Ausstellungsbesprechungen

Entfesselte Natur. Das Bild der Katastrophe seit 1600. Hamburger Kunsthalle, bis 14. Oktober 2018

Ist die Katastrophe das Thema unserer Zeit? Die Hamburger Kunsthalle widmet ihr in diesem Sommer eine große Ausstellung mit 201 Exponaten von 101 Künstlern in gleich zwölf Sälen. Stefan Diebitz ist nach Hamburg gefahren.

Die heutige Bedeutung des Wortes »Katastrophe« – großes Unglück – spielte lange Zeit im normalen Sprachgebrauch überhaupt keine Rolle. Vielmehr wird Katastrophe noch in meinem Fremdwörterbuch von 1896 definiert als »Wende- oder Entscheidungspunkt, z. B. in einer Erzählung; in einem Drama diejenige Handlung oder dasjenige Ereignis, durch welche das fernere Schicksal der Hauptpersonen zum Glücke oder Unglücke gewidmet wird«. Katastrophe war also vor allem ein Begriff der Novellen- oder Dramentheorie, heute dagegen ist die Katastrophe immer mit der Vorstellung schrecklichen Geschehens und meist auch mit einem Bild verbunden – für den Untergang der Titanic wie für das Waldsterben oder den Terrorismus. Bereits aus dieser Bildhaftigkeit resultiert die Berechtigung einer solchen Ausstellung in einer Kunsthalle. Und über ihre traurige Aktualität braucht man kein Wort zu verlieren.

Selbst Katastrophen haben ihre Konjunktur, und im Lauf der letzten Jahrhunderte hat sich nicht allein die Wortbedeutung geändert, sondern auch oder sogar vor allem die Art der Katastrophen, was das erstaunliche, vielleicht sogar etwas übertriebene Ausmaß dieser Ausstellung mehr als deutlich macht. Sicher, heute brechen Vulkane nicht anders aus als im 18. Jahrhundert, aber wir erleben Katastrophen ganz anders, und sie wurden und werden auch anders dargestellt. Das wird gleich im ersten Raum deutlich, in dem es um die Sintflut und um den Brand Trojas geht – also um Ereignisse, die man sich als einen Einbruch von außen vorstellte, und so kann man auf einem Bild das Trojanische Pferd sehen, mit dem sich das Unglück in die Stadt schlich.

Interessanter aber scheint die Sintflut. Während die Künstler des 16. und 17. Jahrhunderts das Gesamtgeschehen nicht ohne einen strafenden Gott schildern, der auf die Welt niederblickt, werden die Protagonisten des 18. und 19. isoliert dargestellt, häufig ohne die Arche im Hintergrund und meist auch ohne einen Gott. Also ein Geschehen innerhalb der Welt. Ihr vielleicht vorläufiges Ziel hat diese Entwicklung bereits auf einem Gemälde Théodor Géricaults (1791 – 1824) erreicht. Hier gerät die furchtbare Leere der Meereslandschaft, die sich unter einem schwarzen, nur über dem Horizont gelb leuchtenden Himmel erstreckt, zum eigentlichen Thema des Bildes. Sollte man an der Darstellung der Sintflut den Prozess der Säkularisierung ablesen können?

Ein weiteres Kapitel zeigt Gemälde wie Stiche, die als Dokumentation gedacht waren und auch bis heute als solche funktionieren; Beispiele dafür sind unter anderem der explodierende Pulverturm von Delft (um 1654) in seiner Darstellung durch Egbert Lievensz van der Poel (1621 – 1664), der die von der Explosion zerrissene Silhouette seiner Stadt vorher und nachher genau erfasste, oder ein gewaltiger Deichbruch, dessen verschiedene Stadien Jan Asselijn (1610 – 1652) in düsteren Ölgemälden schilderte. Ähnlich funktionieren Bilder, die Schäden durch Eisgang oder Brand oder die Folgen des Erdbebens von 1755 schildern, das Lissabon zerstört hatte. Dabei ist ein Aspekt interessant, auf den sowohl die Kuratoren der Ausstellung wie auch die Autoren des Kataloges aufmerksam machen. Die Katastrophe erscheint nämlich als ein Moment eines Prozesses, und das ihr gewidmete Bild begnügt sich nicht damit, die Zerstörung zu zeigen, sondern deutet die Vorgeschichte an und lässt gelegentlich sogar die Zukunft aufscheinen, wenn in einem Gemälde nicht allein die Ruinen, sondern auch noch gar nicht erstellte Neubauten zu sehen sind. Also doch: die Katastrophe als ein Wendepunkt. Oder als ein Durchgang.

