Ausstellungsbesprechungen

Francesco Clemente – Palimpsest , Schirn Kunsthalle Frankfurt, bis 4. September 2011

Derek Walcott, der karibische Literaturnobelpreisträger, hat die Arbeiten von Francesco Clemente 2009 so trefflich beschrieben, dass man ihm schon das Entree zu einer Ausstellungsbesprechung einräumen darf: »In einem solchen Maßstab Intimität herzustellen, dem Betrachter ins Ohr zu flüstern, statt zu brüllen, gibt Anlass zu einer Bekehrung.« Anfangs überläuft ihn noch ein »verächtliches Schaudern«, am Ende lässt sich der Dichter einfangen durch den »feinen« Humor und die »unerschrockene« Zartheit. Günter Baumann hat die Ausstellung besucht.

In der Tat steht Clemente allzu rasch unter dem Kitschverdacht, doch ist es unmöglich, sich seiner poetischen Kraft zu entziehen. Dass Walcotts zwei Jahre alter, emphatischer Text in den Katalog zur Palimpsest-Schau in der Frankfurter Schirn Einzug gehalten hat, verwundert nicht. Seine Worte sind sozusagen das Rüstzeug zur persönlichen Begegnung mit diesem singulären Werk, das von einem melancholisch gebrochenen Pathos getragen ist. Kein Wunder auch, dass man mit der am Schluss des Walcott-Beitrags berufenen »Heiligkeit« schnell bei der Hand ist, wo die aquarellhafte Helligkeit und formale Klarheit (bei einem durchaus geheimnisvollen erzählerischen Inhalt) eine solch große Reinheit und visionäre Symbolkraft erreichen. Dabei hilft ein Blick in die Vita, die den Italiener Clemente auch in New York und in Indien verortet: freiheitliche und mystische Inspiration gehen Hand in Hand.

Der Titel der Ausstellung bezieht sich auf die Überlagerungen, die der Maler vornimmt und die eine alte Technik, antike Palimpsestformen, wiederaufleben lässt. Für den klassisch gebildeten Maler geht es um »eine Metapher für die verschiedenen Lagen von Erfahrungen, die unser Bewusstsein ausmachen«. Der neuwilde Duktus der Gemälde verrät die Wurzeln dieses Schaffens in der neuen figurativen Malerei in den 1970er/80er Jahren, wo es kaum bunt genug – in Italien eine Art Befreiungsschlag gegen das Arte povere – und selten ohne sexuelle Andeutungen zuging in der Kunst. Ein lupenreiner Transavanguardist (darunter zählen Enzo Cucchi oder Sandro Chia) ist Clemente allerdings nie gewesen, vielleicht weil das erzählerische Moment in seinen Bildern ausdrücklich dem metaphysischen Stil Giorgio Chiricos verpflichtet ist. Wie auch immer: Der philosophische Charakter verführt den Betrachter in die Tiefe des Werks, dessen Auswahl in der Schirn gemeinsam mit dem Künstler getroffen wurde. Im Zentrum der Retrospektive mit rund 40 Arbeiten stehen die riesigen Aquarelle, die im Duktus von Schriftrollen farbige Notationen enthalten. Sie sollen Clemente zufolge »enthüllen, verhüllen, sagen, ungesagt machen«. Es überrascht denn aber doch, ausgerechnet von Clemente zu vernehmen, dass er sich vor der Reinheit fürchte – die er selbst umkreist wie kaum ein anderer Zeitgenosse. Als weniger bekannte Sparte seines Schaffens zeigt Clemente auch fotografische Arbeiten, die sogenannte »Tapete« – diese Papierbahnen bannen sozusagen die transzendente Strahlkraft durch alltägliche Ateliermotive an die Wand der Realität.

Katalog:
Francesco Clemente. Palimpsest. Hrsg. von Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein, einem Interview zwischen Francesco Clemente und Pamela Kort, Texten von Derek Walcott und Andrei Voznesensky und Gedichten von Gregory Corso, Robert Creeley, Allen Ginsberg und Peter Handke. Deutsch/englische Ausgabe, 168 Seiten, 95 Abbildungen, Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, 2011.
ISBN 978-3-86984-225-7

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