Ausstellungsbesprechungen

Gert Fabritius, Holzschnitte, Übermalungen, Objekte (GARP)

BILD UND(G) KUNST Es ist fast schon als Trend zu spüren: Neben Galerien übernehmen immer häufiger Unternehmen Aufgaben in der Kunstvermittlung, die man gemeinhin nicht mit Kunst, sondern eher mit Geld und Wirtschaft in Verbindung bringt. Das ist erfreulich, zumal in Zeiten, wo es die Galerien zusehends schwerer haben, sich zu profilieren. Erstmals hat sich die Plochinger Business Akademie GARP ans Werk gemacht und zeigt nun Holzschnitte, Übermalungen und Objekte des rumäniendeutschen Künstlers Gert Fabritius (geb. 1940). Im folgenden sind Auszüge aus der Eröffnungsrede abgedruckt.

»(…) Stühle und Schiffe. Die Kunstgeschichte kennt zumindest das zweite Thema aus der langen Tradition des Seestücks, das zur größeren Gattung der Landschaftsmalerei gehört; ich werde darauf zurückkommen. Stühle sind da schon schwieriger einzuordnen: Interieurs zeigen sie häufig als meist unscheinbares Objekt, das man als selbstverständlich hinnimmt, eine Sitzgelegenheit eben. Da wird man schon hellhörig, wenn man sich die Stuhlbilder Vincent van Goghs ins Gedächtnis ruft, die sich mit den Namen des Malers selbst und seines Kollegen Paul Gauguin in ihrer schwersten zwischenmenschlichen Krise verbinden; und als Besucher der Stuttgarter Staatsgalerie steht uns vermutlich der Fettstuhl von Joseph Beuys plastisch vor Augen.

 

Angesichts von Fabritius’ Stühlen sagte der Malerfreund Lude Döring einmal lapidar: »Das sind ja gar keine Stühle, das sind Menschen.« Uns schwante es bereits: Auf einer Zeichnung etwa sind zwei Stühle zu sehen, der eine erhöht, erhaben oder wie ausgestellt von einem gelben Rahmen umgeben, der andere seitlich stehend und im hierarchischen Gefüge untergeordnet. Der Titel des Werks heißt Dialog. Das Thema liegt ihnen womöglich zu Füßen und darf als ironisches Aperçu gewertet werden - »Ostereier« steht dort zweifelsfrei zu lesen neben den ovalen Rundformen. Doch tut dies im Moment nichts zur Sache, wichtig ist festzuhalten: Die Stühle stehen im Gespräch miteinander. Hier dürfen wir getrost unterstellen, dass der Kontext weit über das Sitzmöbel hinausgeht.

 

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»Ich was durch wunder ûz gevarn / dô vant ich wunderlîchiu dinc. / ich vant die stüele leider lære stân, / dâ wîsheit, adel und alter / gewalteclîche sâzen ê.« In einem seiner Bilder hat Fabritius diese Verse Walthers von der Vogelweide eingeschrieben. »Ich fand die Stühle leider leer dastehen.« Für Gert Fabritius stellt der Stuhl eine jener undurchdringbaren Chiffren dar, die einen vielgestaltigen Deutungshorizont entfalten: Das Bild des Stuhls wird zunächst als Thron fassbar: mit hoher, gerader Rückenlehne, dann – ’mal abstrakt, ’mal auch ganz wörtlich zu verstehen – als Bildträger und nicht zuletzt als »transportable Heimat« (diesen Begriff übernimmt Fabritius aus dem Judentum, das die Thora so bezeichnet). Längst ist der »leere Stuhl« als hetoimasia zum stehenden Begriff geworden, mit dem man die nicht sichtbare, das heißt geistige Anwesenheit einer Gottheit bezeichnet. Im Orient war das würdevolle Symbol bereits bekannt, und in der Tradition Ghanas gibt es den sogenannten Goldenen Stuhl, der vom Himmel empfangen wurde und nicht einmal vom König der Aschanti genutzt werden darf. Das Christentum wiederum hat das Stuhlsymbol vom Königs- bzw. Kaiserthron auf den prophezeiten Messias umgemünzt, und noch die Bezeichnung des »Heiligen Stuhls« als Vergegenwärtigung des Papstes höchstselbst, den Stellvertreter Gottes auf Erden, zeigt die Dimension, die der Chiffre innewohnt. Jüngere Deutungen sehen den Stuhl auch im Kontext des Weltgerichts, und Walther von der Vogelweide fügt dem verwaisten Thron eine brisante politische Deutung hinzu: »Weisheit, Adel und Alter« nahmen einst auf den Stühlen Platz, nun erhebe – wie es weiter unten im Gedicht heißt, »der tumbe rîche«, der einfältige König, Anspruch auf den Stuhl. Das Gedicht läuft unter dem Titel Werteverlust.

