Im Museum des Anfangs unternimmt die Künstlerin und Philosophin Elisabeth von Samsonow eine dreifache Revision bestehender Gewissheiten Das Ergebnis ist ein furioser Text, der zwischen Essay, Fiktion, Traktat, Satire und Katalog changiert, Denken und Kunst, Schrift und Bild vexieren lässt und wie eine Droge (ohne gefährliche Nebenwirkungen) konsumiert werden soll. Daniel Irrgang hat sich auf diesen literarisch-philosophischen Trip begeben.
„Der Baum kann nur zur blühenden Flamme, der Mensch zur sprechenden, das Tier zur wandelnden Flamme werden.“ Diese Notiz zur „Chymie“ [Chemie] aus dem Jahr 1798 stammt von dem zu dieser Zeit noch jungen Juristen Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, besser bekannt unter seiner Identität als Naturphilosoph und Dichter, für die er im selben Jahr den Namen „Novalis“ als sein Pseudonym angenommen hatte. In jenen frühen naturphilosophischen Reflexionen versuchte Novalis, dem „beseelenden Prinzip“ chemischer Prozesse auf die Schliche zu kommen, durch die physikalische Körper Veränderungen durchlaufen. Wie in der Alchemie wird hier die Flamme zum Agenten des Übergangs – der Transmutation – von einem Stoff und Zustand in einen anderen. Novalis beschränkt die Flamme dabei nicht auf die energetische Kraft des Feuers, sondern operiert mit ihr als metaphorischen Stellvertreter zu zahlreichen Zersetzungs- und Wandlungsprozessen wie der Gärung, der Korrosion oder gar, dann doch bereits im romantischen Naturverhältnis, der Verwitterung: „Alles Fressen ist ein Assimilationsprozeß, Verbindungs-, Generationsprozeß. Die Flamme ist das Gefräßige.“ Wenn nun der Baum zur blühenden Flamme werden kann, dann nicht nur, weil die Sonne das Blätterdach feurig erhellt, sondern vor allem deshalb, weil er das „Verbrennen“ von Sauerstoff in der Luft wieder rückgängig macht – durch das Aufnehmen von Wasser und Kohlenstoffdioxid und der Produktion, angetrieben durch Sonnenlicht, von Sauerstoff. Dieser später als Photosynthese bezeichnete Vorgang war Novalis nicht bekannt. Wenige Jahre zuvor erst hatte der britische Chemiker, Naturphilosoph und Kleriker Joseph Priestly seine experimentellen Befunde veröffentlicht, in denen er die Kapazität von Pflanzen zum Widerherstellen von „aufgebrauchter“ Luft in einem Behälter beschrieb („Observations on different kinds of air“, in: Philosophical Transactions of the Royal Society Nr. 62, 1772). Dennoch erlaubt die poetische Kraft von Novalis‘ Reflexion die imaginäre Verbindung zur Photosynthese als entscheidenden „Generationsprozeß“ allen Lebens auf unserem Planeten – hier stellvertretend angerufen als Mensch, Tier und Baum.
Bereits im Titel ihres Buchs Museum des Anfangs: Mädchen, Pferd, Baum verweist die Philosophin sowie bildende und darstellende Künstlerin Elisabeth von Samsonow auf drei Figuren – oder, wie sie es den Lesenden unmissverständlich einprägt, „Operatoren“ –, die an Novalis‘ kategoriale Vertreter der alten taxonomischen Königreiche erinnern. Diese Operatoren organisieren, wie von Samsonow am Beispiel des Baums verdeutlicht, „die Umkehrung der Subjektordnung bzw. die Neuverteilung der Subjektivität“ (S. 175): In chtonischer Operation wird der Mensch und seine (ich benutze hier bewusst das maskuline Genus) Perspektive umgedreht, die Subjektivität wird der Erde zugesprochen.
