Buchrezensionen, Ausstellungsbesprechungen

Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell

Bis 16. Februar 2014 zeigt das Darmstadtium in Darmstadt eine große Ausstellung zu Leben und Werk des Dichters, Revolutionärs und Naturwissenschaftlers. Walter Kayser hat sich Schau wie Katalog vorgenommen und berichtet von Verbindungen zu Georg Baselitz und weiteren Kuriositäten.

Seit Mitte der 70er Jahre ist es ein Markenzeichen von Georg Baselitz, dass seine Bilder mit dem Kopf nach unten hängen. Warum? Damit, so werden wir ästhetisch aufgeklärt, nichts anderes als die malerische Qualität eines Bildes intensiv betrachtet werden könne. Die andere Begründungsvariante knüpft an die Inspirationsquelle des frühen »Pandämonikers« an. Hatte das Oberlaulitzer enfant terrible nicht seinerzeit in der art brut und den Werken der Geisteskranken aus der Sammlung Prinzhorn seine befreienden Anregungen gefunden?

Auch der Katalog der großen Büchner-Ausstellung, die momentan in Darmstadt anlässlich seines 200. Geburtstag zu sehen ist, steht kopf. Ganz egal, ob man ihn von hinten oder vorn aufschlägt, – Bild und Text, die rechte und linke Buchseite sind wie bei einem Fehldruck ver-rückt. Möglicherweise soll das anhaltend an einen der fulminantesten Sätze der Weltliteratur erinnern. Dieser beginnt ganz normal, lullt den Leser sozusagen mit einer Entwarnung ein; und das allzu harmlose Wort »unangenehm« in der Mitte kann auch weiterhin beruhigen. Aber dann, urplötzlich, kippt er alles jäh ins Wahnsinnige um, in das Thema des Ich-Verfalls, der psychotischen Depersonalisation: »Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte«.

Mit solchen Sätzen, die sich wie Splitter ins Fleisch in unsere kulturelle Erinnerung gebohrt haben, könnte man pausenlos weitermachen. So ist dieser Büchner. Mal kommen seine Sätze als tiefschürfende Sentenzen daher, bitter aufblitzende Aperçus, dann als Kalauer, immer aber bildüberbordend, wie gemeißelt und desillusionierend. Georg Büchner ist ein Spezialist für solche salti mortali. Er kam just in dem Augenblick zur Welt, als gerade 92 000 Menschen dieselbe verblutend verließen – bei der »Völkerschlacht« in Leipzig gegen Napoleon. Nicht einmal 24 Jahre später starb auch er. Das »früh vollendet«, was in solchen Zusammenhängen oft genug fällt, ist allerdings das denkbar unpassendste Klischee. Und dennoch, es genügte ein schmales Œuvre, ein Corpus von gerade einmal 5 Schriften, allesamt »hingerotzt« und in der Textüberlieferung keineswegs sicher und vollendet, um ihn unsterblich zu machen.

Aus den wenigen hundert Seiten Textkorpus hat die Marburger Forschungsstelle eine kritische Gesamtausgabe von vielen 1000 Seiten gemacht, deren 18. und letzter Band erst kürzlich erschienen ist. Ohne Zweifel, diesen Büchner ein geniales Multitalent zu bezeichnen, wäre zu harmlos. Er war mehr und in allem extrem: Er war ein Revolutionär in vorderster Front, dem nur deshalb das Schicksal seine Freundes Karl Minnigerode erspart blieb, weil der Spitzel, der dessen Verhaftung am 1. August 1834 bei der ersten Verteilung des Hessischen Landboten veranlasste, für weitere Einsätze vorgesehen war. Mit 23 Jahren schon an der Uni Zürich habiliert, beobachtete und arbeitete er mit der Feder ebenso messerscharf wie mit einem Rasiermesser, betrieb eine Autopsie und Vivisektion des seelischen und sozialen Desasters der postnapoleonischen und postrevolutionären Illusionen.

»Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser«, schrieb er aus dem ungeliebten Gießen am 10. März 1834 an seine Verlobte und Pfarrerstochter Minna Jaeglé nach Straßburg. Und in seinem letzten Brief an sie vom 18. Januar 1837 aus Zürich: »Das Beste ist, meine Phantasie ist tätig, und die mechanische Beschäftigung des Präparierens lässt ihr Raum. Ich sehe dich immer so halb durch zwischen Fischschwänzen, Froschzehen etc. […] O, ich werde jeden Tag poetischer, alle meine Gedanken schwimmen in Spiritus.«

Diese Zusammengehörigkeit von politischem Aktivismus, radikaler, innovativer Dichtung und unerbittlichem Forscherdrang ist eine der Hauptbotschaften der Ausstellung. Gleichzeitig gibt es kaum einen Menschen, der so früh und so scharf die groteske Verdinglichung und den Missbrauch von wissenschaftlicher Skrupellosigkeit gegeißelt hätte. Sie war für ihn, wenn sie nicht das Menschliche im Auge hatte, eine einzige »aberratio mentalis partialis«, wie der Doktor sie im »Woyzeck« mit solch unüberbietbarem Zynismus diagnostiziert.

