Meldungen zum Kunstgeschehen

Entbilderte Kirchen

Was verbindet die Bilderfeindlichkeit des Protestantismus mit zeitgenössischer Kunst? Warum dienen heute leergeräumte Kirchen als Ausstellungsflächen für alle überhaupt nur denkbaren künstlerischen Konzepte? Stefan Diebitz wundert sich.

Die Kirche St. Petri in Lübeck ohne Installation © Foto: Stefan Diebitz Die weißen Wände des Seitenschiffs im Lübecker Dom © Foto: Stefan Diebitz Die strahlend weißen Wände der Kirche St. Petri mit Resten der ursprünglichen Bemalung © Fotos: Stefan Diebitz Portal St. Petris strahlendes Weiß © Foto: Stefan Diebitz
8 Abbildungen. Klicken für eine größere Darstellung

Es gibt sicherlich sehr viele gute Gründe, warum Kunstausstellungen nicht nur in Museen stattfinden, sondern auch oder sogar bevorzugt an Orten, die niemals dafür gedacht waren. Meist bieten diese Plätze eine enorme Fläche, sind also ideal für großformatige Gemälde, auch sind es oft pittoreske Ruinen, und überhaupt – sie stehen ungenutzt herum. Alte Fabrikhallen, stillgelegte Bahnhöfe, ehemalige Kaufhäuser sind immer willkommen. Aber Kirchen? Schon in der Sowjetunion wurden sie in Museen verwandelt, aber das war ein religions- und kirchenfeindlicher Akt, ausgeführt von erklärten Atheisten. Heute dagegen werden Kirchen von der Kirche selbst zur Verfügung gestellt, um dort Kunstausstellungen aller Art stattfinden zu lassen; und um religiöse Kunst handelt es sich dabei so gut wie nie.

Gibt es etwas, das den Kulturbegriff des Protestantismus, so es ihn gibt, mit zeitgenössischen Konzepten verbindet, oder handelt es sich um eine ganz oberflächliche Verbindung? Immerhin ist es doch so, dass eine Kunstausstellung in einer intakten alten Kirche nur stören würde – schon deshalb, weil es in ihr an Kunstobjekten nur so wimmelt, von Altar und Kreuz über Grabmäler und Gedenktafeln bis hin zu Fresken, Gemälden und Plastiken. Selbstverständlich kann man auch Neues und Zeitgenössisches hinzufügen, aber doch nur dann, wenn es sich einpasst. So sind es Einzelstücke, und sie sind nur in zweiter Linie Kunstwerke – zunächst dienen sie dem Gottesdienst. Das gilt selbst – oder besonders – für Kunstwerke höchsten Ranges, zum Beispiel für Plastiken von Ernst Barlach. Im Güstrower Dom ist »Der Schwebende« für viele sicherlich das Hauptmotiv ihres Besuchs, aber er ist seit 1927 ein integraler Teil der Kirche – bezeichnenderweise, weil er an die Toten erinnert (nämlich an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges).

In Lübeck steht St. Petri. In ihr findet sich weder Gestühl noch Altar, und es gibt keine Bilder an den Wänden; nur ein alter Taufstein und ein Kreuz erinnern noch an ihre ursprüngliche Funktion. Dazu ein schlichtes Mahnmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges. 1942 in einem Feuersturm ausgeglüht, ist das Innere von St. Petri heute ein riesiger lichter Raum, und von ganz wenigen Farbresten im Gewölbe abgesehen, sind die Wände kalkweiß. Mit dem Verschwinden aller Kunstwerke verwandelte sich der Bau, der die Kulturgeschichte mehrerer Jahrhunderte in sich vereinigte, in ein ahistorisches Nichts. Und mit der Kunst verschwand auch die Religion (oder mit der Religion die Kunst?), aber trotz allem ist es aber immer noch eine Kirche, die allerdings als Kulturkirche dient. Man kann in ihr nächtlichen Vorträgen lauschen oder Konzerte besuchen, und mehrmals im Jahr wird sie mit allerlei Krimskrams vollgestellt, der sich bei näherem Hinsehen als künstlerische Installation entpuppt. Der Raum, so heißt das heute, wird »bespielt«, als handle es sich um eine Theaterbühne.