 

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Bei Fabritius bleibt der religiöse und der politische Hintergrund gewahrt, ohne freilich zwingend auf alle genannten Aspekte Bezug zu nehmen, mit denen ich nur den Horizont ausleuchten wollte. Doch greift er andrerseits noch über dieses Themenfeld hinaus. Die Heilserwartung fasst Fabritius spielerischer auf, wobei er die Metaphorik in mehreren Abstraktionsstufen bis hart an die Gegenstandslosigkeit ausreizt. In dem phantastischen, übermalten Farbholzschnitt Irischer Stuhl beispielsweise entwindet sich ein Thron in zwei Materialisierungsstufen aus einem kreisförmigen Grund, aus dem man das typisch irisch-keltische Kreuz herauslesen kann. Man wird Fabritius nicht gerecht, wenn die christliche Ikonografie hier eindimensional gleich alles erklären müsste oder auch nur könnte. Wir sehen in Monumentaldrucken wie Große Throngeburt mit Rot die kulturhistorische und formale Bandbreite, die Gert Fabritius mit dem deutungsgeladenen Möbelstück bespielt. Und das eben auch mit dem Witz des souverän agierenden Künstlers, wobei mit »Witz« die ironische Brechung wie die gewitzte, sprich kluge Verstandesleistung gemeint ist: Vom Geburtsvorgang ist in der Tradition des sogenannten »Leeren Stuhls« nicht die Rede, die oben erwähnten Ostereier holen das mutmaßlich tiefsinnige Gespräch auf den Boden des Alltags zurück. Der Thron ist offenbar nicht nur Träger einer Bedeutung, sondern darüber hinaus auch Träger des Bedeuteten selbst.

 

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Der Stuhl als Mensch. Das klingt absurd. Genau das trifft jedoch den Kern von Fabritius’ Werk. Eine großartige Linie tut sich auf von Max Ernsts surreal-majestätischer Capricorn-Gruppe über Joseph Beuys’ Fettstühle bis hin zu den Thronbildern und jenen Stuhlobjekten von Gert Fabritius, die das Thema noch ins Dreidimensionale erweitern. Ein paar Beispiele dafür sind hier zu bewundern. Es handelt sich um plastische Druckstockcollagen, die die ganze gedankliche Tiefenräumlichkeit des Werks vor Augen führen. Begreifen wir den Stuhl als anthropomorphe Gestalt, werden die Negativformen der als Lehne bzw. Sitzfläche verwendeten Druckplatten folgerichtig zu den kreativen Ideen, die auf der Leinwand, auf Büttenpapier, gelegentlich auch auf Segeltuch reale Form annehmen. Lassen Sie mich diesen Befreiungsakt der Gedanken in die gedankliche Freiheit übertragen, mit der Gert Fabritius selbst seine Thronobjekte als Alter ego in Szene setzt. Verschraubt auf zwei Holzschienen mutiert der Stuhl flugs zur Sänfte, mit Büßerbänkchen wird es kurzerhand zum Beichtstuhl, zum Altar. Wer übrigens die Druckplatten eingehend betrachtet, wird dem unermüdlichen Steinewälzer Sisyphos aus der Mythologie begegnen.

 