Man könnte vielleicht in Theodor Gericaults »Floß der Medusa« ein Pendant für solch eine postromantische »lost generation« gesehen. Dasselbe Interesse an Außenseitern, Wahnsinnigen; dieselbe kritische Kompromisslosigkeit. Aber Büchners Kunst ist weitaus radikaler, sperriger, ein Stachel im Fleisch noch heute. Sein Drama um den getriebenen Subproletarier Woyzeck ist mittlerweile das weltweit meist gespielte deutsche Stück. Kurzum: Es mag in Deutschland einen Goethe und Schiller geben und natürlich auch Literaturpreise, die nach ihnen benannt sind, – aber der bedeutendste, der Jahr für Jahr im Herbst vergeben wird, ist mit dem ungebrochen unerhörtem Dichter Büchner verknüpft.

Geht man die Stufen des Congresszentrums Darmstadtium in die Landesausstellung hinauf, so begegnet man zuallererst noch so einem dieser unvergesslichen, wie ins Gehirn gemeißelten Sätze: »Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht«. Man tritt ihn buchstäblich mit den Füßen, diesen Satz, denn er ist in einen langen Teppichläufer, der quer durchs Museumscafe geht, eingewoben. Der gehetzte, gepeinigte Woyzeck, dieser Dichter, der sein literarisches Schaffen mit dem Satz begann »Friede den Hütten, Krieg den Palästen!« einerseits und diese kalte Prachtarchitektur andererseits – passt das zusammen?

Mit Sicherheit hätte dem Gefeierten dieser »perfekte Veranstaltungsort für Green Meetings« (so die Eigenwerbung) nicht gefallen. Das Pendant zum Schloss ist ein postmodernes Gebäude, das nach dem künstlich erzeugten chemischen Element Eka-Platin benannt wurde. In nackten technischen Daten: 18.000 Quadratmeter Fläche, überdimensionierte Räume, wie üblich nirgends ein rechter Winkel – Bruttorauminhalt von zirka 110.000 Kubikmeter - verbauter 7300 Tonnen Stahl - 43.000 Kubikmeter Beton - endgültige Kosten im September vor drei Jahren 90,5 Millionen € usw. usw. Kein Aufwand ist für diese Schau offensichtlich zu groß gewesen. Immerhin handelt es sich um eine prestigeträchtige Landesausstellung. Da fließt das Geld, da lässt man sich nicht lumpen, – auch wenn das zu feiernde Landeskind seinerzeit sein Großherzogtum gehasst hat und dort steckbrieflich verfolgt wurde. Seine Glücksutopie erlebte er mit 18 Jahren in Straßburg, und fernab im Exil in Zürich starb er, – offiziell an Typhus, vermutlich aber eher an Überarbeitung und Schaffenswut.

Im Innern wird bald deutlich, dass die Kuratoren alle Register heutiger Ausstellungskunst ziehen. Zu diesem Zweck musste zunächst einmal das auf gigantomanische Dimensionen konzipierte Darmstadtium in eine Abfolge von engen »Hütten« verwandelt werden. Nun geht man wie durch die Kulissenwelt eines expressionistischen Films, durch ein verwinkeltes Labyrinth von kleinteiligen, verwirrenden Stiegen und miefigen Kammern – ein dunkles Zickzack, wie ein Spiegelkabinett auf der Kirmes.

Das alles liegt völlig im Trend einer Abkehr von der Objektpräsentation hin zur besucherorientierten, mit Erlebnisreizen aller Art aufwartenden Ausstellungsinszenierung. Teils ist hier des Guten zuviel getan, – etwa wenn man in eine Art Tunnelschlauch geschickt wird, um sich am Ende einem verdrehten, herausgeschnittenem Augenpaar gegenüber zu finden. (Kann man den »Lenz« sonst nicht verstehen?) Teils aber geht das Konzept durchaus auf. Denn von Büchner, dessen Geburtshaus im nahen Godellau erst vor wenigen Jahren zur (nachempfundenen) Gedenkstätte wurde, gibt es seine unvergesslichen Texte, die den Leser jeweils ohne Umschweife mitten ins pralle Leben hineinschmeißen.

Die Ausstellung begnügt sich keineswegs mit dem Zeigen von Objekten in Glaskästen. Ja, die wenigen Originalzeugnisse kann man in den abgedunkelten Räumen fast übersehen: die unvermeid-liche Haarlocke, die erst kürzlich entdeckte Porträtzeichnung, die unglaublich feine und zierlich-saubere Handschrift. Mitten in der Ausstellung reckt sich die groteske Silhouette einer echten Guillotine aus dem hessischen Dillenburg. Das ist nicht Büchner, aber doch seine Welt, die seiner Texte. Darauf kam es Kurator Ralf Beil in erster Linie an.

