Ausstellungsbesprechungen

Graziella Drößler & Wolfgang Schmitz, Unter See

Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung. Das »Z« im See, wie es sich auf der Einladungskarte zeigt, ist gewollt, und es ist zugleich ein Wink des Zufalls. Mit diesem Rätselspruch begrüße ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren recht herzlich zur Eröffnung der Ausstellung mit Arbeiten von Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz, die ich an dieser Stelle auch begrüße, genauso wie Frau Kränzl, die ihre Galerie am Untersee geöffnet hat, um uns die Gelegenheit zu geben, unseren Gedanken mit den Bildern von Drößler und Schmitz freien Lauf zu lassen, ihnen womöglich Sprünge zu machen und sie gerade dadurch aufzuhalten. Die beiden Künstler, denen ich mich im Folgenden widmen darf, zeigen uns, dass der menschliche Geist – und nur der – Berge versetzen und auf einem Blatt Papier eine globalisierte Vorstellung geben kann. Wenn ich Ihnen ein Stück meiner Faszination für eine solche Kraft der Imagination weitergeben kann, würde mich das außerordentlich freuen.

Eine »Belle Alliance« haben Sie längst geschlossen: Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz. So zumindest lautete vor fünf Jahren eine gemeinsame Ausstellung, und es wird im Rückblick darauf schnell klar, dass hier der historische Begriff und ein persönlicher Umgang gleichermaßen Zeugen eines Gedankenaustausches wurden. Drößler und Schmitz greifen in ihren Ausstellungen beziehungsreich in das kulturell und topografisch verwurzelte Geflecht von »Land und Leuten« ein – ihre aktuellen Arbeiten, die wir hier sehen, lassen sich so vor der realen Kulisse des Untersees im Bannkreis der Höri, der Pfahlbauten und nicht zuletzt der Witterung und der literarischen Atmosphäre als Landschafts-, Historien- und Stadtbilder verstehen. Doch bewahren die freien Assoziationen und Erinnerungsfelder, Poesien und privaten Mythen sowohl die Malerei Graziella Drößlers als auch die Zeichnungen von Wolfgang Schmitz davor, bloße Abbilder zu sein. Vielmehr nehmen sie die Energien und Schwingungen ihres Umfelds zum Anlass, sich bildnerisch im übertragenen Sinn mit diesem Netzwerk des Seins auseinanderzusetzen.

 

Hermann Hesse – wer könnte hier auf ihn verzichten – beklagte gleich nach seiner Ankunft in Gaienhofen 1904 das mangelnde Gespür für die Nuancen. »Auch pflege ich«, so der Literaturnobelpreisträger, »auf die Darstellung des Landschaftlichen, des Atmosphärischen usw. besonders zu achten, was nur wenige goutieren« – heute dürfte die Bewertung günstiger ausfallen. Von Hesse wird noch einmal zu sprechen sein. Ich halte hier einmal fest, dass in den Gemälden von Graziella Drößler und in den Zeichnungen von Wolfgang Schmitz grade das atmosphärische Element gesucht wird, das aus dem konkreten Bezug erwächst, diesen aber dann nicht mehr braucht. Faites vos jeux! Wir haben es zudem mit einer Wahrnehmung der Postmoderne zu tun, die den Blick spielerisch einsetzt, neue Bezüge herstellt, die Koordinaten der kontextuellen Treue verschiebt, ohne untreu zu werden.

 

Zurück zum See mit seiner semantischen Weite. Hier am Bodensee liegt das Thema auf der Hand. Der See hat die Landschaft geprägt, er hat das Leben der Menschen bestimmt. Wer ihm spielerisch kommt, kann die Dimensionen weiter ausschöpfen. Im Deutschen haben wir nicht nur den männlichen Begriff des Sees, wir kennen auch »die« See, auf ein größeres Gewässer gemünzt, weniger gebräuchlich für das Meer. Und es ist ja nicht nur selbstironisch zu verstehen, dass wir auf unser Schwäbisches Meer nichts kommen lassen. Das Künstlerpaar Drößler/Schmitz arbeitet regelmäßig an der Schelde in Zeeland, im Grenzgebiet zwischen dem flämischen Teil Belgiens und den Niederlanden. So ist ihnen wohlbekannt, dass »zee«, mit »z« geschrieben, soviel heißt wie »Meer« und umgekehrt das niederländisch-flämische »meer« dem deutschen Wort »See« entspricht. Es wäre freilich nicht genug, wenn der Ausstellungstitel »UNTER SEE / ZEE LAND« auf der begrifflichen Ebene stecken bliebe oder gar im Spiel mit dem Ton-Fall ausklingen würde.

