Ausstellungsbesprechungen

Expressionistische Begegnung. Ernst Ludwig Kirchner – Jan Wiegers. Staatliches Museum Schwerin, bis 28. September 2014

Eine Doppelausstellung wirft Licht auf das Werk und zugleich das Leben Ernst Ludwig Kirchners. In Davos begegnete er dem jüngeren Niederländer Jan Wiegers, zu dem sich eine anhaltende enge Freundschaft entwickelte. Stefan Diebitz ist nach Schwerin gefahren und hat sich angeschaut, wie die beiden Künstler voneinander lernten.

Hans Castorp war nicht der einzige, den es aus gesundheitlichen Gründen nach Davos zog. Ernst Ludwig Kirchner war ein anderer – als Kriegsfreiwilliger hatte er 1915 unter dem Eindruck der Front einen schweren Zusammenbruch erlebt und versuchte, sich ab 1917 in den Schweizer Bergen zu kurieren. Dort fand 1920 Jan Wiegers zu ihm, der wegen eines Lungenleidens nach Davos gereist war und in den folgenden Jahren regelmäßig dorthin zurückkehren sollte. Kirchner war in Davos zwar nicht völlig isoliert, empfand aber die anderen Künstler nicht als gleichrangig. Wiegers gefiel ihm offenbar auch deshalb, weil der Jüngere von dem Älteren lernte, ohne sich deshalb gleich in einen Epigonen zu verwandeln.

So war Kirchner zwar dreizehn Jahre älter und, anders als Wiegers, bereits ein renommierter Künstler, der sich ganz gern in der Rolle des Lehrers zu sehen schien, aber es war doch wohl trotzdem mehr ein kollegiales und auf jeden Fall freundschaftliches Verhältnis. Wichtig ist das nicht zuletzt aus historischen Gründen, denn über Wiegers, der einige Jahre lang zwischen seiner Heimat und den Niederlanden pendelte, erreichte der Expressionismus auch das heimische Groningen.

Diesem historischen Aspekt der Ausstellung sind in dem handlichen Katalog zwei Aufsätze von Dirk Blübaum und der Kuratorin Adina Christine Rösch gewidmet, aus denen die spezifische Färbung der holländischen Malerei jener Jahre deutlich wird. So sind die Hinweise Blübaums auf den »Luminismus« wichtig, einer »Stiltendenz des belgischen Post-Impressionismus«, die auch dank der Isolation der Niederlande während des 1. Weltkrieges – das Land konnte seine Neutralität durchhalten – andauerte. Wiegers selbst war ursprünglich ein Gewächs der »Haager Schule«, welche die große Tradition der niederländischen Landschaftsmalerei fortführte, und stand außerdem wie viele andere niederländische Künstler dieser Zeit unter dem Einfluss des Franzosen Henri Le Fauconnier, der aus seiner Heimat einen wenig radikalen und entsprechend mehrheitskompatiblen Kubismus nach Holland gebracht hatte.

Obwohl vom Frühwerk Jan Wiegers' leider kaum etwas erhalten ist, kann die Schweriner Ausstellung immerhin vier Arbeiten vorweisen. Nach der Begegnung mit Kirchner war Wiegers dann praktisch über Nacht zum Expressionisten geworden, wenngleich er immer weniger radikal blieb als sein älterer Freund. Vor allem malte er mehr objektgebunden als Kirchner, musste aber trotzdem, weil er so schnell zu malen versuchte wie sein Freund und Vorbild, einen guten Teil seiner soliden akademischen Ausbildung vergessen.

Der Schweriner Ausstellung gelingt es, die enge Beziehung zweier sich verwandt fühlender, aber trotzdem eigenständiger Künstler mit einer ganzen Anzahl aufeinander bezogener Bildpaare zu dokumentieren. 1925 hatten Kirchner und Wiegers zwei »Duell-Porträts« gemalt und den anderen bei der Arbeit dargestellt – die beiden Bilder hängen in der Ausstellung natürlich nebeneinander und sind auch auf dem Umschlag des Kataloges und den Plakaten zu finden. Vielleicht war es ja sogar verabredet, dass beide Maler während der Arbeit auf einem Stuhl vor der Staffelei sitzend abgebildet wurden.

Überraschend muss es sein, dass Kirchner beidhändig gemalt zu haben scheint. Rösch zeigt, in welcher Weise es Wiegers gelang, Kirchner gleichermaßen »realitätsbezogen und expressiv« darzustellen. »Das Inkarnat strahlt gelb und orange, Schattierungen werden durch grüne Partien dargestellt. Die schwarzen Haare Kirchners heben sich klar vom helleren Hintergrund ab, während sich die Blaunuancen seiner Kleidung im vorwiegend in Rottönen gehaltenen Hintergrund wiederfinden. Dadurch, dass Wiegers konsequent Komplementärfarben nebeneinander setzte, steigerte er die Farbwirkung der einzelnen Farbflächen. Auf diese Weise lenkte er auch besondere Aufmerksamkeit auf Kirchners Antlitz.« Dieses Gesicht wirkt auf dem Bild schmal, erstaunlich jung (er muss in jenen Jahren schon erheblich älter ausgesehen haben) und mit seinen dunklen Augen unter den Bögen der Brauen klar, offen und konzentriert.

Ein anderes beeindruckendes Bildpaar zeigt jeweils eine Winterlandschaft in den Bergen, und hier hat ganz eindeutig Kirchner mit seinem »Wildboden im Schnee« von 1924 die zwei Jahre jüngere Darstellung einer Holzhütte durch Wiegers beeinflusst. In beiden Bildern bestimmt neben dem Weiß des Schnees ein dunkles Violett die Farbpalette, das den Ausstellungsbesucher schon aus etlichen Schritten Entfernung die Zusammengehörigkeit beider Gemälde erfassen lässt. Kirchners Stil hat sich, wie Rösch anlässlich dieses Bildes betont, »deutlich beruhigt«, und seine Darstellung der Landschaft überzeugt durch die Klarheit der Strukturen. Ein sehr schönes Bild – neben Wiegers’ Porträt von Kirchner vielleicht das schönste der Ausstellung.

Im Katalog finden sich außer den Arbeiten von Blübaum und Rösch noch zwei andere lesenswerte Aufsätze. Lucius Grisebach behandelt Kirchners Versuche, als Lehrer zu wirken. In diesen Tagen erscheint im Piet Meyer Verlag eine kleine, von ihm herausgegebene Schrift, die sein Großvater Eberhard Grisebach bereits 1917 verfasst, aber wegen der Entfremdung zwischen dem schwierigen Künstler und ihm nie selbst veröffentlicht hat. Dieses Büchlein stellt die erste größere Schrift über Kirchner überhaupt dar!

Im letzten Aufsatz des Kataloges versucht Han Stenbruggen die Bedeutung von Jan Wiegers einzuordnen. In Wiegers erkannte Kirchner »einen ehrlichen, nach der Natur strebenden Maler der Moderne, der ihm Gehör schenkte. Mit ihm konnte er sich über seine Auffassungen von Zeichnung, Farbe und Komposition austauschen. Für Wiegers bedeutete die Begegnung mit Kirchner nichts weniger als eine Offenbarung. Viel jünger und nach einer klaren Richtung suchend, wurder er ergriffen von der Vision und Arbeit eines Künstlers, der Mitbegründer des deutschen Expressionismus gewesen war.«

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