Doch nicht so schnell. Zunächst möchte ich etwas beim „Operator III“, dem Baum, verweilen. Ihm wird zwar (seitenökonomisch) der kleinste Raum eingeräumt, allerdings nicht in seiner herausragenden Bedeutung als Ermöglicher des Lebens (und damit letztlich auch als Bedingung der Operatoren I und II): „Er hat die allergrößte Bedeutung für den Gasaustausch, durch den unsere Lungen direkt an seinen Metabolismus gekoppelt sind. Die Besiedelbarkeit der Erde durch Hominiden – und durch alles andere, das atmet, selbstredend auch – wird durch die Pflanzen und deren Technologien ermöglicht. Sie sind die Patrone der Lebewesen, die von ihrer Produktion von Sauerstoff abhängig sind. Sie sind die großen Mütter der Atmenden.“ (S. 156) In dieser Funktion ist der Baum (Operator III), aber auch das Pferd (Operator II), ein, um von Samsonows Begriffe zu verwenden, „Medium“, eine „Weiche“, die das Subjekt „Mensch“ mit den anderen, nicht-menschlichen Subjekten unseres Planeten in ein interdependentes Verhältnis setzt. Von Samsonow möchte die Subjektordnung umdrehen in Richtung der Erde als rezentriertes bzw. reterritorialisiertes Subjekt (mit dem Begriff der Reterritorialisierung als Verortung neuer epistemischer Bezugspunkte möchte ich gleich Gilles Deleuze und Félix Guattari an Bord holen, wie es auch von Samsonow tut). Aber trotz des chtonischen Vektors ihres Arguments – auch das Erdmuttereponym Gaia, prominent wieder aufgetaucht dank der wichtigen Arbeit Bruno Latours und dessen Wiederentdeckung (wenn überhaupt je vergessen) des Werks von Lynn Margulis und James Lovelock, blitzt wiederholt auf – ergibt sich daraus keine Verpflichtung an einen Holismus, in dem alle Lebewesen untrennbar miteinander verbunden sind; ein Argument, mit dem bereits Gregory Batesons wichtigen Pionierarbeit zur Umweltethik (man verzeihe mir diesen kompartmentalisierenden Begriff) das Risiko eines neuen epistemischen Universalismus eingegangen ist. So zumindest meine Lesart. Doch wieder: nicht so schnell.
Die Qualifizierung „meine Lesart“ scheint mir ein wichtiger Disclaimer zu sein, um auf Form und Stils des Buchs einzugehen; und das keinesfalls als schlichtes Abhaken von Kriterien einer Buchrezension. Das Museum des Anfangs zeichnet sich nämlich gerade durch seine formalen und stilistischen Grenzüberschreitungen aus: zwischen Ausstellungskatalog und Essay, zwischen scharfem analytischen Argument der in historischer und philosophischer Anthropologie geschulten Autorin einerseits und verschlungener Assoziationsketten, die Biographisches mit ästhetischer und mystischer Versenkung verbinden, andererseits (falls ich damit eine Dichotomie zwischen Analyse und Assoziation eingeführt habe, ziehe ich sie gleich wieder zurück). Jedenfalls: Die Pluralität der Themen und die Sprunghaftigkeit des Arguments ist eine der Stärken des Buchs – sie lässt allerdings auch eine nur höchst subjektiv-situierte Lesart zu (wie es wiederum wohl die meisten Lesarten sind). Diese Buchbesprechung muss sich daher nicht nur auf bestimmte Aspekte der assemblierten Materialfülle fokussieren; sie muss dies auch in einer subjektiv interpretierenden Art und Weise tun, um den vielen Assoziationsketten und ihren Abzweigungen folgen zu können. Dies ist, so unterstelle ich, vielleicht ganz im Sinne der Autorin. Denn wenn von Samsonow ihre faszinierenden Gedanken zu einer „Chimärologie“ ausbreitet, die das Mädchen (Operator I) als Hybrid beschreibt, der patriarchale und eurozentrische Taxonomien durchkreuzt – durchaus im Sinne von Donna Haraways feministischer Wissenschaftsforschung zu Hybriden, Cyborgs und anderen Mischwesen zwischen den künstlichen Dualismen aus Natur und Kultur, Technik und Gesellschaft – beschreibt sie auch die Entstehung solcher Chimären als ein „Vernähen“ hybrider (Körper-)Teile. Dies lässt sich durchaus als Chiffre für ihre Praxis des Schreibens – hier: des Anordnens von diversen