Zuletzt gab es vom 30. Juli bis zum 27. August einen »Double Act«, also eine gemeinsame Ausstellung zweier Künstler, des Dänen Peter Land und des Deutschen Hans Petri, und Oliver Zybok als Direktor der Overbeck-Gesellschaft bemühte sich darum, die Arbeiten dieser Künstler in einen pädagogischen Kontext einzubetten. Man könne mit ihrer Hilfe etwas über die Bedeutung von Bildern, aber auch über ihren Missbrauch lernen. Beispielsweise drapierte Hans Petri seine »Körperfotografien« um das Weltkriegs-Mahnmal herum, Farbfotos, die er ausweislich des Programms teils jahrelang in seinen Taschen mit sich herumtrug. Natürlich, es konnte ihnen nicht gut bekommen, aber die Spuren dieses Herumtragens waren nicht allein erwünscht, sondern sogar Gegenstand ihrer Darbietung. Ausgestellt wurde damit etwas, das sich seinen Sinn von außerhalb holte – die Bilder waren nicht aus sich selbst heraus verständlich, sondern man musste die Weise ihrer Entstehung kennen, um ihre künstlerische Bedeutung würdigen zu können.

»Künstler wie Peter Land und Hans Petri«, lesen wir auf einem Flyer, »beschäftigen sich ganz allgemein mit den Erwartungen, Enttäuschungen und Potenzialen zwischen privatem und öffentlichem Bild und zeigen neue Perspektiven der Verbindung von Kunst und Leben in einer mediendominierten Zeit auf.« Die Installation, erläutert Zybok, konfrontiert den Besucher damit, dass ein »Verstehen der Bilder […] nur durch die Aneignung eines Wissens um gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge möglich« ist, wobei diese Zusammenhänge, wie man eben gesehen hat, rein privater Natur zu sein scheinen. Wie immer, ein solches Verstehen, so lesen wir und fühlen uns auf unserem Bildungsweg weitergekommen, »geht weit über den raschen Bildkonsum hinaus – und braucht vor allem Zeit.«

Besucher, deren durchschnittliches Alter deutlich über der Pensionsgrenze liegt und die sich höchstwahrscheinlich dem Bildungsbürgertum zurechnen, lauschen ergriffen derartigen Klippschulweisheiten.

Ist es nicht eigenartig, dass Ausstellungsmacher und Künstler sich heute ganz generell in der Belehrung des Publikums versuchen? Seit den fünfziger Jahren zieht die Kunst einen Wust von prachtvoller Rhetorik und dampfplaudernder Philosophie wie eine Schleppe hinter sich her. Das eine scheint auf das andere angewiesen: wenn wir beim Anschauen der Installation nicht von allein darauf kommen, warum muss uns dann jemand auf das Potenzial »zwischen privatem und öffentlichem Bild« aufmerksam machen? Was soll das überhaupt sein? Wer kommentiert uns den Kommentar?

So verstörend das alles auch sein mag, hier soll es allein darum gehen, dass uns teils schlichte Weisheiten, teils unverständliche Erläuterungen in einer radikal entbilderten Kirche begegnen. Ist es vielleicht erst ihre Leere, die es erlaubt, sie in eine Mischung aus Grundschule (für die Besucher) und Spielwiese (für die Künstler) zu verwandeln?

Worin unterscheidet sich die europäische Kultur von anderen Kulturkreisen, zum Beispiel von dem arabischen oder dem jüdischen? Doch nicht zuletzt durch die eminent bedeutende Rolle, die das Bild in ihr spielt. Selbst das Denken von Atheisten ist ganz und gar von christlichen Bildern durchtränkt, und es ist ganz gewiss nicht allein das Kreuz, obgleich das Kreuz als Ausdruck des Schmerzes und der Leiden wohl immer noch an erster Stelle steht. Neben dem Engel ist ein anderes eindrucksvolles, tief in uns allen verankertes Bild das einer um ihren Sohn trauernden Mutter, wie es auf vielen Friedhöfen zu finden ist. Oder man denke an den Gehörnten: Dessen Gesicht kennt ja wohl jeder, und seine Füße sowieso. Dazu kommt eine ganze Reihe der verschiedensten, früher allen, heute nur noch wenigen Europäern spontan verständlichen Symbole.

Es sind drei verschiedene Probleme, die hier auftauchen. Erstens die (bloß protestantische?) Bilderfeindlichkeit, die sich in dem unerträglichen Weiß der Wände ausdrückt und zunächst nur ein ästhetisches Problem darstellt; sodann die Drückebergerei vor etwas Neuem, wahrscheinlich, weil man sich selbst insgeheim schon längst die Impotenz und Hohlheit seiner eigenen Zeit eingestanden hat; und endlich die Abkehr von allem Christlichen – selbst bei den Vertretern der Kirche. Diesen letzten Aspekt zu diskutieren, wollen wir uns an dieser Stelle allerdings sparen.

