Der Expressionismus hat trotz seiner Begrenzung auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts an seiner Aktualität und Beliebtheit verloren. Mit der Ausstellung »Gesamtkunstwerk Expressionismus« wird diese Strömung in der modernen Kunst und die schöpferischen Synergieeffekte im Schaffen von Nolde, Kirchner, Klee & Co ausführlich dargestellt. Günter Baumann hat es sich daher nicht nehmen lassen, einen weiten Blick in diese Schau zu werfen.
Mit einem Rundumschlag haben es sich Ralf Beil und seine Mitstreiter von der Mathildenhöhe zum Ziel gemacht, den Expressionismus von der Einzelbetrachtung von Holzschnitt oder den einschlägig bekannten Künstlergruppen – die Brücke, der Blaue Reiter – geradezu zu befreien, um den Blick frei zu machen auf eine Bewegung, die alle Sinne reizte und alle Gattungen gleichermaßen umfasste. So neu ist dieses Konzept nicht, aber es dürfte noch nie eine so dichte und eindringliche Ausstellung zum Thema gegeben haben wie das »Gesamtkunstwerk Expressionismus« auf der Mathildenhöhe, die von der Architektur und der topografischen Utopie her prädestiniert ist, eine solche Schau im würdigen Ambiente zu zeigen. Nicht wenig ist es jedoch auch der Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main zu danken, dass die wuchtige Ausstellung zum Highlight des Winters geworden ist: Denn es war der Film, der Kunst und Leben, aber auch die Gattungen Literatur/Theater, Malerei und Architektur (Bühnenbild), Tanz und Musik sowie die Befindlichkeiten Rausch und Bewegung zusammenbrachte. Dazu kommen die Doppelbegabungen beziehungsweise die übergreifenden Interessen, die in der Sache, sprich in der Faszination für den expressiven Gestus liegen, der keine Selbstbeschränkung zuließ. Ob man nun Ernst Barlach oder Oskar Kokoschka in Zukunft auch deutlicher als Dramatiker akzeptiert als bisher, oder ob man Arnold Schönbergs künstlerisches Talent wirklich mit seiner Musik in Einklang bringen wird, sei dahingestellt. Wichtig ist der lange Atem, den die Megaschau gewährt, und den der Betrachter mitbringen muss, um das grandiose Feeling auch zu spüren, das diese für die deutsche Geistes- und Kunstgeschichte so eminent wichtige Stilrichtung verdient hat. Zu leicht nimmt man in der Tat – wie Beil bedauert – einen Holzschnitt von Kirchner & Co. als Einzelblatt ins Visier und verkennt, dass es nur ein Mosaikteil eines großen Ganzen ist, insbesondere bei Ernst Ludwig Kirchner, dessen Mansardennische im Berliner Atelier vor Augen führt, dass alles ins persönliche Universum gehört: Tisch, Sofa, Decke, Vorhang, afrikanischer Sitzhocker und andere Versatzstücke.
Epochal ist der Gesamteindruck auch deshalb, weil hier das Gesamtkunstwerk nicht wie im Jugendstil oder in anderen Bewegungen zur Jahrhundertwende auf ein ganzes Weltbild abzielt, sondern auf die Erkenntnis, dass die Welt als Ganzes im Begriff ist zugrunde zu gehen, und dass allenfalls ein Rückgriff auf archaische (Un-)Ordnungen auch einen Seelenfrieden herbeiführen kann. Hier ist nichts bloß Dekoration, alles ist Inbegriff einer vor Verzweiflung strotzenden Lebensgier. Immerhin darf man nicht vergessen, dass der Expressionismus wie die Zeitläufe auf den Weltkrieg zuführen, dass er in diesem dann seinen eigentlichen Ausdruck findet, und dass der Stil seine Zeit bis ins Nachkriegselend begleitet, um sich schließlich aufzulösen
450 Exponate vertiefen in Darmstadt den Blick auf eine Zeit, deren Kunst in der Rückschau allmählich in einer Kalenderblatt-Ästhetik zu verwässern drohte. Malerei und Zeichnung, Film und Foto, Text und Plakat, Architektur- und Musikentwurf, Skulptur und Tanz beleuchten alle Ecken und Enden des Expressionismus. Dass man nicht nur das Gesamtbild wieder zurückgewinnt, das ja nicht wirklich unbekannt gewesen ist, sondern auch aus der Gesamtschau heraus neue Entdeckungen machen kann, zeigen etwa die hinreißenden Bühnenbildentwürfe von Otto Reigbert, die Ganzkörpermasken der Tänzerin Lavinia Schulz oder der Schmuck von Karl Schmidt-Rottluff. Es ist kaum möglich, alles auf einmal zu erfassen, was hier versammelt wurde. Über 70 europäische Leihgeber sind beteiligt, über 100 Künstler aller Fachrichtungen sind vertreten, darunter: Ernst Barlach, Rudolf Belling, Anita Berber, Otto Dix, Josef Fenneker, George Grosz, Wenzel Hablik, Paul Hindemith, Ernst Ludwig Kirchner, César Klein, Oskar Kokoschka, Fritz Lang, Wilhelm Lehmbruck, Ludwig Meidner, Erich Mendelsohn, Hans Poelzig, Mies van der Rohe, Hans Scharoun, Egon Schiele, Karl Schmidt-Rottluff, Arnold Schönberg, Lavinia Schulz, Bruno Taut, Robert Wiene, Mary Wigman – die Bandbreite ist zu ahnen, aufgrund der überzeugenden Ausstellungspräsentation zu spüren und im fulminanten Katalog nachzublättern. Nach den Horrormeldungen über den Umgang mancher Expressionisten mit minderjährigen Modellen, der ein höchst unangenehmes Licht auf deren Utopieverständnis und Menschenbild wirft, tut es gut, den Blick aufs Ganze zu erhalten.
Zur Finissage geleitet der Direktor der Mathildenhöhe, Ralf Beil, noch einmal durch die Ausstellung. Außerdem zeigt das Haus am 13. Februar 2011 um 18 Uhr als Uraufführung das musikalische Dramolett »Kuno Kohns Capriccio« mit einem Libretto von Hermann Kretzschmar nach Alfred Lichtenstein.
Die Ausstellung »Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der "Brücke"-Künstler« ist nach ihrer Station in Hannover vom 6. Februar bis zum 1. Mai 2011 in der Stiftung Moritzburg Halle/Saale zu sehen.