Partikularitäten und Vielheiten – in einem von ihr erklärten epistemischen Zugriff der „Konfusion“ lesen: „Jemand, der eine gute Naht machen kann, verbindet ansonsten einander fliehende Dinge, indem er sie ein für alle Male, hoffentlich, einander nahebringt, als einander Nächste aneinanderreiht. Ich stelle jetzt keine zwangsneurotischen Ordnungen mehr her, es fließen mir die Dinge durcheinander, und überall sehe ich sie aneinander geraten, sich nähern, ich bin eine Näherin geworden, das war kurioserweise mein erster Berufswunsch, als ich als kleines Mädchen einmal gefragt worden bin, was ich einmal werden möchte.“ (S. 129) Und schließlich, ein paar Seiten später, nimmt dieses epistemische Vernähen existentiale Dimensionen an: „Was geschieht also wirklich, wenn das Denken ‚vorankommt‘? Ganz offenkundig wird doch irgendetwas zusammengeführt, entweder der eine Satz mit dem nächsten oder der Mensch und die Welt. Der Punkt, an dem die Zusammenführung stattfindet, hat von sich aus eine synthetisierende Kraft.“ (S. 138)
Wo das Denken und Schreiben auf diese Art zu einer grundlegenden Erfahrung der Relation zur Welt wird, wird das Lesen des Geschriebenen – und dies hatte ich mir bereits nach den ersten Seiten meiner Lektüre notiert – zu einem ästhetischen und quasi-taktilen Akt. Ein Eindruck, den auch die zahlreichen Abbildungen verstärken, welche von Fotografien der totemistischen Holzskulpturen der Autorinnenkünstlerin über Fotodokumentationen ihrer Performances bis hin zu Reproduktionen ihrer zeichnerisch-grafischen Werke reichen und die Iterationen bzw. Existenzweisen (Latour) ihrer drei Operatoren zeigen mögen. Anlässlich einer Ausstellung im Gartenpalais des Stiftes Melk veröffentlicht, ist das Buch dennoch kein Ausstellungskatalog. Denn einerseits gehen die abgebildeten Arbeiten über jene, die in der niederösterreichischen Gemeinde zu sehen waren, hinaus. Andererseits, und ganz im Sinne meiner ästhetisch-taktilen Leseweise, will sich die Publikation verstanden wissen als kuratorisch-editorisches Experiment, „ein Buch als Ausstellung, in dem die Worte und die Bilder zueinander finden in einer Anordnung, die dem Wort plastische Kräfte zuspielt und dem Bild das absolute Konzept“ (S. 10).
So bleibt mir ob der Fülle der vernähten Worte und Bilder im beschränkten Rahmen einer Rezension nichts anderes übrig, als mich auf die Diskussion einer der drei Operatoren zu beschränken. Zwar liegt dabei der erste Operator, das Mädchen als Dreh- und Angelpunkt der neuen Subjektivierungslinien, nahe. So nimmt es doch auch die meisten Seiten des Buchs ein. Außerdem wird mit seinem Vergleich zum Kykladen-Idol, jene frühgeschichtlichen kultischen Steinfiguren, die auf den griechischen Kykladen-Inseln gefunden wurden, dem eigenen bildhauerischen der Autorin nahegebracht; und damit auch die Skulpturen selbst der Funktion als Subjektivitätsoperator: „In ihrer Eigenschaft als Operator dient die Skulptur […] als Verzweigung, als Relais, das Subjektivität umverteilt, neu arrangiert oder dorthin ausschickt, wo (scheinbar noch) zu wenig davon vorhanden ist.“ (S. 10) Allerdings hat von Samsonow der Figur des Mädchens als subalterne und dennoch, oder gerade deswegen, der Erdmutter Gaia verbundenen Figur, bereits 2007 in einem ihrer Hauptwerke verarbeitet, in Anti-Elektra: Totemismus und Schizogamie (erschienen bei Diaphanes). Diese ideengeschichtliche tour de force reicht von antiker Philosophie über klassische und strukturalistische Psychoanalyse bis hin zu poststrukturalistischer Theoriebildung (die titelgebende Andeutung auf Deleuzes und Guattaris Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie ist Programm) und bringt die Elektra eben nicht als Vater verehrende und ihm untergeordnete Spiegelfigur des Oedipus in Stellung, sondern als „das starke Mädchen […], das zur Königin bestimmt ist (als Nachfolgerin Klytämnestras, trotz allem): die Anti-Elektra“.
