Meldungen zum Kunstgeschehen, Ausstellungsbesprechungen

Ernst Ludwig Kirchner – Drei Akte im Walde, Wilhelm-Hack-Museum, Ludwigshafen am Rhein, bis 24. Mai 2010, Ernst Ludwig Kirchner – Erlebnis der Berge, Galerie Stihl Waiblingen, bis 13. Juni 2010, Ernst Ludwig Kirchner – Retrospektive, Städel Museum, Frankf

Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938), Gründungsmitglied der Künstlervereinigung "Brücke" und einer der bedeutendsten Künstler des Expressionismus, hatte prägenden Einfluss auf die Kunst der klassischen Moderne. Günter Baumann hat sich für PKG näher mit seiner Person und einigen Ausstellungen befasst.

»Dass meine Arbeit jetzt bekannter wird, ist ein glücklicher Zufall, Wert oder Unwert wird damit nicht festgestellt«, schrieb Ernst Ludwig Kirchner 1919 an Helene Spengler. Er hätte sehr gestaunt über die museale Präsenz, die er zurzeit in Deutschland genießt, die von der Retrospektive im Städel bis hin zur vergrößerten Werkbetrachtung, wie der im Wilhelm-Hack-Museum – man könnte noch wichtige Ausstellungsbeteiligungen hinzunehmen wie die Salzburger Brücke-Schau oder die Stuttgarter Vorstellung der Sammlung Max Fischer, deren Kirchner-Anteil beachtlich ist und daher gut zur parallel stattfindenden Kirchnerschau im nahe gelegenen Waiblingen passt. Ob es sinnvoll ist, das aktuelle Thema Kindsmissbrauch mit in die Betrachtung des Kirchner-Werks mit hineinzunehmen, wie es das Kunstmagazin »art« getan hat, sei dahingestellt (die Querverbindungen scheinen auch fraglich zu sein); es wirft vielleicht einen Schatten auf die fragwürdige Person Kirchners, sein Werk bleibt davon (hoffentlich) unberührt.

Das Wilhelm-Hack-Museum hat schon mit seiner »hackordnung«, die sich auf die Neupräsentation der eigenen Sammlung bezieht, Sprachwitz bewiesen; nun kommt eine Reihe der »Hackstücke« hinzu, die den Fokus auf einzelne Arbeiten legt: im Falle Kirchner sind es die »Drei Akte im Walde«, ein Werk von 1934/35. Das ist insofern bemerkenswert, da Kirchner durchaus über den expressionistischen Tellerrand hinausschauen konnte und im Spätwerk eine ganz andere Seite von sich preisgab – unverkennbar sind etwa die Bezüge zu Picasso, sowohl was das Thema als auch die abstrakt-fiktionale Auffassung des Menschenbilds angeht. Das Bild steht am Ende einer langen künstlerischen Auseinandersetzung, die sich in Grafiken, Gemälden, Zeichnungen und Fotos dokumentieren lässt. Wer die Ausstellung verpasst hat, darf sich nur halbwegs grämen, denn begleitend ist ein handlicher Katalog im Kerber Verlag erschienen, der zum Besten gehört, was man sich zu einer Bildmonographie vorstellen kann. Wohl kann man den Blick auf das Original nicht ersetzen, doch hat man hier die Möglichkeit, die Werkumgebung von Kirchners Aktgruppe inklusive restauratorischer Hintergründe zu ergründen. Es ist zu hoffen, dass diese »Hackstücke« genug Puste, sprich Sponsoren haben, um sich zu vermehren.