Vielleicht die spektakulärsten Bilder sind in Hamburg den Vulkanen und Feuersbrünsten gewidmet, und ganze Räume der Ausstellung leuchten in einem glühenden Rot. Besonders am Ende des 18. Jahrhunderts waren Vulkane ein beliebtes Thema in der Malerei, und gleichzeitig erschienen sie in der Dichtung als Metapher und Symbol. Teils, weil die Ausgrabungen bei Pompeji die tödliche Gewalt eines Ausbruchs vor Augen führten, teils, weil der Streit zwischen Neptunisten und Vulkanisten tobte, teils wegen der französischen Revolution, die ja selbst etwas Vulkanisches an sich hatte, und endlich (und ganz gewiss!), weil sich so schön spektakuläre Bilder malen ließen.

In seiner »Kritik der Urteilskraft« beschreibt Immanuel Kant den eigenartigen, zwischen Faszination und Schrecken spielenden Reiz, den eine übermächtige Natur auf den Betrachter ausübt, und hat die Sujets dieser Ausstellung am Schnürchen: »am Himmel sich aufthürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulcane in ihrer ganzen zerstörerischen Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der gränzenlose Ozean, in Empörung gesetzt, […]. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden«.

Kant konnte dessen Bilder noch nicht kennen, sonst hätte er vielleicht auf die spektakulären Gemälde John Martins (1789 – 1854) verwiesen, um seine Argumentation anschaulich zu machen. Die großformatigen Farborgien des englischen Meisters verzückten das Publikum und zogen es in Massen an: es reichte tatsächlich aus, ein einziges Bild auszustellen, um Zuschauer anzulocken. In Hamburg kann man sich anschauen, wie sich Martin »Die Zerstörung von Herculaneum und Pompeji« vorstellte – man hat einen Blick wie aus einer Höhle heraus, weil die Wolken einem schwarzen Regenbogen gleich über dem Land stehen. So befindet sich der Museumsbesucher in gleich doppelter Hinsicht in Sicherheit: er steht ja vor dem Bild, aber wäre er in ihm, dann stünde er unter dem Schutz einer Höhle. Bedeutet das gewaltige Rot also das Inferno oder eine Ästhetisierung des Schreckens?

Ein weiteres wichtiges Thema der Ausstellung sind Schiffsuntergänge. Meist blickt man auf ein sich durch die tobende Brandung zur Küste durchkämpfendes Rettungsboot, während am Strand Menschen hilflos die Hände ringen, und wenn man eine ganze Reihe dieser fast immer nächtlichen Bilder gesehen hat, ist man empfänglich für das Neue, ja Revolutionäre und Gewaltige, das Caspar David Friedrichs »Eismeer« darstellt. Hier heult nicht der Sturm, hier brandet kein Meer, hier kämpft niemand mehr um sein Leben – von dem Schiff ist allein noch das Heck zu sehen, denn die Eisschollen haben sich schon fast zur Gänze über es geschoben. »Der Rest ist Schweigen«, möchte man mit Hamlet sagen, und es ist ein unheimliches und bedrückendes Schweigen, das sich in ähnlicher Weise wie das Sintflutgemälde Géricaults jeder Frage nach einem Sinn verweigert. In dieser schrecklichen Stummheit, nicht in einem dramatischen Moment, spricht das Bild zu uns, und man hätte es ganz gut in das letzte Kapitel von Ausstellung und Katalog nehmen können, das »Endzeit« überschrieben ist und außer einem Bild John Martins, »Der letzte Mensch« genannt, nur noch ein Video Christoph Draegers enthält.

