Buchrezensionen, Rezensionen

Florian Heine: Meilensteine - Wie große Ideen die Fotografie veränderten, Prestel 2012

Die Fotografie kann in den knapp 200 Jahren ihrer Geschichte auf eine rasante Entwicklung zurückblicken. Von der Camera obscura bis zur Handykamera hat das Medium einen beachtlichen Fortschritt gemacht. Ob Röntgenfotografie oder Mode oder digitale Fotografie, Fotokunst und Kriegsberichterstattung - die Publikation von Prestel bildet alles ab. Walter Kayser zeigt sich begeistert.

Im Bereich der Literatur würde man von Memoirenwut sprechen: Carsten Maschmeyer, Monica Lewinsky und Philipp Lahm sind mit von der Partie. Das Medium Fotografie bewegt sich zwar erst demnächst auf das Alter von 200 Jahren zu; aber schon seit geraumer Zeit gibt es etliche Versuche, Bilanz eines (gemessen an der altehrwürdigen abendländischen Kultur gar nicht) langen Lebens zu ziehen. Es ist offensichtlich die Zeit der Bestandsaufnahmen.

Das tut auch der Prestel-Verlag mit „Meilensteine - Wie große Ideen die Fotografie veränderten“. Der Band fügt sich in eine Reihe ein, mit welcher der in München lebende Kunsthistoriker und Fotograf Florian Heine bereits zuvor Überblickswissen über die entscheidenden Etappen der Kunst vermittelte. Seit geraumer Zeit sind ja auch „Schnellbleicher“ in Sachen Bildung angesagt, aber das ist dieses Buch keinesfalls. Eher eine äußerst anregende Orientierungshilfe – nicht mehr und nicht weniger.
Gemessen an solch einem bescheidenen Anspruch und angesichts des günstigen Preises sowie des praktischen Flexobroschur-Einbandes ist das ein marktstrategisch geschickt platziertes Segment - und rundum äußerst gelungen.

Vermutlich liegt das an der Doppelbegabung des Verfassers. Er ist Theoretiker und Praktiker zugleich, wie seine Porträtfotografien von Münchner Schauspielern und Künstlern beweisen.
Aber es steckt doch noch mehr dahinter. Schon der Anfang wartet mit einem verblüffenden Einstieg auf: Anhand von Jan Vermeers Gemälde Mädchen mit rotem Hut oder Canalettos Veduten zeigt der Verfasser, dass die Vorformen einer technischen Bildaufzeichnung weit zurück in der traditionellen Malerei aufzuspüren sind. Hilfsmittel wie der konkave Spiegel oder die camera obscura wurden vermutlich sogar schon in der Antike benutzt. Jedenfalls verdankt sich das perspektivische Liniengerüst in Jean Fouquets Einzug Kaiser Karl IV in St. Denis, immerhin aus der Zeit um 1455/60, einem solchen technischen Hilfsmittel.

Flankiert wird diese verblüffende optische Beweisführung von einer nicht minder originellen kulturgeschichtlichen These, die ebenso wenig von der Hand zu weisen ist: Von der Allgegenwärtigkeit des Handys und seiner eingebauten Fotolinsen ausgehend folgert Florian Heine: »Mit der Fotografie wird das Wort Joseph Beuys‘, nachdem jeder Mensch ein Künstler ist, zur realen Möglichkeit.« Sie ist daher nach Martin Parr »das zugänglichste, demokratischste Medium, das weltweit verfügbar ist«. Folglich sei zu verallgemeinern, dass die Fotografie eigentlich schon immer ein Massenmedium gewesen sei und dass die Kenntnis der Fotografiegeschichte zur ästhetischen Grundausstattung gehören sollte. Nicht ganz zu Unrecht kann sich Heine dabei auf den Bauhaus-Lehrer László Moholy-Nagy berufen, der 1927 schrieb: »Nicht der Schrift-, sondern der Fotografie-Unkundige wird der Analphabet der Zukunft sein.«

Die Art, wie der Verfasser seinem selbst gesetzten Bildungsauftrag gerecht wird, ist schlichtweg gekonnt: Der Aufbau des Buches in 25 Kapiteln ist überschaubar und wohl begründet. Neben den ganz klassischen und evidenten Genreeinteilungen Porträt, Landschaft, Stillleben, Akt- oder Modefotografie schlägt er so interessante Gattungen vor wie Nacht, Tier, Fotobuch oder Sofortbild. Wohlproportioniert bespricht er pro Kapitel etwa drei Bilder. Deskription wird immer wieder ergänzt und vertrieft durch Reflexion, Betrachtung durch Verknüpfung. Aus dem Journalismus übernommen (und möglicherweise ein Zugeständnis an die Vorstellungen des Verlages) ist das Mittel, einzelne markante Sätze aus dem Text herauszunehmen und groß als Zitate über den Text zu setzen. So bilden sie einen Anreiz, zwischen sprunghafter und systematischer Lektüre zu wechseln, prägen sich tiefer ein und verknüpfen sich besser mit dem gedanklichen Kontext. Die Gliederung der einzelnen Kapitel folgt syntagmatischen, nicht diachronen Gesichtspunkten. Auf diese Weise kann längst Archiviertes, sozusagen mit dem Adelsprädikat des Klassischen ausgezeichnetes, mit zeitgenössischer Fotografie konfrontiert werden.

Eine besondere Vorliebe entwickelt Heine dafür, immer wieder das Verhältnis des künstlerischen Mediums Fotografie mit der Tradition in Beziehung zu setzen. Dabei erscheinen stets aufs Neue die Anfänge der Fotografie besonders faszinierend, diese Magie, mit der gebündeltes Sonnenlicht in einem schwarzen Kasten die Wirklichkeit einfing und sie mit stupender Wahrhaftigkeit auf einem Bildträger auftauchen ließ: »[…] Der Spiegel zeigt Bilder naturgetreu, aber bewahrt keine. Unsere Leinwand spiegelt sie nicht weniger getreu, aber bewahrt sie alle. Dieser Eindruck des Bildes ist unmittelbar. Dann wird die Leinwand entfernt und an einem dunklen Platz gelegt. Eine Stunde später ist der Abdruck trocken und man hat ein Bild, das keine Kunst kostbarer in ihrer Wahrhaftigkeit nachahmen kann.«

Dieses Zitat etwa erweckt selbstverständlich den Eindruck, eine etwas poetische Beschreibung des fotografischen Verfahrens zu sein. Verblüffenderweise aber stammt sie aus einem Roman des Franzosen Tiphaigne de la Roche (1722–1774), welcher fast 80 Jahre vor dem ersten Foto, nämlich 1760, veröffentlicht wurde. In solchen Äußerungen spricht sich unmissverständlich der Wunsch aus, Bilder, noch vor der Fotografie, als absolute Beglaubigungen einer Situation, ganz ohne Zutun eines Malers oder Zeichners, entstehen zu lassen. In einem seiner letzten Kapitel schlägt Florian Heine noch einmal den Bogen zurück, indem er erneut an die wechselseitige Befruchtung von Fotografie und Malerei erinnert. Weder ist die Malerei an den Folgen der technischen Reproduzierbarkeit gestorben noch ist die Fotografie die »sehr demütige Dienerin der Wissenschaft und Kunst« geblieben, wie es einst der Dichter Charles Baudelaire forderte. Sie ist, wie auch diese anregende Bestandsaufnahme belegt, vielmehr ein reichhaltiges, noch längst nicht erschöpftes Ausdrucksmittel sui generis.

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