Ausstellungsbesprechungen

Fotografie in Lübeck 1840 – 1945, Museum Behnhaus Drägerhaus Lübeck, bis 28. August 2016

Erstaunlich reich ist der Bestand an Fotos, den das Behnhaus seit Jahrzehnten hütet; und er ist bis heute ein noch ungehobener Schatz, auch wenn jetzt endlich aus Tausenden von Fotos eine große Schau zusammengestellt wurde. Stefan Diebitz hat sich an den alten Bildern erfreut und kann den Besuch dringend empfehlen.

Lübeck gilt als schöne Stadt, und gleich zu Beginn der Ära der Fotografie wurden die alten Häuser und Kirchen eifrig abgelichtet. Aber obacht! Wer im Behnhaus nur das romantische alte Lübeck zu finden hofft, der ist schief gewickelt, denn es heißt nicht »Lübeck in der Fotografie«, sondern »Fotografie in Lübeck« – man sieht also eine Menge Lübeck-Bilder, aber die Stadt ist keinesfalls das einzige Thema dieser sehr vielseitigen und interessanten Ausstellung. Es gibt selbstverständlich viele dokumentarische Aufnahmen alter Gebäude oder die Porträts unzähliger, meist längst vergessener Menschen, aber auch eine Reihe künstlerisch hochwertiger Bilder, die nichts mit Lübeck zu tun haben. Fast könnte man von einer Geschichte der Fotografie in nuce sprechen, die am Beispiel von in Lübeck ansässigen Fotografen erzählt wird.

Bis heute ist selbst den meisten Fachleuten nicht ganz klar, welche Schätze in dem Magazin des Behnhauses lagern, denn bereits der legendäre Direktor Carl Georg Heise hat in den zwanziger Jahren zu sammeln begonnen und hier wie sonst auch seinen unbestechlichen Blick für Qualität bewiesen. Den Fleiß des Kurators Jan Zimmermann kann man deshalb gar nicht hoch genug einschätzen: Er muss unzählige Stunden in den Archiven allein mit der bloßen Sichtung der Bilder verbracht haben, und wie schwierig die Auswahl gewesen ist, zeigt sich bereits daran, dass selbst gute Fotografen meist nur mit wenigen Arbeiten zu sehen sind. Also dank der Mühe und Kompetenz Zimmermanns ist die Sonderausstellung qualitativ außerordentlich hoch einzuschätzen und sowohl für den Fotofreund als auch für den Bewunderer des alten Lübeck ein großer Genuss. Sowohl wirtschafts- und sozialgeschichtliche als auch kultur- wie kunsthistorische Interessen werden bedient. Dazu: Zwar mögen viele Bilder allein einen dokumentarischen Wert besitzen, aber es gibt eine Reihe künstlerisch hochwertiger Fotos zu bewundern.

1839 schenkte Louis Jacques Mandé Daguerre das nach ihm benannte Verfahren der Welt, ließ es nämlich durch die französische Regierung erwerben, die es danach jedermann zur Verfügung stellte. So begann die Daguerrotypie ihren atemberaubenden Siegeszug, und schon ein Jahr später wurden auch im provinziellen Lübeck Daguerrotypien hergestellt. Jede Daguerrotypie ist ein Unikat, weil es kein Negativ gibt, von dem man Abzüge herstellen könnte, und so sind alle gezeigten Bilder schon deshalb kostbar. Verwirren muss es besonders bei der Aufnahme bekannter Gebäude, dass die Bilder grundsätzlich seitenverkehrt sind.

Die Ausstellung ist chronologisch aufgebaut. Die Daguerrotypien finden sich im ersten Saal, an den sich ein Raum mit zahlreichen Carte-de-Visite-Porträts anschließt, kleinen Bildern in genormter Größe, wie sie im 19. Jahrhundert hergestellt wurden. Seinerzeit war kaum jemals ein Lächeln auf einem Porträt zu sehen, was teils mit dem anderen Selbstverständnis der Menschen jener Zeit, teils aber auch mit der langen Belichtungszeit zu tun haben mag, denn wer mag schon minutenlang in die Kamera lächeln? So muss es überraschend sein, dass bereits Hegel, der ja noch vor dem Siegeszug der Daguerrotypie gestorben war, den Einzug des Lächelns in das Porträt beobachten zu können glaubte: »Heut¬¬zutage ist es Mode, allen Gesichtern, um sie freund¬lich zu machen, ei¬nen Zug des Lächelns zu geben, was sehr gefährlich und schwer in der Grenze zu halten ist.« Aber auf den Lübecker Porträts sind die Gesichter zwar oft freundlich, aber von einem Lächeln kann kaum jemals die Rede sein.