Ein ganz und gar weißer Raum wäre für uns unerträglich, denn wir wären in ihm schneeblind! Leider hat man sich mit Hilfe aufgespannter weißer Tücher diesem Ideal einer weißen Hölle schon ziemlich weit angenähert, und St. Petri wie auch der riesige, geradezu unfassbar schöne Chor des Lübecker Doms sind heute nichts als der Ausdruck eines koloristischen Nihilismus. Ihr Weiß ist die Widerlegung der Behauptung, dass es um »gesellschaftliche und geschichtliche Zusammenhänge« geht – eben diese werden ja mit der Negation der Farbe und aller Bilder ausgeblendet, um den Raum zu einer bloßen Bühne zu degradieren.

Immerhin, St. Petri ist nur fast ganz weiß, nicht wirklich ganz und gar, denn man kann noch einige Natur- und Backsteine sehen, und dazu finden sich noch Reste der ursprünglichen Bemalung, zum Beispiel auf den Pfeilern und im Gewölbe, so dass man, wenn man nur wollte, die Kirche auch dank alter Fotos wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzen könnte. Und neben den Gewölben und Pfeilern gibt es auch noch die Fenster, die uns anschreien, weil sie so gerne den leeren Raum mit Farbe fluten würden. Warum also tut man nicht ihnen und uns den Gefallen und ersetzt das durchsichtige Fensterglas? Warum erneuert man nicht wenigstens die dekorativen Elemente auf den Rippen der Gewölbe? Weil es, wenn man die alte Farbgebung erneuerte, nur die entsprechenden Farben, aber nicht die originalen Farbpartikel wären, die das museale Denken unserer Zeit zwingend verlangt? Immerhin käme der Gesamteindruck doch dem des ursprünglichen Kirchenbaus nahe. Oder geschieht deshalb nichts, weil man die schiere Architektur wirken sehen möchte?

Natürlich könnte man sich auch für eine andere Farbgebung entscheiden, die sich vom Original absetzt; und man könnte (horribile dictu!) sogar ins Auge fassen, andere Ornamente zu nehmen oder, noch besser, zu entwerfen, Motive, die eher in unsere Zeit passen, weil sie unserer Gegenwart entnommen und mit unseren Erfahrungen verbunden sind. Ist ein selbstständiges bildliches Denken eigentlich verboten? Frühere Epochen haben das doch auch getan; seit der Romanik, in welcher der Dom sich mächtig lagerte, und der Gotik, in der St. Petri emporwuchs, hat jede Kunstepoche ihre Spuren hinterlassen – es sind diese Spuren, die alte Kirchen so lebendig machen und wegen denen auch atheistische Kunstfreunde sie besuchen. Wir finden Renaissance, Barock, Rokoko, Klassizismus, Biedermeier und so weiter, und wir sind zwar nicht über alles gleichermaßen glücklich, aber wir akzeptieren eigentlich alles.

Wenn man die Grate der Pfeiler und Gewölbe von St. Petri so schmücken würde, wie man das früher getan hat, wären die Strukturen des Gebäudes sofort wieder zu erkennen. Damit wären wir zwar immer noch auf der Ebene des Ästhetischen und Ornamentalen, aber selbst bei einer zurückhaltenden Farbgebung kehrte die Schönheit in diese Kirche zurück. Das wäre immerhin ein Anfang.

Heute hängen in St. Petri Tücher von der Decke – selbstredend weiße. Vielleicht hängen sie dort und in dem riesigen Chor des Doms, um die Akustik zu verbessern, aber man könnte das ja auch mit farbigen Tüchern erreichen. Mit blauen zum Beispiel. Und wer das nun völlig absurd findet, der sollte einmal Hans Sedlmayrs klassische Untersuchung über »Die Entstehung der Kathedrale« studieren, in der man einiges über Symbolisierungen des Himmels in gotischen Kirchen findet.

Was ist mit den riesigen Flächen der nackten Wände? Auch sie wünscht man sich belebt. Entweder Skulpturen oder Bilder – vielleicht Ölgemälde, vielleicht Fresken, und sie sollten Menschen in ihrem Leiden, in ihrer Kreatürlichkeit, in ihren Hoffnungen wie Ängsten vor uns hinstellen. Eben darum muss es gehen – besonders in einer Kirche. Es ist ja kein Zufall, dass viele der beeindruckendsten Kunstwerke in Kirchen dem Andenken an die Verstorbenen gewidmet sind. In Lübeck gilt das besonders für den Dom.

