Buchrezensionen

Graphic Novel of the Month: Lars Fiske: Kurt Schwitters: Jetzt nenne ich mich selbst Merz. Herr Merz, Avant 2013

Unter dem Kennwort "Merz" entwickelte Kurt Schwitters (1887-1948) ein eigenes dadaistisches "Gesamtweltbild", dass Bourgeoisie und Dadaisten gleichermaßen schockierte. Angereichert mit vielen schrägen Anekdoten, lädt Fiskes Graphic Novel zu einer fundierten wie informativen Entdeckungsreise in diesen Kosmos ein. Rowena Fuß weiß mehr.

Der norwegische Illustrator und Grafik-Designer Lars Fiske beschäftigte sich mehrere Jahre intensiv mit Leben und Werk des kontroversen Merz-Künstlers. Er recherchierte und sammelte Zitate von und über ihn und nahm sie als narratives Fundament seiner Bildergeschichte. Sie beginnt im ICE nach Hannover, wo Fiske und sein Kollege Kverneland den Merzbau im Sprengel Museum besichtigen. Und nicht nur dort: auch die Merz-Bauten im norwegischen Hjertøya und Lysaker sowie die „Merz-Barn“ im englischen Ambleside werden aufgesucht. Parallel dazu erzählt der Illustrator Schwitters’ Leben in Rückblenden.

Mit einem „Uäh“ landet das eckige Bündel, das den gebürtigen Hannoveraner darstellen soll, auf der roten Zeitleiste − und zwar genau bei der Zahlenkombination 1887. 36 Jahre später sollte es zum „Fümms“ kommen. Auf einem Merz-Abend speit Schwitters dem erstaunten Publikum seine »Sonate in Urlauten« entgegen: »Fümms bö wö tää zää Uu, pögiff, Kwii Ee […]«. Nicht nur die Zuhörer damals fühlten sich gestört: Was der Irre auf der Bühne zu suchen hat, fragte ich mich auch. Fiske klärt uns schnell mit einem Infokasten über die Merzdichtung auf. Erstens: Sie ist abstrakt. Zweitens: Worte und Sätze sind in der Dichtung nichts weiter als Teile. Drittens: Nicht das Wort ist ursprünglich Material der Dichtung, sondern der Buchstabe. Immer wieder hilft er dem Leser so durch die Erzählung. Hinzu kommen rote, rechteckige Pfeile und Zitate-Sprechblasen, die ebenfalls eine Leitungsfunktion haben. Sinnvoll sind auch Fiskes Zeichnungen ins kontrastreiche Konzept gebettet: Konsequent und klar mit Zirkel und Lineal konstruiert, atmen sie den Geist von Konstruktivismus (Piet Mondrian) und Dada (George Grosz). Besonders die Szenen mit der Berliner Dada-Gruppe kennzeichnet eine karikatureske Skizzenhaftigkeit, die die konstruktivistische Geometrie aufbricht.

Der schrullige Kleinbürger Schwitters ist schon ein seltsamer Comic-Held. Auf einer Reise nach Lobositz packt er mitten auf der Straße seinen Koffer komplett aus, weil ihm gerade einfällt, dass eine mitgeführte Collage ein wenig blaues Papier in der linken unteren Ecke bräuchte. Die mitgereisten Dadaisten Raoul Hausmann und Hannah Höch sind darüber einigermaßen erstaunt. Anderen ist er richtiggehend suspekt. Richard Huelsenbeck, Dada-Mitbegründer, findet Schwitters nicht radikal genug und bezeichnet ihn einmal als »Caspar David Friedrich der Dada-Revolution«. Rückblickend stimmt das nicht, denn Schwitters’ vielfältigen Aktivitäten als Collage- bzw. Assemblagekünstler, Schriftsteller und Typograf suchten unter den Zeitgenossen ihresgleichen. Er fand zudem in der Kombination von Dada und Konstruktivismus sein eigenes Leitprinzip: den Merz. Ziel war es, Beziehungen zwischen allen Dingen der Welt zu schaffen. Den Hintergrund dafür bildete vor allem die Lebenswelt-Philosophie Henri Bergsons sowie aktuelle Kunstdebatten, aber auch sein Interesse an Goethezeit und Frühromantik waren prägend für sein Werk.

Trotz Schmähung durch einige Kollegen merzt Schwitters also mit Optimismus weiter. Und das ist schon rührend, denn auch später, während des Dritten Reichs, wird er herabgewürdigt: Als entarteter Künstler flieht er nach Norwegen, wo er bereits einige Sommerurlaube verbracht hat, dann nach England. Überall hinterlässt er seine Merz-Bauten, die Dreh- und Angelpunkte seines Lebens und auch des Comic sind. Zuerst lediglich eine Säule aus allen möglichen Materialien − von Spiegeln, Bettfedern, Zeitungen bis hin zur Zuckerdose war alles dabei −, erreichte die Skulptur bald raumgreifende Dimensionen. Sie war hohl und die Innenwände mit Eingängen zu Grotten perforiert. Hannah Höch berichtet, dass es eine besondere Ehre war, wenn Schwitters einem Gast erlaubte, eine Höhle zu gestalten. Reliquien einer längst vergangenen Kunstrichtung wurden übrigens von Schwitters ganz oder teilweise überdeckt, um zu zeigen, dass sie passé sind. Hinter einer solchen Verdeckung befand sich auch einmal der Hausschlüssel von Kate Steinitz, eine befreundete Künstlerin. Schwitters hatte ihn einfach eingebaut.

Nach der Lektüre muss ich mich einer Bemerkung von Hannah Höch anschließen, die sie einst über den Künstlerkollegen machte:»Mit wenigen Worten ist so ein komplizierter und widerspruchsvoller Mensch, wie Schwitters es war, überhaupt nicht anzugehen. Künstler durch und durch. Von der Kunst besessen. Im Gebrauch seiner künstlerischen Mittel hemmungslos wie keiner seiner Zeit. Und dabei war seine bürgerliche, ja spießbürgerliche Schale noch echt.«

Es ist Fiske gelungen, diese Biografie lebensecht und nachvollziehbar aufs Papier zu bringen. Mehr noch, er zeigt, wie faszinierend Merz ist.

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