktus, mutet an wie eine Moderne avant la lettre, und es ist rezeptionsgeschichtlich höchst aufschlussreich zu sehen, wie Greco dann in der zweiten Hälfte des 19. und im frühen 20. Jahrhundert von der Kunstgeschichte und von der Kunst selbst aufgenommen wurde. Eine regelrechte Greco-Manie brach mit dem Erscheinen des Buches »Spanische Reise« des Kunstkritikers Julius Meier-Graefe im Jahr 1910 aus, in dem er den Griechen als »richtigen, neuen, gewaltigen Erdteil« entdeckte. 1912 waren Bilder Grecos zunächst in der Münchner Pinakothek und anschließend in Düsseldorf zu sehen, und im selben Jahr hob Franz Marc im Almanach »Der Blaue Reiter« hervor, dass die »Glorifikation dieses großen Meisters im engsten Zusammenhang mit dem Aufblühen unserer neuen Kunstideen steht. Cézanne und Greco sind Geistesverwandte über die trennenden Jahrhunderte hinweg. […]«.

Die Künstler des Expressionismus erkannten in ihm einen der Ahnherren ihrer eigenen künstlerischen Bestrebungen. Wie diese Bestrebungen konkret aussahen, zeigt die Düsseldorfer Ausstellung mit einer furiosen Auswahl hervorragender Meisterwerke aus den Jahren zwischen 1910 und 1920. Dabei erscheinen die formalen Korrespondenzen zwischen Greco und einigen modernen Künstlern oftmals unmittelbar evident, so etwa bei Lehmbrucks extrem gelängter Figur »Emporsteigender Jüngling« von 1913-1914 (obwohl ungewiss ist, ob sich der Bildhauer unmittelbar mit dem Meister aus Toledo auseinander gesetzt hat), manchmal erschließen sie sich aber erst, nachdem man sich das erforderliche Hintergrundwissen aus dem exzellenten Katalogbuch besorgt hat – etwa im Fall von Ludwig Meidner, über den es heißt, er habe Weltuntergänge gemalt, »die noch in der Deformation über Greco hinausgingen«.

Die Bilder aus allen Schaffensphasen El Grecos sind allein schon Grund genug für einen Besuch in Düsseldorf. Was die Düsseldorfer Schau aber so anregend, so lebendig und so erkenntnisfördernd macht, ist die Tatsache, dass hier im unmittelbaren Dialog der Bilder anschaulich jene vielgestaltigen Bezüge zwischen Greco und der Klassischen Moderne vorgeführt werden, die seit hundert Jahren zwar prinzipiell bekannt sind, die aber noch nie in dieser Deutlichkeit und Differenziertheit aufgearbeitet wurden.

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