Schon in der Weimarer Republik wurde dieselbe Diskussion geführt. Der legendäre Museumsdirektor Carl Georg Heise (1890 – 1979), nach dem Krieg Direktor der Hamburger Kunsthalle, setzte sich in seiner Lübecker Zeit Ende der zwanziger Jahre gegen breiten Widerstand dafür ein, die bis dahin gänzlich schmucklose Fassade der Franziskanerkirche St. Katharinen mit Skulpturen zu besetzen, die eben das darstellen, was ich oben angesprochen habe: Sie stellen Menschen in ihrem Leiden und in ihrer Kreatürlichkeit dar. Bereits die Titel der Plastiken machen das deutlich: »Frau im Wind«, »Schmerzensmann«, »Bettler«.

Die Geschichte dieser Skulpturen ist viel komplizierter als hier angedeutet, denn sie sollten erst 1949 endgültig ihren Platz an der Außenfassade finden, und Heise hatte eigentlich auch noch einen anderen Platz in der Kirche favorisiert; aber das Wesentliche an dem Projekt, das, worauf es in diesem Zusammenhang ankommt, ist, dass sich zwei große Künstler fanden, die ihre sehr selbstständigen und sehr zeitgemäßen Arbeiten für einen gotischen Sakralbau schufen. Etwas Entsprechendes sollte auch für St. Petri oder für den Chor des Doms ins Auge gefasst werden.

Heise betreute mit diesem Projekt Ernst Barlach und Gerhard Marcks, und das Ergebnis beeindruckt bis heute. Das Ensemble der auf den Blick von der anderen Straßenseite berechneten Figuren gehört zu den Stationen, die jede Stadtführung anlaufen muss, denn es ist schlicht eines der bedeutendsten Kunstwerke der Stadt.

Zurück zu St. Petri und Dom. Was ist mit ihren Fenstern? Es gab und gibt wohl immer noch Künstler, die Kirchenfenster zu gestalten wissen; Marc Chagall war nicht der einzige oder letzte. Warum wird über eine Neugestaltung der Fenster nicht einmal nachgedacht?

Eine Ausstellung wie jene von Thomas Zipp, der in St. Petri von Februar bis April unter dem Titel »White Rabbit (Martin Luther)« Gestrüpp, Müll und irgendwelche Raketenköpfe ablud, vorgeblich, um damit der Reformation und Luthers Thesenanschlag zu gedenken, war jedenfalls peinlich und überhaupt gänzlich inakzeptabel. Mir fielen angesichts der Zippschen Installation Gehlens Bemerkungen über »die Neo-Dada-Kunst, die Müll- und Gerümpel-Idelogie« ein – seine sarkastischen Kommentare klangen mir in den Ohren, als ich mir diese Sachen anschaute, die weder mit der mittelalterlichen Kirche noch mit Martin Luther auch nur das geringste zu tun hatten. Als Außenstehender kann man sich nicht die Frage verkneifen, warum so etwas in einer Kirche stattfinden darf.

Ist es nicht ohnehin unverschämt, einen Haufen Zeugs abzulegen und es dann dem Betrachter zu überlassen, einen roten Faden oder einen Gedanken oder vielleicht gar ein richtiges Konzept zu finden oder zu erfinden oder sich auszudenken? Jaja, alles ist vernetzt… Man legt die disparatesten Sachen nebeneinander ab und überlässt es dem Besucher, Fäden zwischen ihnen zu ziehen und so etwas wie ein Netz zu knüpfen. Derartige Installationen sind ein Appell an die willkürliche und ganz und gar beliebige Assoziationsfähigkeit des Menschen, nicht an seinen Verstand. Die Banalität vieler Installationen, nicht allein der Zippschen, ist geradezu atemberaubend, und ihre ärmlichen Gedanken zu erahnen oder zusammenzuflicken nicht meine bevorzugte Wochenendbeschäftigung.

Wie auch immer man dergleichen bewerten mag, eine Kirche ist keinesfalls eine Schachtel, die Ausstellungsflächen zur Verfügung stellt, niemals ein neutraler Ort, eine Bühne, die mal dieser bespielt, mal jener, sondern ein heiliger Ort. Also immer noch eine Kirche. »At least a church«, sprach Peter Land am 30. Juli, als »Double Act« eröffnet wurde, das Selbstverständliche aus. Und: Weder der Dom noch St. Petri ist ein Monument, an dem etwas zu verändern strikt verboten ist. Nein, es sind Gebäude, die nur dann zum Leben erwachen, wenn man sie als einen Teil unserer Gegenwart ansieht. Man muss also beides tun: Man muss ihnen als mittelalterlichen Orten der Religiösität den schuldigen Respekt zollen, indem man ihre Themen und Motive aufnimmt; aber man muss sie in unsere Zeit holen.

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns