Rezensionen, Meldungen zu Buch und Medien

Erwin Wurm: Retrospektive (Katalog). Hirmer Verlag

Am 27. Juli 2024 feierte der österreichische Künstler Erwin Wurm seinen siebzigsten Geburtstag. Die Wiener Albertina Modern zeigt zu diesem Anlass eine umfassende Retrospektive, die zusammen mit dem im Herbst erschienenen und zitronengelb erstrahlenden Katalog aus dem Hirmer-Verlag die trüben Regentage vertreiben soll. Vordergründig komisch, humorvoll und teils absurd wirkt das Œuvre Wurms, in dem sich jedoch tiefgehende konsum- und kulturkritische Perspektiven verbinden und das in dem Katalog durch zwei Texte von Antonia Hoerschelmann und Konrad Paul Liessmann und kurze Informationen zu den unterschiedlichen Werkgruppen gerahmt wird. Eine Rezension von Timo Merten.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

1974 nahm Wurm ein Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Graz auf, 1977 wechselte er nach Salzburg – ursprünglich wollte er Malerei studieren, landete aber schließlich in Ruedi Arnolds Bildhauereiklasse, in welcher er beide künstlerischen Ansätze verband: „Ich wollte Malerei studieren, aber durch Zufall wurde ich Bildhauer. So begann ich darüber nachzudenken, was Bildhauerei heute sein könnte. Das brachte mich auf die Suche nach der Leere, der Virtualität, dem Volumen, den grundlegenden Eigenschaften der Skulptur“. Mit diesem Zitat leiten die Herausgeber:innen des Kataloges in die rund 250 Seiten starke Werkübersicht Wurms ein, die einen thematischen Überblick über dessen Werke gibt. So zeichnen sich Wurms frühe Werke durch Rückgriffe auf eher einfache, zugängliche Materialien aus, wie etwa Holz, Metall und Textil. Immer wieder erforscht Wurm bereits in diesen Arbeiten die Grenzen seines Genres – die Staubskulpturen und weitere frühe Arbeiten, in denen Wurm sich auf Körper(-formen) bezieht, erweitern den Begriff der Skulptur und laden Betrachter:innen ein, gewohnte Blickmuster zu überwinden, wie es Antonia Hoerschelmann treffend beschreibt.

Erwin Wurm: Hoody I © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024
Erwin Wurm: Hoody I © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024

In seinen textilen Arbeiten greift Wurm das Verhältnis des Körpers zur Außenwelt und die Funktion der Kleidung immer wieder auf. Prominentestes Beispiel ist dabei sicherlich das Fastentuch (2020), welches mit 11 x 7,5 Metern im Altarraum des Wiener Stephansdoms gezeigt wurde. Wurm bezog sich mit dem violetten Stoff auf liturgische Symbolik – und äußert mit dem schmalen Schnitt des Objekts wohl auch zeitgleich Kritik an strengen religiösen Ordnungen, wie das Monopol Magazin vor rund vier Jahren festhielt. Körperformen, Körperfähigkeiten und Beweglichkeiten des Körpers finden auch in Wurms One Minute Sculptures ihren Ausdruck, die der Künstler ab 1997 entwirft. Wurm stellt in ihnen die Dauerhaftigkeit von skulpturalen Formen in Frage: „Die grundlegenden Schritte bestanden darin, die Vorstellung von Dauerhaftigkeit und Unendlichkeit aufzugeben“ – so zitieren die Herausgeber:innen diese Form von Wurms partizipativer Skulptur, bei welcher etwa mit Alltagsgegenständen wie Tennisbällen, Bällen, Verpackungen oder auch Textilien Akteur:innen zur Einnahme von kurzen, ephemeren Haltungen eingeladen werden. Die entstehenden Fotografien diese Kurzzeitskulpturen machen diese aber schließlich doch wieder dauerhaft erhaltbar. Immer wiederkehrende Objekte, etwa Gewürzgurken, lässt Wurm seine Akteur:innen zwischen die Zehen klemmen und sorgt so für absurde Darstellungen von Konsum und Verschwendung. Banale Objekte erklärt er zur Skulptur, etwa auch in seinen 2013 entstandenen Abstract Sculptures, bei denen die in Wien alltäglichen Würstel menschliche Positionen einnehmen.