Vielmehr also soll hier der Baum als dritter Operator ausgeführt werden, der, wie das Pferd, eine Verbindung des Mädchens zur Erde herstellt und organisiert. Dies hat mehrere Gründe. Der Baum als operatives Zeichen hat außerordentliche symbolische sowie ikonische, vor allem diagrammatische Bedeutungen. Um der klassischen Klassifikation Charles S. Peirces zu folgen: das Diagramm bildet eine Unterkategorie des Ikons, welches sich durch eine Ähnlichkeitsbeziehung zu seinem Objekt (das, worauf das Zeichen verweist) auszeichnet. Während andere ikonische Zeichenkategorien wie das Bild visuelle Ähnlichkeit herstellen, so generiert das Diagramm Strukturähnlichkeit: es zeigt eine Formatierung des Objekts an, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist. Dies ist eine epistemische Leistung, denn ein Diagramm ist in dieser Definition kein Abbild, sondern eine visuelle Hypothese, die als Darstellung über die Struktur des jeweiligen Objekts konstruiert wird und zugleich eine Aussage über diese Struktur macht (Peirce nennt diesen Moment der Erkenntnis in der Hypothesengenerierung „Abduktion“). In ähnlicher Analyse stellt von Samsonow in der Einleitung zum Museum des Anfangs die diagrammatische Kapazität Ihres Bild- und Text-Verhältnisses fest: „Die Diagramme sind Hypothesen zur Anatomie der Sache. Entweder wächst das Leben entlang dieser Strukturen, oder sie werden aus dem Leben herausdestilliert. Sie ordnen die Dinge, die noch nicht vollständig erkannt werden konnten.“ (S. 15)
Soweit lässt sich das mit der Peirce’schen Abduktion parallel setzen. Doch von Samsonow geht über diese semiotische Diagrammatik hinaus, indem sie die projektive Kapazität diagrammatischer Zeichen und Denkweisen hervorhebt, die in die Zukunft gerichtet und Alternativen zu projizieren in der Lage ist. Auch hier scheint eine poststrukturalistische Referenz durch, denn von Samsonows weiterführende Verortung des Diagrammatischen erinnert an jene Deleuzes, der in seiner Studie zu Michel Foucaults Begriffen konstatierte: „Das Diagramm ist grundlegend instabil oder fließend und wirbelt unaufhörlich die Materien und die Funktionen so durcheinander, daß sich unentwegt Veränderungen ergeben.“ (Foucault, Suhrkamp, 1992). Hier erscheint das Zeichen nicht als kognitives Instrumentarium des Gedankenexperiments, sondern als offenes Entwurfsmittel, das den Dynamiken der Assoziation gewachsen ist. In diesem Sinne verweist von Samsonow auch auf „eine Reihe von Diagrammen“, die in ihrem Buch als Ausstellung, in ihrer Ausstellung als Buch auftauchen und dort „der Dynamisierung, der Synthese, dem Fluss der Stoffe und Kräfte, kurz: der Herstellung der Hieroglyphen der Zukunft gewidmet sind.“ (S. 15)
„Diagramm“ erscheint zudem als Lemmata im kurzen „Paradigmatischen Glossar“ im Anhang des Buchs, der gleichermaßen ein hilfreiches Nachschlageverzeichnis sowie ein pragmatischer Zugang zu thematischen Achsen des Buches ist, die zwar beim Lesen von vorne nach hinten immer wieder durchscheinen, im dichten Geflecht der Assoziations- und Argumentationsstränge aber manchmal schwer erkennbar sind. Auch hier wird die projektive Kapazität des Diagramms stark gemacht: „Es hat eine die Anschauung unterstützende Funktion, das Interesse eher ausrichtend als beantwortend.“ (S. 179) Indem es also „den intuitiven Zugang zu komplexen Sachverhalten öffnet“, ist das Diagramm, um in von Samsonows Terminologie zu bleiben, „für die Logik der Konfusion […] von unschätzbarem Wert“ (ibid.).
