Buchrezensionen

Elena Zanichelli: Privat – bitte eintreten! Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre, transcript 2015

Tracey Emin zeigte 1999 in der Turner Prize Exhibition ihr zerwühltes, schmutziges Bett. Wolfgang Tillmans machte Aufnahmen seiner Freunde, nackt, in intimen Situationen. Elke Krystufek masturbierte 1994 vor Publikum in der Kunsthalle Wien. Die Bildende Kunst der 1990er Jahre erlebte eine – äußerst kontrovers rezipierte - Konjunktur des »Privaten«. Vor dem Hintergrund der aktuellen theoretischen Rekonzeptualisierung des Begriffs untersucht Elena Zanichelli die künstlerischen Praktiken der 1990er Jahre und deren Deutungen. Andrea Richter hat sich darein vertieft.

Öffentliche Geständnisse, Enthüllungsgeschichten, nackte Tatsachen und uneingeschränkt zirkulierende Privatbilder sind bei weitem keine Erfindungen des Internets und der sozialen Netzwerke des 21. Jahrhunderts. Lange vor Facebook, Instagram und Youporn schien die Grenze zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zu verschwimmen. Bereits in den 1990er Jahren entstand eine massenmediale »Konjunktur des Privaten«, in Werbekampagnen, Fernsehprogrammen, Literatur und auch in der Bildenden Kunst.

Ausgehend von der Grundannahme, dass es sich hierbei jedoch nicht um einen schlichten Transfer des (Privat-)Lebens ins (Kunst-)Werk handelte, untersucht Elena Zanichelli in ihrer 366 Seiten umfassenden Monografie künstlerische Praktiken der Visualisierung dieses Feldes und diskutiert deren konträre Deutungen. An neun konkreten Beispielen geht sie der Frage nach den Rhetoriken des Privaten in der Kunst der 1990er Jahre werkanalytisch nach. Dabei unterscheidet sie zwischen Arbeiten, in denen KünstlerInnen ihr eigenes Privates thematisieren, wie »Satisfaction« (1994) von Elke Krystufek und denjenigen, die das Privatleben der Anderen im Focus haben wie zum Beispiel »Signs that say what you you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say« (1992-1993) von Gillian Wearing und »Ingeborg the Busker Queen« (1998-1999) von Gitte Villesen. Ihr besonderes Augenmerk gilt einer dritten Ordnung von Arbeiten, die an der Schnittstelle zwischen öffentlichem und privatem Raum navigieren , darunter »Hausfrau Swinging« (1997) von Monica Bonvincini oder »Black Box und Black Bulletin Board« (1998) von Tom Burr.

Ausgehend von den kulturwissenschaftlichen Leitdiskursen der 1990er Jahre, in denen Begriffe wie Identität, Authentizität und das Performative eine zentrale Rolle spielten, prüft sie anhand der semiologischen und semiotisch-zeichentheoretisch geprägten Ansätze von Roland Barthes und Umberto Eco die Konnotationen und Denotationen dieser Arbeiten. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Konjunktur von Semantiken des Privaten im Ausstellungsraum der 1990er Jahre jenen Umwälzungen entspricht, die das herkömmliche Konzept des Privaten erfuhr — und immer noch erfährt. Der künstlerische Werdegang von Arbeiten der 1990er Jahre folgte, so Zanichelli, meist einer persönlichen, existentiellen, manchmal fast therapeutischen Entwicklung. Wesentlich für die Kunst der 1990er Jahre sei dabei die Suggestion der In-eins-Setzung, des schlichten Transfers von privaten Erfahrungen, Erlebnissen und Begegnungen oder Befindlichkeiten in das Kunstwerk. Diese Suggestion werde dreifach authentisiert: durch mediale Übertragung, das damit verbundene Narrativ des Privaten, sowie drittens durch die Ausstellungsräume.

Dabei erfuhr auch die kuratorische Praxis eine tiefgreifende Veränderung. Modernistische Präsentationsmodi wurden abgelöst von Ausstellungskonzepten, die sowohl BesucherInnen, als auch den Umraum miteinbezogen. Ziel dieser Praktiken war es, marginalisierte Bevölkerungsgruppen und bis dato eher randständige Perspektiven in die Realität des White Cube einzubeziehen, ein durchaus politischer Ansatz, denn diese Praktiken zielten auf Sichtbarmachung und Emanzipation derselben.

Zanichelli konstatiert hier eine genealogische Linie, die ihren Ursprung hat in den sozialen und politischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre. Das grundlegende liberale Trennungsdispositiv, so argumentierten die damaligen Aktivisten, sei ein soziales Konstrukt, dessen vermeintlich freiheitsrechtliche Begründung auf der Entrechtung und dem vielfach repressiven Ausschluss von Frauen und sozial marginalisierten Männern aus der Sphäre des Öffentlichen gründe. Privatheit sei folglich unabdingbar verknüpft mit der Konstruktion von hegemonialen sozialen Geschlechtsidentitäten und daraus abgeleiteten gesellschaftlichen und politischen Rollenzuweisungen. Künstlerinnen wie Monica Bonvicini verhandeln in ihren Arbeiten diese fest geschriebene Dichotomie von Privat / Öffentlich und die damit verbundenen gesellschaftlichen Implikationen, vor allem für Frauen.

Allerdings, zu diesem Schluss kommt Zanichelli, habe die kritische Rezeption von Arbeiten, die diesen Misstand in den 1990er Jahren thematisierten, im Gegensatz zur Kunst der späten 1960er und 1970er Jahre keine politischen Konsequenzen zur Folge gehabt. Diese Behauptung wirft weitere Fragen auf, die in der vorliegenden Arbeit, die 2012 als Dissertation an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommen wurde, jedoch nicht mehr verhandelt werden. Die aktuellen Debatten um den Artivismus zeigen jedoch, dass die Frage nach der gesellschaftspolitischen Funktion von Kunst nach wie vor — oder immer noch — hochaktuell ist.

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