Meldungen aus der Forschung

Faszinierendes Mittelalter

Welche erkenntnistheoretischen Schnittmengen teilen Mittelalter und Bildwissenschaft? Warum ist ein Fenster im westlichen Langhaus des Straßburger Münsters so interessant? Und wie expressiv war die Malerei um 1430? Diese Fragen machen bereits deutlich, was für ein breites Themenspektrum auf dem Forum Kunst des Mittelalters, das vom 18. bis 21. September 2013 in Freiburg tagte, bearbeitet wurde. Rowena Fuß war vor Ort und berichtet.

Etwa 400 Besucher und Teilnehmer fanden den Weg in das wunderschöne Schwarzwaldstädtchen. Im gediegenen Flair der 1911 von Jugendstilarchitekt Herrmann Billing entworfenen Eingangshalle musste man jedoch zunächst etwas am Anmeldetresen warten, bevor den regen Diskussionen gelauscht werden durfte.

Die Sektion »Mittelalter und Moderne. Epistemologische Schnittmengen zweier Epochen«, die den Vortragsreigen am Mittwoch eröffnete, mutete allerdings auf den ersten Blick ein wenig merkwürdig an. Ist die Mittelalterforschung tatsächlich so verstaubt und unbeliebt, dass man sie mit der trendigeren Moderne verknüpfen muss? Dem ist sicherlich nicht so. Vielmehr wurde in Freiburg ein Thema eruiert, dass schon seit Jahren seine Kreise durch sämtliche Kunsthistorikertagungen zieht: das des Selbstverständnisses. Oder anders formuliert: Sind Kunsthistoriker nun Bildwissenschaftler oder nicht? Die Antwort lautet: Ja und nein. Es hängt davon ab, wie man den Begriff Bildwissenschaftler lesen möchte. Natürlich beschäftigen sich Kunsthistoriker zumeist mit Bildern, d.h. Gemälden, Grafiken oder Fotografien. Doch dieser eher umgangssprachlichen Benutzung des Begriffs steht noch eine andere gegenüber. Dazu muss man sich fragen, was Bildwissenschaft will. Die Kernfragen dieser Disziplin lauten: Was ist und kann ein Bild? Bereits hier wird deutlich, dass die traditionelle Kunstgeschichte nicht ausreicht, um darauf eine Antwort geben zu können. Folgerichtig vereint die Bildwissenschaft Ansätze mehrerer Disziplinen − der kunsthistorische, auf Ikonografie und Ikonologie ausgerichtete, ist da nur einer unter vielen. Daher entspricht das Verhältnis zwischen Bildwissenschaft und Kunstgeschichte dem von Unter- und Überordnung: Ersteres ist der übergeordnete, letzteres die untergeordnete Disziplin. Möglich wäre auch das Schema, wonach Bildwissenschaft die Allgemeinheit präsentiert und Kunstgeschichte die Besonderheit. Beide haben Anteil am einzelnen zu untersuchenden Gegenstand. Da die Allgemeinheit nach Hegel immer auch Anteil am Besonderen hat, ergibt sich schließlich eine Trias aus Bildwissenschaft, Kunstgeschichte und Untersuchungsgegenstand. Ins Bild gesetzt, ergäbe dies einen Dreipass, womit wir wieder beim Mittelalter wären.

Der Vortrag von Marius Rimmele »Bildwissenschaft, Visual Culture und Mittelalter« brachte jedenfalls keine Klärung in der Angelegenheit, denn auch der Begriff der visuellen Kultur gestaltete sich als schwierig. Theoretisch umfasst der Begriff alles, was durch optische Wahrnehmung vermittelt wird: Bäume, Häuser, Mode, Autos, Gemälde, Werbeplakate usw. Folglich kann alles zum Untersuchungsgegenstand erklärt werden. Doch was sind denn Kathedralen, Gemälde, Ballkleider oder Sportwagen? Antwort: Ausdruck eines bestimmten Zeitgeistes. Kathedralen etwa sind steingewordene Weltbilder − und das ist es auch, was man erforscht, wenn man sich der visuellen Kultur widmet: die Verflechtungen zwischen materiellen Dingen und ideologischen, kulturellen und psychischen Gegebenheiten. Damit ist auch die Frage, ob zwischen materieller und ideeller Kultur geschieden werden sollte, beantwortet: Nein, denn zwischen ihnen besteht ein Bedingungsverhältnis!

Wenn ein Untersuchungsgegenstand in Mittelalter, Neuzeit oder einer anderen Zeit also in Gänze erforscht werden soll, braucht es einen interdisziplinären, bildwissenschaftlichen Ansatz. Solange es genügt, zu beschreiben, was auf einem Bild dargestellt ist und was dies bedeutet, können wir uns getrost weiter Kunsthistoriker nennen.

Insgesamt 15 Sektionen widmeten sich der Architektur, den Bildkünsten und dem Kunsthandwerk des europäischen Spätmittelalters. Einen sehr spannenden Vortrag über die Verschränkung der Bildprogramme von Westfassade und Langhausverglasung im Straßburger Münster hielt Daniel Parello. Das Motiv des Thron Salomonis ist scheinbar überall am Gebäude anzutreffen. Doch zeigte auch die nicht mehr vorhandene Verglasung der Martinskapelle (heute: Laurentiuskapelle) Salomon? Plausibel genug wäre es. Das Bildprogramm des Langhauses bestünde dann aus der Anbetung der Könige, dem Thron Salomonis und den Tugenden und Lastern. Die Westfassade spiegelte dieses Programm. Die allgegenwärtige Präsenz Salomonis im Chor, im Quer- und nun auch im Langhaus verstärkte den Appell an die Tugend des Gläubigen.

Dass man den Menschen auch anders zu tugendhaftem Verhalten auffordern konnte, zeigte Stavros Vlachos. Besonders Passionsszenen warten um 1430 mit drastischen Darstellungen des Erlösers auf, indem sie ihn geschändet und entwürdigt präsentieren. Sie stehen idealisierenden, verhüllenden Modi entgegen. Während die Muttergottes bei dem Meister der Karlsruher Passion um 1450 beispielsweise die Scham Jesu mit einem Lendentuch verdeckt, verbergen einzig seine angewinkelten Beine im Rohan-Stundenbuch (um 1430) den Blick darauf. Darüber hinaus ist Christus im letzten Beispiel nicht etwa auf Tücher gebettet: Er liegt nackt auf dem kargen Boden.

Unterschiedliche Realismusvarianten um 1430 referierte im Anschluss Iris Grötecke am Beispiel Meister Franckes. Idealität und Expressivität basieren beide auf einer Beobachtung der Wirklichkeit, doch die Wirkung auf den Betrachter ist verschieden. So begegnen uns in Franckes fiktionalen Bildern vertraute Menschentypen. Doch: Nur nicht zuviel Realismus lautet die Devise! Denn Franckes Bilder entstehen für ein Publikum, das weit entfernt ist von einer Wirklichkeitssättigung. Fazit: Das (Spät)Mittelalter fasziniert auch ohne moderne Trends.

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