Rezensionen, Buchrezensionen

Franz Neckenig: Stil-Geschichte der Kunst. Eine ganzheitliche Methode. Von der historischen Schönheit der Kunstwerke, Reimer Verlag 2010

Stil ist Ausdruck gesellschaftlicher Veränderung und somit Symbol historischer, sozialer, kultureller, künstlerischer und geistiger Inhalte. Franz Neckenig führt Geschichte, Gesellschaft, Kultur und Kunst in einer ganzheitlichen Methode zusammen. Walter Kayser setzte sich mit den Ausführungen genauer auseinander und kommt zu einem nicht befriedigenden Ergebnis.

Neckenig © Cover Reimer Verlag
Neckenig © Cover Reimer Verlag

Fangen wir vorn an, ganz vorn, am besten mit dem Titelblatt. »Stil-Geschichte der Kunst« steht da. Nicht eben wenig, was sich der Autor vorgenommen hat, denkt man und liest auch schon den Untertitel: »Eine ganzheitliche Methode«.

»Stilgeschichte«, das lässt an Faltenwurf und gotischen Schwung, an ionische Schnecken und schiefrunde Muschelform denken. Neu ist das nicht, höchstens wenn mit Bindestrich. Und »ganzheitlich«, - ist das nicht ein Wort aus dem Wellnessprospekt? Versprechen das nicht irgendwelche umfassenden Leib-Seele-Programme? Klingt das nicht etwas seltsam esoterisch nach dem Heilpraktiker um die Ecke, nach Lebensreform und Rudolf Steiner, nach dem ganz großen Wurf?

Doch wenn man das Buch aufschlägt und sich durch fast 400 Seiten hindurchkämpft, ist man etwas schlauer. Hier geht es nicht um einen Paradigmenwechsel in der Kunstwissenschaft, nicht einmal um eine neue Methode der Werkanalyse, sondern um den schlichten Versuch, Kunstwerke aus unterschiedlichen historischen Perspektiven und somit möglichst umfassend zu verstehen.

Der Verfasser Franz Neckenig, von 1975-2007 Dozent am »Stanford Study Center Berlin« und hier und da in der Berliner Erwachsenenbildung tätig, schlägt gern große Bögen und hat es mit großen Begriffen.
Er schafft es mühelos, auf ganzen vier Seiten einen Abriss sämtlicher kulturgeschichtlicher Epochen seit der Altsteinzeit zu geben und obendrein dabei noch vieles in Klammern anzudeuten. Doch wie so oft: Wo ganzheitlich gewaltige Zusammenhänge geschaut werden, fällt doch einiges durchs Netz und man nimmt es mit dem Detail nicht allzu genau.

Nun mag es bildungspolitisch verdienstvoll sein, wenn Neckenig expressis verbis gegen die Fernsehshow »Wer wird Millionär?« zu Felde zieht. Gegen punktuelles Wissen und geschicktes Raten möchte er die Forderung nach vernetzten Zusammenhängen setzen. Aber leider wird daraus keine konsistente Theorie, sondern eher ein name dropping und uferloser Datensalat.

Der Verfasser liebt es, immer wieder aufs Neue mit Oberbegriffen und Großstrukturen zu jonglieren, er legt geradezu eine Klassifizierungswut an den Tag. Sicherlich ist es manchmal unerlässlich, die fachliche Nomenklatur zu prüfen, der Vielfalt an Erscheinungen subsumtiv Herr zu werden und mit Einordnungen endlich für Ordnung zu sorgen; was aber Neckenig alle Naselang vorführt ist ein Trommelfeuer an taxonomischen Kategorien als Hohlformen. Ununterbrochen führt er so gewaltige Wörter im Munde wie »Gesellschaft«, »Natur«, »Intelligenz«, »Wirtschaft«, »Ideologie«, »Kulturelles«, »Soziales« und natürlich »Geistiges«. Das erinnert von Ferne an Joseph Beuys’ Schiefertafeln, mit denen er in den 70er Jahren seine endlosen Vorlesungen über den Zustand der Welt im Allgemeinen und die Forderungen nach direkter Demokratie durch Volksabstimmungen im Besonderen zu veranschaulichen wusste. Doch bei Beuys kam Kunst heraus, ein ästhetisch ansprechender utopischer Entwurf mit durchaus sinnlichen Qualitäten. Die dutzenden Grafiken des Franz Neckenig dagegen sind nichts als langweilige Powerpointfolien mit vielen Schweifklammern zwischen abstrakten Worten.