Ein Audioguide lässt das Glockenspiel erklingen, welches schon der Dichter in der Grabenstraße 39 täglich hören konnte. Der Rest ist ein inszenierter Erlebnisparcours in Großverpackung. Eine Wunderkammer, die wie alle von der Faszination einer bunten Vielfalt lebt, – mit Videoprojektionen, ausgeleuchteten Blickfängen, Klangcollagen, naturwissenschaftlichen und optischen Forschungsinstrumenten, medizinischen Präparaten. Eine nachempfundene theatralische Inszenierung. Wenn schon die Wohnstube des Militärarztes am Spital in Hofheim nicht erhalten ist, dann erfindet man sie halt samt Tapete einfach neu. Auf dem Tisch liegen die Bücher, die vor allem seine Frau Caroline Reiß, die Mutter des Dichters, eifrig gelesen hatte. An der Wand hängt das Weihnachtsgeschenk aus dem Jahr 1828, das rührend spätromantische Gedicht »Nacht« ihres Ältesten, des gerade einmal 15-Jährigen und auch auf dem Gymnasium nur positiv auffallenden Georg.

Noch einmal ein Wort zum Katalog. Ist der Inszenierungscharakter der Schau nur gelegentlich überzogen, so ist das beim Layout des Katalogs gewiss der Fall. Nicht weil er nur opulent wäre – Marke »untragbar«, da kaum in den Händen zu halten. Da hilft nur eine Tischplatte. Auch nicht wegen des Kopfstand-Einfalls, der sich recht bald als ein Einfall von geringer Verfallszeit entpuppt.

Die Kritik gilt keinesfalls der Textauswahl, im Gegenteil. Es war ein sehr guter Entschluss, alte und neue, zeitgenössische Quellen und aktuelle wissenschaftliche Beiträge, zu bestimmten Aspekten des Büchnerschen Werks nebeneinander zu stellen. So sind manche Ausschnitte aus Büchner-Preisträger-Reden und ältere Rezeptionsstimmen versammelt, etwa Celans Dankesrede von 1960 (»Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich«), H.M.Enzensbergers Ausführungen zum politischen Kontext des Hessischen Landboten oder Rudi Dutschkes verstecktes Selbstporträt über den »politischen Aktivismus des Verliebten und Verdammten« von 1979.

Ansonsten aber ist die Buch-Kunst hier nicht mehr an Leserfreundlichkeit ausgerichtet. Sie trumpft mit Gewichtigkeit und Auffälligkeit um ihrer selbst willen auf. So berühren sich mithin die Selbstverliebtheit und scheinbar puristische Kompromisslosigkeit von zeitgenössischen Architekturepigonen mit zeitgenössischem Buchlayout. Dabei ist es keine Frage, dass sich der Hatje Cantz-Verlag in den letzten Jahrzehnten, insbesondere seit die Kunsthistorikerin Annette Kulenkampff die programmatische Ausrichtung vornahm, auf bewundernswerte Weise immer mehr Verdienste erwarb und sich nicht ohne Grund in eine führende Position aller Kunst-Verlage schob.

Was aber ist davon zu halten, wenn die Schriftblöcke in keinem Verhältnis mehr stehen zu den freien Randzonen einer Seite? Wenn die Schrift blassblau auf getöntem Graugrund erscheint und sich auf diese Weise nur schwerlich abhebt? Wenn die Textspalten mit winziger Schrift nicht nur als parallele Blocksätze nebeneinander stehen, sondern wie versetzte Baukörper gegeneinander verkeilt sind? - Wozu brauche ich als Leser beispielsweise einen Pfeil nach unten (dafür aber kaum lesbare Seitenziffern, die sich halb im Innenfalz verbergen), um zu wissen, dass der Text noch nicht zu Ende ist? Was brauche ich als Leser eine Typografie im Stil spitzig kristalliner Runen, die sich quer zur Leserichtung stellen? Verstehe ich Büchner etwa nicht recht, oder brauche ich, weil ich für allzu begriffsstutzig gehalten werde, solch eine plumpe formale Analogie zu seinen spitzen Bonmots und Schärfen?

Ähnlich verhält es sich mit den Abbildungen. Sie haben überwiegend plakativen Charakter: Sie sind grob gerastert, flächenhaft, farblich verfremdet; sie springen ins Auge, verlieren durch unnatürliche Vergrößerungen an „Lesbarkeit“. Hier haben sich die Gestaltungselemente verselbständigt, die Form folgt nicht mehr der Funktion, sie überwuchert sie. Sie tritt willkürlich und ohne dienenden Bezug zur Aussage auf, sie hascht nach oberflächlicher Aufmerksamkeit, statt zur vertiefenden Lektüre einzuladen. – Büchner wird’s überleben!

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