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Es würde in dieser Schau zu weit führen, wenn man die Sisyphos-Thematik allzu sehr ausbreiten würde, die sich über die Stuhlobjekte, einige wenige hier zu sehende Arbeiten auf Papier und besonders in seinem Bildtagebuch regelrecht an-bahnt. In Ostfildern war sie vor kurzem noch in einer retrospektiven Ausstellung zu betrachten. Nur so viel: Sisyphos verkörpert im Werk Gert Fabritius das vergebliche menschliche Tun, mit erhobenem Haupte, ganz im Sinne des modernen Interpreten Albert Camus, der den Sisyphos-Mythos zum Inbegriff des Absurden gemacht hat. In der »täglichen Anstrengung«, so der Philosoph, »in der sich Geist und Leidenschaft mischen und gegenseitig steigern, entdeckt der absurde Mensch eine Zucht, die das Wesentliche seiner Kräfte ausmacht. Der Fleiß, den er dazu braucht, der Eigensinn und der Scharfblick vereinigen sich so mit der Haltung des Eroberers. Auch Schaffen heißt: seinem Schicksal Gestalt geben.« Das Heroenschicksal wird zur menschlichen Angelegenheit: Die »unnütze und aussichtslose Arbeit«, einen Stein den Berg hochzuwuchten, der immer wieder hinunterrollt, wird bei Camus und Fabritius zur bewussten, freudvollen Auflehnung gegen jegliche göttliche Vorsehung. Der irisch-französische Dramatiker Samuel Beckett schrieb: »Alles seit je. Nie was andres. Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.« Eine der beeindruckendsten Arbeiten dieser Ausstellung ist A Ionesco überschrieben, nach dem in Rumänien geborenen Gesinnungsgenossen Becketts, Eugène Ionesco, der mit seiner tragischen Farce Die Stühle das absurde Theater auf die Stühle übertragen hat, die im Laufe des Stücks mehr und mehr Besitz von der Bühne ergreifen und die ausweglose Situation unsres Daseins drastisch vorführen. Fabritius, der in Bukarest als Rumäniendeutscher geborene Künstler, malte das grandiose Bild 1996, die Ergänzung bei der Datierung verrät jedoch, dass der Landsmann des 1994 verstorbenen Dramatikers das Gemälde im Vorgriff auf unsre Ausstellung noch einmal vorgenommen und überarbeitet hat – ein Zeichen der immensen Bedeutung, die er dem Motiv des Stuhls, dem Autor und dessen Einbindung in die Theorie des Absurden beimisst.

 

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Längst haben wir nun aber eine Ebene erreicht, die nach mehr als Stühlen verlangt, welche doch dem Statischen verhaftet bleiben, während hier kein bisschen Stillstand zu spüren ist. Es ist ein ästhetisches Vergnügen zu sehen, wie Fabritius den altehrwürdigen Holzschnitt, von Grieshaber ausgehend, weiterentwickelt hat, um dem Motiv formal gesehen Beine zu machen. Schnitt der Holzschneider von der Alb die Leerform noch mit dem Messer aus der Druckplatte, scheut Fabritius nicht den Einsatz von Trennschleifer und Kettensäge, um in einem parataktischen Staccatostil Schraffuren ins Holz zu schlagen, und er setzt weniger auf die Passgenauigkeit der aufeinanderstoßenden Farbflächen als auf die Transparenz der Überschneidung. Ergebnis ist eine nicht nur zeichnerisch-unmittelbare, sondern auch eine rasante Ausformulierung. Die Stühle, sprich: die Menschen strotzen förmlich vor Dynamik, drängen aus sich heraus, wollen raus.

 

Hinaus auf die Hohe See! Wir machen einen Sprung und sind bei einem anderen großartigen Bildzyklus, den Gert Fabritius überschrieben hat mit »Mutmaßungen über die Arche«. Die Zielrichtung ist klar, auch wenn der eine oder andere hier die Ausfahrt Jasons mit seinen Argonauten ins Spiel bringen mag. In großartigen, hier übermalten, dort untermalten Holzschnitten verdichtet sich das Aufbruchsthema, das latent bereits angeklungen ist. Es handelt sich um keinen Ausflug wohlgemerkt, hier geht es um die Rettung vor der Flut, der Ausweg aus dem grassierenden Werte- und Weltverlust, der Flucht aus dem Unvermeidlichen. Sisyphos ist nicht an Bord, wohl aber Himmelsleitern, die im Zeichenrepertoire von Fabritius oft auftauchen und die Überleitung vom Mythos zur Religion darstellen und für den Austausch zwischen der irdischen und der transzendenten Welt stehen. Allerdings ist das Dasein zu komplex und auch zu absurd, als dass ihm mit einem banalen Oben-Unten-Schema Genüge getan wäre. Die Leiter weist nicht allein auf die lichten Sphären einer phantastischen Engelswolkenburg: Hier, auf diesen unzähligen Booten, werden die Ideen in die Weite hinausgetragen. Und wen wundert es, dass auch die Stühle wiederkehren und mehr oder weniger unbemerkt an Bord gegangen sind, weil sie mitwollen?