Es ist erstaunlich, wie viele tatsächlich bedeutende Fotografen eine Provinzstadt wie Lübeck hervorbringen konnte und wie sehr diese sich voneinander unterschieden: Selbst die weniger bedeutenden unter ihnen sind fast alles scharf umrissene Individuen. Ein wichtiger Fotograf (wohl der erste in Lübeck) war Josef Wilhelm Pero (1808 – 1868), unehelicher Sohn eines spanischen Soldaten, der sich als erster Fotograf überhaupt in Lübeck selbstständig machte und teils Baudenkmäler dokumentierte, teils die besseren Familien ablichtete. In ähnlicher Weise tätig war der in dieser Ausstellung dominierende Johannes Nöhring (1834 – 1913), der noch zusätzlich bedeutende Kunstwerke fotografierte und sich zweimal an der Gründung einer »Lichtdruckanstalt« versuchte. Lichtdruck, so findet man im Katalog erläutert, war das Verfahren, mit dem sich »Fotografien erstmals massenhaft vervielfältigen ließen.«

Von diesem Augenblick an konnten Fotografen also verschiedene Geschäftsfelder bedienen, neben der Porträtfotografie auch erstmals Ansichtskarten, die angesichts eines beginnenden Tourismus ein immer besseres Geschäft wurden. Über Jahrzehnte hinweg dokumentierte Nöhring die Lübecker Altstadt, und natürlich gibt es von ihm wie von Pero, den beiden ersten wichtigen Fotografen Lübecks, immer wieder dieselben Motive zu sehen: Holstentor, Marien-, Jacobi- und Petrikirche, den Dom, enge Altstadtgassen, endlich der Hafen. Und die Späteren taten es ihnen gleich. Was nicht abgelichtet wurde, war der Alltag der kleinen Leute; man musste schon wenigstens Handwerkermeister sein, um in den Genuss eines Porträts zu kommen.

Merkwürdig ist die Ruhe, die viele Bildern ausstrahlen – das muss eine Folge der langen Belichtungszeit gewesen sein. Denn auf einigen Bildern sind gelegentlich die verwischten Schatten von Passanten zu sehen, und deshalb darf man annehmen, dass so unbelebt, wie die Straßen scheinen, sie meist gar nicht waren. Trotzdem zeigt sich auf diesen Bildern eine Stadt, die einerseits viel weniger gepflegt war, andererseits aber auch viel lebendiger und interessanter. Die alten Häuser sind im Erdgeschoss noch nicht durch riesige Schaufenster oder gar Werbeaufschriften entstellt, in den Straßen stehen gelegentlich Karren oder Pferdewagen, aber nicht die niemals endenden Schlangen der parkenden oder fahrenden Autos, und natürlich haben auch die Bomben des 2. Weltkriegs noch keine Lücken geschlagen. Die Dokumentation dieser Wunden – es sind die chronologisch letzten Bilder dieser Ausstellung – sind in Lübeck natürlich jedem bekannt, aber sie sind auch wirklich höchst eindrucksvoll und bewegend. Uns ging eine ganze Welt verloren! Die hoch aus den Trümmern ragenden, ihrer Türme beraubten gotischen Kirchen stehen für den Verlust, den die Stadt in einer einzigen Nacht erfahren musste.

Einen ganzen Raum hat die Ausstellung der künstlerischen Fotografie gewidmet. Viele dieser Arbeiten sind im Stil der Neuen Sachlichkeit aufgenommen und beeindrucken durch die Sorgfalt des Arrangements wie durch die sehr hohe Qualität der Abzüge (Silbergelatine) – man müsste heute schon einige Anstrengungen unternehmen und dürfte keine Kosten scheuen, um Schwarzweißbilder dieser Güte zu bekommen. Übrigens scheint hier der Wechsel des Sujets und des Stils im Vergleich zur heutigen Praxis des künstlerischen Fotografierens mindestens so dramatisch wie in der Malerei. Einerseits wurde auf äußerste Schärfe und exakteste Ausleuchtung geachtet, andererseits sind diese Fotos auf das Objekt konzentriert und tatsächlich sehr sachlich, ganz gleich, ob sie Schaufensterpuppen, den gerippten Meeresboden oder Glasplatten zeigen.

In diesen Tagen kann das Behnhaus etwas bieten, das es in anderen Häusern nicht gibt: Hier kann man große Kunstwerke des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts anschauen und im Raum nebeneinander vor dem Porträtfoto des Künstlers stehen. Ein 1933 aufgenommenes Barlachporträt von Hildegard Heise, Ehefrau von Carl Georg Heise, hängt in unmittelbarer Nähe von Barlachs »Sterndeuter« von 1909. Für ein Bild Lovis Corinths gilt ähnliches. Zusätzlich werden innerhalb der Ausstellung Fotoporträts mit Porträts in Öl oder mit Bleistiftzeichnungen verglichen – ein Vergleich, der sich anbietet, denn besonders im 19. Jahrhundert waren nicht wenige der Fotografen gelernte Maler. So findet man von August Godtknecht (1824 – 1888) einerseits das Ölporträt einer Dame, andererseits das Foto eines jungen Mädchens.

Der sehr schöne Katalog zeigt in neun Kapiteln 428 Bilder. Hervorgehoben und in kurzen biografischen Essays vorgestellt werden von Jan Zimmermann zwei Fotografen, Johannes Nöhring (1834 – 1913) und Robert Mohrmann, dessen Lebensdaten nicht erhalten scheinen. Er kam 1909 nach Lübeck und fertigte 1300 Porträtsfotos an, von denen nicht wenige höchst eindrucksvoll geraten sind. Die meisten dieser Bilder zeigen die Person während ihrer Arbeit in für sie typischen Positionen, und weil diese sehr verschieden sind, sind die einzelnen Porträts entsprechend individuell gestaltet. Das erste dieser Porträts zeigt das Bild eines Rabbiners, eines gütig schauenden älteren Herrn über der Thora; spätere konfrontieren uns mit Nazis in Uniform.

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