Einen weiteren Einblick in Kirchners Werk bietet die Themenausstellung in der Waiblinger Galerie Stihl: Zu sehen sind Papierarbeiten des autodidaktischen Malers – Aquarelle, Fotografien, Holzschnitte, Kreidearbeiten, Lithografien, Radierungen, Bleistift- und Pinselzeichnungen – , die sich auf die Davoser Zeit konzentrieren, was freilich nicht verwundert: kommen sie doch aus dem Kirchnermuseum in Davos, ein Glücksfall, denn das Haus ist nicht nur das einzige Museum, das sich exklusiv diesem Expressionisten widmet, sondern es hat auch so viel Zugkraft, dass das »Erlebnis der Berge« noch um wichtige Arbeiten u.a. aus Berlin, Biberach und Bern ergänzt werden konnte. So wird das Thema in den Facetten Akt und Tanz, Bergwald und Bergleben, Nahsicht und Panorama sowie Porträts umfassend behandelt. Davos war nicht nur eine Station auf dem Lebensweg, es war eine Weichenstellung, die den vom Ersten Weltkrieg psychisch schwer angeschlagenen Künstler wieder auf eine rechte Bahn brachte. »Ich bin so froh und glücklich hier zu sein und zu bleiben. Hier kann ich wenigstens in den guten Tagen etwas arbeiten und ruhig unter diesen einfachen und guten Menschen sein. Ich habe mir hier in der Einsamkeit den Weg erkämpft, der mir eine Fortexistenz bei diesen Leiden ermöglicht. Meine Zeiten des Zirkus, der Kokotten und der Gesellschaft sind vorbei«. Diese unbeschwerten Tage waren trügerisch, fiel Kirchner letztlich doch wieder in seine Abhängigkeiten und Depressionen zurück, die ihn zum Selbstmord trieben. Umso eindringlicher ist der Komplex einer fast idyllischen Bergwelt, die dennoch nichts von romantischer Verklärung oder kitschigem Alpenglück hat, sondern die Sicht eines gezeichneten, gestrandeten Städters auf die rauhe Alpennatur und das bäuerliche Leben vermittelt – ein einzigartiges Erlebnis.

Ernst Ludwig Kirchner ist kein unbeschriebenes Blatt, wirkliche Entdeckungen sind hier nicht mehr zu erwarten. Und doch kann man mit einzelnen Themen interessante Einblicke zutage fördern – wie in Waiblingen –, oder man kann das Augenmerk auf weniger bekannte Schaffensphasen legen – wie in Ludwigshafen. Wer sich den Spagat zwischen diesen Positionen sparen will (oder die Hack-Schau verpasst hat), kann alles zusammen im Frankfurter Städel im Rundumschlag erledigen. Und man kommt ins Staunen: Dieser Vorzeige-Brücke-Künstler war so vollständig noch nicht zu sehen! Da sind sie vor allem wieder, die oben zitierten »Zeiten des Zirkus, der Kokotten und der Gesellschaft«, genauso wie die Davos-Bilder und die späten Werke: Grellbunt sind diese Bilder, nur ändern sich mit der Zeit die Formen – von symptomatisch spitz, dann weicher, zu schließlich kurvig. Kirchner selbst sah sich als »Fabrikmarke«, ein verblüffend modernes Selbstverständnis, das dem Furor der Expressionisten etwas zuwider geht, wie auch die Vorbilder – von den Fauves bis zu Picasso – in der Gesamtschau deutlicher aufscheinen, als es die Brücke-Maler als kraftstrotzende Neutöner im allgemeinen Bewusstsein erkennen ließen. Das Werk Kirchners geht hier über sich hinaus: Die früheren Arbeiten schwingen bis van Gogh, Much & Co zurück, das Spätwerk nimmt die 1950er Jahre vorweg. Das Städel kann aus dem Vollen schöpfen, es besitzt eine der größten Sammlungen seiner Werke überhaupt, weshalb sich die chronologische Ordnung anbietet: »Kirchner im Blick«, »Die frühen Jahre«, »Der Expressionist in Dresden«, »Der Expressionist in Berlin«, »Krieg und Zusammenbruch«, »Bergwelten, Davos«, »Der neue Stil«. Insgesamt sind es sage und schreibe 280 Arbeiten, inklusive der grafischen Arbeiten, die mitunter zum stärksten gehören, was Kirchner geschaffen hat (»Ich muss zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen«).

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