Nun ist das Baumdiagramm ein sehr mächtiges Diagramm, nicht nur in der sogenannten westlichen Kulturgeschichte. So verbildlicht es etwa die ordnende Logik der Taxonomie, die einem Ursprungsstamm voraussetzt, aus dem sich Entwicklungen in mitunter hierarchischer Ordnung verzweigen. Das hat Konsequenzen für die Validität solcher Diagrammformen, obwohl Diagramme im Allgemeinen (doch selten zutreffend) als neutrale Form von Informationsdarstellung angesehen werden. Der große Wissenschaftsautor Stephen J. Gould hat solch kulturell „vorbelastete“ Darstellungsformen als „canonical icons“ bezeichnet (The Structure of Evolutionary Theory, Belknap Press, 2002): Sie zeigen insbesondere in den Wissenschaften eine visuelle Ordnung und Normativität an, die Objektivität suggerieren, die aber stets kulturell eingebettet sind. Als zentrales Beispiel nennt Gould tatsächlich das Baumdiagramm, und zwar dessen Funktion in der Evolutionsbiologie, wie sie etwa bei Ernst Haeckel in Resonanz mit Charles Darwins Arbeiten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkennbar wird. Bei Haeckel erscheint der Mensch, wortwörtlich, als (Baum-)Krone der Schöpfung. Laut Gould suggeriert dies eine Hierarchie, die durch christliche Ikonologie weiter verstärkt wird, insbesondere durch die Symbolik der Himmelsleiter in Jakobs Traum. Dieser hebräische Bibelmythos, der über Johannes Klimaikos’ Schrift „Treppe zum Paradies“ aus dem 7. Jahrhundert weit verbreitet wurde, stellt den Aufstieg des frommen Christen, ein Streben nach dem Zustand vor dem Sündenfall dar. Laut Gould fallen im phylogenetischen Baum in der Evolutionsbiologie die Figur des Baums und der Leiter zusammen. Denn es ist diese mythologische Bewegung in der Vertikalen, welche Gould den Zustand der Vollkommenheit in der Krone des phylogenetischen Baums verorten lässt – und diesen so dekonstruierbar macht. Hier interveniert sozusagen das Symbol des Baums in die Bedeutung des Ikons bzw. des Diagramms, indem es eine Hierarchie impliziert, die grundlegend anthropozentrisch ist. Übrigens hat keine andere als Lynn Margulis, die oben bereits genannte Mikro- und Evolutionsbiologin, die als Mitbegründerin der Gaia-Hypothese gilt, maßgeblich dazu beigetragen, den hierarchischen Baum Haeckels zu fällen und ihm eine Klassifikationsweise entgegenzusetzen, in der die Äste der Arten und Königreiche nicht mehr säuberlich voneinander getrennt werden können, sondern in der die gleichen Mikroorganismen in vielen Lebewesen die vormals verästelnde Evolution getrennter Arten in eine enge Vernetzung symbiotischer Co-Evolution bringen.