Erwin Wurm: Mind Bubble Walking Pink © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024
Erwin Wurm: Mind Bubble Walking Pink © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024

Nicht zuletzt stellt die Arbeit mit dem Volumen einen immer wiederkehrenden Bezugspunkt in Wurms Arbeiten dar. Während in den bereits erwähnten Staubskulpturen der Körper (fast) vollständig verschwindet, stellen die Fat Houses und Fat Cars für den Künstler eine Kritik am Spätkapitalismus und überwucherndem Konsum dar – die Bezeichnung „fette Autos“, wie Hoerschelmann sie in ihrem Text etwas zu früh bereits ab der Nachkriegszeit verortet, kamen als Ausdruck für Statussymbole erst in den 1970er Jahren im deutschsprachigen Raum auf. Etwas zu weit geht auch Hoerschelmanns Anmerkung, dass die Bezeichnung als „fett“ in der heutigen Zeit nur eindimensional und negativ empfunden würde. Wurms Arbeiten könnten stattdessen genauso als humorvolle, gegenhegemoniale Haltung zu Körperdiskriminierungen verstanden werden, welche die Unterschiedlichkeit von Körpern betonen und bei denen „fette“ Figuren in einer Reihe mit Wurms neueren Werken, wie Narrow House (2010) oder Substitutes (2024), die schmale, dünne Formen in ihr Zentrum stellen, stehen.

Erwin Wurm: one minitue sculpture © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024
Erwin Wurm: one minitue sculpture © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024

Eine direkte Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper nimmt Wurm in der Serie Peace & Plenty (2018) vor, die bereits 2018/19 in einer Einzelausstellung in der Albertina gezeigt wurde und die der Generaldirektor der Albertina in seinem Vorwort des Kataloges prominent erwähnt. Wurm geht in ihnen zurück zur Malerei und verarbeitet seine eigene Asthmaerkrankung in Portraits, in denen der Zigarettenrauch, das Körpervolumen und die aus den One Minute Sculptures bekannten paradoxen Körperposen sich zu einem Bild zusammenfügen. Das Menschliche verbindet alle Werke Wurms – sei es in seiner Ab- oder Anwesenheit, seiner Form oder seinen Bezügen zur Umwelt. Vordergründige Absurditäten lassen sich mit Wurm zu tiefergehenden Fragen zur menschlichen Existenz und dem Konsum verbinden. Eben dieser Punkt ist es auch, den Konrad Paul Liessmann in seinem Text aufnimmt und aus philosophiegeschichtlicher Sicht bespricht, wie er etwa anhand von Wurms Serie The 3 Philosophers (2001) und den darin enthaltenen Bezügen zu Karl Poppers „Alle Menschen sind Philosophen“ und Giorgiones Ölgemälde Die drei Philosophen (1508) deutlich macht. Liessmann bespricht im Folgenden aber primär die Absurdität und Paradoxie in Wurms Werken, dem er sich mit Hilfe des dänischen Theoretikers Søren Kierkegaard widmet. Nach Kierkegaard sei das Paradoxe als widersprüchliche Konstellation zu verstehen, die mit Blick auf logisches Denken „gleichermaßen faszinierend wie ärgerlich“ seien, wie Liessmann festhält. Wurms One Minute Sculptures versteht er als Ausdruck des Infragestellens der skulpturalen Form und Zeitigkeit, aber auch des Sinnhaften, dem er mit Albert Camus und dessen Ausführungen zur Absurdität begegnet

Erwin Wurm: Eames © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024
Erwin Wurm: Eames © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024

Der Wiener Albertina und dem Hirmer-Verlag gelingen mit der Publikation zur Retrospektive Erwin Wurms ein breiter Überblick über dessen Œuvre, der stets durch Aussagen des Künstlers und begleitende Kommentare gerahmt wird. Antonia Hoerschelmanns Einführung in das Schaffen des Künstlers gelingt es, Wurms Auseinandersetzungen mit dem menschlichen Torso einzuordnen und mit unterschiedlichen Werkreferenzen ein schließlich doch lineares Bild eines Künstlers zu zeichnen, dessen paradoxe Werke als (Ver-)mittlerinnen zu Fragen des Konsum und des Körpers dienen. Konrad Paul Liessmanns Text stellt eine sehr sinnvolle Erweiterung der kunstwissenschaftlichen Perspektive Hoerschelmanns dar, der mit Bezügen zu Kierkegaard, Camus, Popper und anderen Wurms Werke detailliert bespricht. Nur vordergründig ist der Katalog zur Retrospektive also zitronengelb und erheiternd, tiefergründig sammeln sich darin detaillierte Auseinandersetzungen und bereichernde Perspektiven – ebenso wie es auch im Œuvre Wurms der Fall ist.

Erwin Wurm: untitled © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024
Erwin Wurm: untitled © Markus Gradwohl / Erwin Wurm / Bildrecht, Wien 2024

Diese Seite teilen

Besuchen Sie uns