 

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Die brüchige, zuweilen scheiternde Hoffnung fährt auch mit, wenn wir nur bereit sind, die Zeichen zu lesen. »Denn wir sind nur das, was wir nicht vergessen haben«, so untertitelte Fabritius vor wenigen Jahren eine Präsentation des Schiffszyklus in Hamburg. Bedeutungsschwer schwebt die teils bedrohlich skelettierte, teils überbordend-kraftstrotzende Traumflotte dahin. Wir wissen, dass die Arche glücklich auf dem Trockenen landet, wie übrigens auch das allgemeinere Schiffsmotiv im Matthäusevangelium Rettung im Sturm verspricht. Dagegen geht es in der anderen bekannten Sintflutgeschichte schief: Im Gilgamesch-Epos sucht der Held nach dem ewigen Leben – vergebens. Das sind sie, die Mutmaßungen, wer kennt schon den wirklichen Ausgang einer symbolischen Handlung? Die Bildtitel selber geben weitere Einblicke in den grenzenlosen Horizont des Wassergangs: Lepanto heißt etwa eines der Bilder mit dem Bezug auf jene berühmt-berüchtigte Seeschlacht, die die christlichen und mohammedanischen Seemächte 1571 von ihren Ruderbooten aus ausfochten.

 

Aber auch die scheinbar beliebig ins Bild, aufs Deck geschobenen Stühle gemahnen uns daran, um wen es uns während dieser ganzen Ausführungen ging. Die Malerei von Gert Fabritius kreist um das Bild des Menschen, der bei aller Gewissheit von der Absurdität seiner Existenz eingebunden bleibt in unsre mythisch und religiös fundierte Kultur. Fröhlichen Mutes, nicht ohne Ironie, fördert der Künstler, gleichsam Humanist und – im besten Sinn – Moralist, sie in einem Akt der Selbstbespiegelung zutage. Immer schon und den meisten Völkern waren Schiffe ein gängiges Bild für das Leben, an dessen Ende das Boot, die Kogge, der Nachen zum Totenschiff werden. »Das Schiff der Menschheit, meint man«, so schrieb Friedrich Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, »hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt …, je mehr er als das Genie unter den Tieren erscheint, umso näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntnis kommen: Dies tut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er meint dies noch mehr durch seine Religion und Künste zu tun«. Nietzsche hält dies im folgenden für einen Irrtum, der den Menschen erst »so tief, zart, erfinderisch gemacht« habe, »eine solche Blüte, wie Religionen und Künste, herauszutreiben«. Bild und Bildung, Darstellung und Erkenntnis bedingen einander, Nietzsche setzt noch das sich zur Einheit fügende Gegensatzpaar einer »logischen Weltverneinung« und der »praktischen Weltbejahung« hinzu.

 

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Und wo geht die Reise hin mit diesen ›Schiffen der Menschheit‹? Kann ein absurder Weg ein Ziel haben? Oder gibt es vielmehr ein Ziel, aber gar keinen eigentlichen Weg, wie es Kafka gesehen hat? Er konstatierte, was wir Weg nennen, sei Zögern. Gert Fabritius hält hier, scheint mir, die Waage. Nur eines ist sicher, ein Zurück schließt er aus – und noch einmal zitiere ich Friedrich Nietzsche: »Dass Gott erbarm! / Der meint, ich sehnte mich zurück / Ins deutsche Warm. / Ins dumpfe deutsche Stuben-Glück!« So steht es auf der Zeichnung Minotaurus für F. N., mit dem ins Bild notierten Hinweis »Minotaurus, ein Anhänger Nietzsches«. Von Minotaurus, halb Stier, halb Mensch, den Picasso und Dürrenmatt in der modernen Kulturgeschichte etabliert haben, war bislang noch nicht die Rede, und ich werde mich hüten, diesen heimlichen Dritten im Bunde mit Sisyphos und Gert Fabritius näher zu charakterisieren – das Bildtagebuch von Gert Fabritius, von dem ein Auszug im Faksimiledruck erschienen ist, kann davon trefflicher schildern. Eine Ahnung, welche Sehnsüchte und Ängste diese Hüter der Stühle und Weltreisende im ungewissen Meer des Daseins umtreiben, vermittelt vielleicht jener Nietzsche, der die zitierte Absage an das dumpfe Stubenglück als Antwort auf sein wohl bekanntestes Gedicht formuliert hat, in dem es heißt: »Die Krähen schrein / Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein – / Weh dem, der keine – Heimat hat!« Fabritius\' Werk gibt Rätsel auf, deren faszinierender Vielschichtigkeit und deren Bildungshorizont wir uns nicht entziehen können. Wer bei deren Lösung jedoch nach Eindeutigkeit verlangt, nimmt ihnen auch ein Stück ihres Zaubers. (…)«

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