Auf faszinierende Art denkt auch von Samsonow die diagrammatische Konnotation des Baums mit seiner Symbolik zusammen. Denn der Baum wird etwa in der christlichen Mythologie zum Symbol für eine kommunikative Verbindung zwischen Himmel und Erde. Zudem ist er Symbol für die Verschiedenheit (Wurzeln, Äste) in der Einheit (Stamm, Samen) und steht somit ein für das scholastische Diktum von totum und unum: das Ganze des möglichen Wissens, vereint unter einer Kohärenz stiftenden Ordnung (Gott). Von Samsonow breitet das Spektrum der ikonischen und symbolischen, mitunter metaphysischen Ebene des Baums aus, etwa wenn sie den Stamm als „Medium zwischen Unten und Oben“ beschreibt, zwischen Erde und Himmel: „Das erklärt dann schon zu einem gewissen Teil, weshalb der Baum Operator ist […]. Ein raffiniertes Stück Riesenkabel, ein Kanal, dessen Lebendigkeit, solange er nicht den Weg-zurück-zur-Erde geht, also von den Kleinstlebewesen wieder zerlegt und zu Humus wird, unbestreitbar ist.“ (S. 160)
Diese Ausführungen betreffen die Linde, der Baum, welcher das bevorzugte Holz für von Samsonows Skulpturen liefert. Sie sind Teil des letzten Abschnitts des Buchs, in der eine Erfahrung der Autorin zu Beginn der 1990er Jahre ausgeführt wird, die einen starken Eindruck bei den Lesenden hinterlässt. Ende Februar 1990 entwurzelte ein Sturm im Landkreis Altötting in Niederbayern eine sehr alte, mächtige Linde. Von Samsonow, so ihre biographische Erzählung, besuchte dieses gefallene, uralte Lebewesen und erwarb schließlich sein zerstückeltes Holz von dem Bauern, auf dessen Grundstück der Baum gestanden hatte. Ursprünglich als Gabe bzw. Material für befreundete Bildhauerinnen gedacht, weckte der Baum in ihr bald die eigene Identität als Bildhauerin. Aus der Fülle des Materials, das dem riesigen Baum abgewonnen werden konnte, entstanden über einem Zeitraum von 20 Jahren etwa 120 Holzskulpturen der Künstlerin. Diese ergreifende biographische Erzählung führt die Lesenden wieder zurück zur These der Funktion des Baums als Operator, welche, so lesen wir abschließend, aus dieser prägenden Erfahrung für das Künstlerinnen-Subjekt hervorgegangen ist: „Diese Linde […] wirkte als Operator, und sie organisierte die Verteilung von Subjektivität stetig und effektiv, immer vom selben Ort aus. Dazu bedurfte es nicht einmal meiner Person, denn die Linde hatte zuvor bereits über das Intranet ihrer Pilz-Wurzel-Metabolismen alles gekabelt, das wissenswert war […]. Als sie umfiel, riss sie ihre Wurzeln aus dem Boden, erstaunlich, wie flach sie in dem steinigen Untergrund gewurzelt hatte.“ (S. 173) Trotz des starken Stammes, der uns auch von Samsonows Vorschlag einer Neuverteilung von Subjektivität bietet, bleiben dessen assoziativen Argumentationsketten ein feines, fragiles Wurzelgeflecht, anfällig für die stürmischen Umwälzungen anthropogener Eingriffe und der machtvollen Hierarchien anthropozentrischer Wissensordnungen. Doch der Text stellt damit als ästhetische Erfahrung genau das dar, was er aussagt, nämlich eine neue Form von Subjektivität, die statt neuer Universalismen eine fragile, stets weiter wuchernde und sich immer wieder neu definierende Beziehung zur gemeinsamen Erde herstellt.
Titel: Museum des Anfangs. Mädchen – Pferd – Baum
Autorin: Elisabeth von Samsonow
Verlag: Sonderzahl Wien
184 Seiten, farbige Abbildungen
ISBN 978-3-85449-638-0
28,00 €.
Das „Museum des Anfangs“ beruht auf der gleichnamigen Ausstellung vom Oktober 2022 im Stift Melk / Niederösterreich