Das vielleicht theatralischste der Schiffsuntergangsbilder – in Abwesenheit von Théodor Géricaults »Das Floß der Medusa« – ist Eugène Isabeys (1803 - 1886) »Der Schiffbruch des Dreimasters Emily im Jahre 1823«, das uns einen besonders dramatischen Moment vor Augen führt; das Schiff hat sich in der tobenden See auf die Seite gedreht, und die Mannschaft versucht nun verzweifelt, auf dem von Gischt und den gewaltigen Wogen umschäumten Rumpf seinen Halt zu finden. Der Maler dieses Riesengemäldes war mehr als ein Könner, er war ein Virtuose – sein Bild mag etwas effekthascherisch sein, aber es ist eben unglaublich gekonnt. Sein ähnlich dramatisches »Der Schiffbruch der Austria« zeigt noch zusätzlich Flammen. Es geht dabei um ein Ereignis, das 1858 weltweit Aufsehen erregte (und heute fast vollständig vergessen ist…): ein hoffnungslos überbelegtes europäisches Auswandererschiff brannte mitten im Hafen von New York aus, nachdem es in Folge von Desinfektionsmaßnahmen in Brand geraten war. »Von den 545 an Bord befindlichen Passagieren und Besatzungsmitgliedern«, schreibt Markus Bertsch im Katalog, »überlebten lediglich 89 die Katastrophe.«

»Das Floß der Medusa« hängt nicht in dieser Ausstellung, aber es spielt dennoch eine wichtige Rolle, denn es werden mehrere Arbeiten der letzten Jahre gezeigt, die auf es Bezug nehmen. Dazu zählen Zeichnungen Martin Kippenbergers, aber dem Besucher im Gedächtnis bleiben wird schon wegen seiner erstaunlichen Größe ein anderes Bild. Christian Jankovski nahm das Foto eines lebenden Bildes – eine französische Schulklasse hatte das gewaltige Werk Géricaults nachgestellt –, schickte es nach China, damit es dort von offenbar recht geschickten, aber viel weniger bedeutenden und deshalb namenlosen Kunstmalern auf eine Leinwand gebracht werde, und voilá!, schon kam man selbst ins Museum. Bertsch schreibt im Katalog, das Bild sei auf diese Weise »seiner existentiellen Schwere beraubt« worden, und das stimmt wahrscheinlich, aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Gewinn sein kann. Die Nachstellung durch die Schüler hat für mich etwas Unernstes und Oberflächliches, fast Albernes.

Der Katalog enthält nicht allein Abbildungen und sorgfältige Beschreibungen sämtlicher Exponate, sondern zusätzlich noch zehn substantielle Abhandlungen, die aber trotzdem das gesamte Spektrum des Themas nicht abdecken können, so wichtig und umfassend ist es. Nach einem einführenden Essay von Jörg Trempler, neben Bertsch der zweite Kurator der Ausstellung, werden die einzelnen Kapitel der Ausstellung besprochen; außer der Vulkan- und Schiffsuntergangsthematik sind das besonders die Brände von London (1666) und Hamburg (1842). Mit dem zeitgenössischen Katastrophenbild beschäftigt sich ein Aufsatz von Ann-Kathrin Hubbrich. Im Grunde aber schreit alles nach einer interdisziplinären Behandlung des Themas, zu dem besonders Literatur- und Mentalitätshistoriker einiges zu sagen haben werden.

Die Ausstellung hat ihre Exponate mehr als vier Jahrhunderten entnommen, aber imponiert keineswegs allein durch die schiere Menge der Bilder und die Fülle der Perspektiven auf ein wichtiges Thema, sondern zusätzlich durch die Klarheit ihrer Gliederung. In durchdachter Form präsentiert sie ein Thema, das nach weiterer Vertiefung verlangt.

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