Abstraktion ist eben immer auch ein »Abziehen« und »Wegschauen von«. Die Wahrheit ist nun mal konkret, wie lange vor Brecht schon der Heilige Augustinus wusste. Deshalb folgt man nur zu bereitwillig dem etwas merkwürdigen Rat, den der Verfasser in seinem Vorwort gibt: Die Lektüre seines Buches sei getrost mit dem V. Kapitel zu beginnen, da hier »idealtypisch in das Lesen der Kunstformen« eingeführt werde. Anhand von drei Beispielen kann der Leser hier die Nagelprobe machen. Es wird zunächst die 1911/1912 durch den Architekten Hermann Muthesius für den Getreidegroßhändler Cramer gebaute Villa in Berlin-Dahlem behandelt, die heute das »Stanford Study Center Berlin« beherbergt. Für die Skulptur nimmt sich der Verfasser Max Ernsts Großplastik Capricorne/Steinbock vor und als Gemälde schließlich Ernst Ludwig Kirchners Gemälde Potsdamer Platz.

Diese exemplarischen Interpretationen führen aber nicht überzeugend vor Augen, was unter »ganzheitlicher« Werkinterpretation zu verstehen ist, sondern vermitteln eher den Eindruck, dass hier recht gut beschrieben, unterschiedliche Blickwinkel höchstens angedeutet und ansonsten absolut nur mit Wasser gekocht wird.

Nebenbei: Nichts gegen Lokalpatriotismus und schon gar nichts gegen unsere Bundeshauptstadt! Aber die Ausschließlichkeit, mit der Neckenig in seinem ganzen Buch nur über Kunstwerke spricht, die in Berlin zu sehen sind, steht schon in einem seltsamen Gegensatz zu dem umfassenden Anspruch, mit der er eine neue »Stil-Geschichte« zu begründen vorgibt.

Neckenig versteht Stil als eine symbolische Zusammenfassung aller erdenklichen Bereiche. Er spricht neudeutsch von einem »offenen Netzwerk«, folgt damit aber nur dem uralten Anliegen der Geistesgeschichtler des 19. Jahrhundert, die im »Stil« den (nachträglich) konstruierbaren »Ausdruck einer historischen Vereinigung von Sozialem, Kulturellem, Künstlerischem und Ideologischem« sahen.

Obgleich das Buch keineswegs der Entfaltung eines stringenten Gedankengangs folgt, fällt es nicht schwer, dieses zentrale Anliegen zu erfassen. In seinem Schreibstil pflegt Neckenig das sprunghafte Aneinanderklittern. Er beginnt immer wieder von neuem mit apodiktisch vorgetragenen Betrachtungen, schiebt Exkurse, Versatzstücke früherer Arbeiten, vor allem konkrete Werkbetrachtungen ein, die wie bei einer Collage unvermittelt den Gegenstand wechseln.

Dabei sind die Auseinandersetzungen mit konkreten Kunstwerken (vor allem im letzten Kapitel) noch das Lesenswerteste. Das Manko an wissenschaftlicher Klarheit aber als Frucht jahrzehntelanger Bildung und als fortgeschriebenes Lehr- und Lernwerk auszugeben ist ebenso unstatthaft, wie sich auf einen angelsächsischen Schreibstil hinauszureden.

Es ist erstaunlich, dass der sonst in Sachen Kunstwissenschaft so seriöse Reimer-Verlag diese Publikation angenommen hat.

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