 

»UNTER SEE / ZEE LAND« ist sozusagen ein topografisches Angebot, eine Verortungsmöglichkeit – hier der Untersee des Bodensees, dort Zeeland an der Schelde. Was heißt das anderes als das Leben im Kontext. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen bzw. wahrnehmen. Dem einen mögen die Windräder auffallen, weil er sich technisch oder auch ästhetisch dafür interessiert – nebenbei bemerkt hängt der Begriff »Ästhetik« mit Wahrnehmung und nicht ursprünglich mit Schönheit zusammen – oder weil er, als Durchreisender mit ganz anderem beschäftigt, plötzlich aufblickt und ein Windrad entdeckt, vielleicht dazu prädestiniert, weil er zu Hause, sagen wir beispielsweise in den Niederlanden, eine Reihe Windräder vor dem Fenster stehen hat. Dem anderen rücken die Windräder ins vage Hintergründige, indem er den Wind selbst spürt, weil er hergekommen ist, um auf dem Bodensee zu segeln oder weil er anfällig ist für einen störenden Luftzug oder weil er eben in Homers Odyssee von den Winden gelesen hat, genauer vom König der Winde, Aiolos, der über die Winde wacht und sie als Brise, Bö oder brausenden Sturm entlässt. Anderen drängt sich gar anstatt eines Windgangs oder Luftzugs die pure Pressluft auf, oder ein Baukran kommt unvermittelt ins Bild, wo man vielleicht den Schaft eines Windrads erwartet. Wer weiß. Schauen sie sich in dieser Ausstellung um: Sie werden alles entdecken. Egal wo wir sind, wir schleppen sozusagen Berge von Assoziationen und Erinnerungen mit uns herum. Einer antiken Weisheit zufolge und um das Wassermotiv noch einmal zu bemühen, ist klar: Wir steigen nie in denselben Fluss, oder um das Spielerische zu betonen: Die Karten des Lebens werden immerzu neu gemischt.

 

Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz machen genau diese Unwägbarkeit des Ortes zum Thema ihrer Kunst. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass wir den Blick auf etwas Bestimmtes allgemeingültig umsetzen können; dazu müssten wir unser Gehirn ausschalten. Abgesehen davon zeigt sich uns das Gesehene selbst immer wieder neu. Von Einklang kann keine Rede sein. »Alles dies hat etwas Märchenhaftes, Fremdes, Entrücktes«, wusste Hermann Hesse, »und für Augenblicke empfindest du das Symbolische darin erschreckend deutlich. Wie ein Ding dem andern und ein Mensch dem andern, sei er wer er wolle, unerbittlich fremd ist, und wie unsere Wege immer nur für wenig Schritte und Augenblicke sich kreuzen und den flüchtigen Anschein der Zusammengehörigkeit, Nachbarlichkeit und Freundschaft gewinnen …« (Zitat Ende). Drößler und Schmitz stellen das scheinbar Vertraute dar und verknüpfen es mit dem Fremden, mit dem Erinnerten oder mit etwas Erfundenem. Sie machen sich und uns nichts vor: Was sie darstellen, ist die Fiktion dessen, was sie sehen, und sie zeigen nicht auf etwas Dargestelltes und nötigen uns, genau das zu sehen, was sie sehen. Man mag das als Botschaft verstehen: Sieh her, das ist, was wir wahrnehmen, womit wir deine Augen öffnen – doch sehen musst du selber.

 

Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz folgen der gleichen Spur, jeweils auf ihre Weise – sie als Malerin, er als Zeichner. Und wenn sie, wie wir noch sehen werden, beide die Geschichte und den Mythos in ihre Arbeit einbinden, so beruft sich Drößler oft auf das parallel geführte fotografierte bzw. reproduzierte, gedruckte Bild, auch das Schriftbild, während Schmitz seinen Zeichnungen literarische Bilder oder kunstgeschichtliche Zitate raffiniert unterschiebt. Die Auseinandersetzung mit demselben Thema führt natürlich auch zu inhaltlichen Überschneidungen im Schaffen beider Werke, die wir also meist auch im Einklang miteinander sehen müssen. In der Wirkung unterscheiden sich die Arbeiten beider Künstler dadurch, dass Graziella Drößler eine Balance zwischen dokumentarischer Treue und freier bis hin zu abstrakter malerischer Form erreicht, und Wolfgang Schmitz eine vielschichtige, chiffrenreiche Skizze der Wirklichkeit entwirft.

 

Graziella Drößler wurde 1953 im sauerländischen Niedermarsberg geboren und studierte von 1973 bis 1981 an der Kunstakademie Düsseldorf. Dort vermittelte ihr Lehrer Lambert Maria Wintersberger vermutlich den distanzierten Blick auf das eigene künstlerische Schaffen; der vom Informel herkommende Rolf Sackenheim förderte sicherlich die Experimentierfreude; und als Meisterschülerin des grandiosen Bildhauers Erwin Heerich, der seine Objekte architektonisch-streng, ja logisch konzipierte, könnte Drößlers Neigung herrühren, die rationalistische Wahrnehmung bis ins Grenzgebiet abstrakter Subjektivität auszureizen. Dass die Malerin ihren Gegenstand in Ateliermodellen nachbaut, um mit dem Motiv spielen zu können und es sozusagen als Erinnerungsstütze parat zu haben, mag Plastiken von Heerich evozieren. – Neben einem Arbeitsaufenthalt in der damaligen Sowjetunion 1987 nahm Graziella Drößler mehrere Lehraufträge und Gastprofessuren in Dortmund, Herdecke, Bremen und Düsseldorf wahr.

 

Um ins Bild zu kommen, greife ich zunächst das Pfahlbaumotiv heraus, das Graziella Drößler für diese Ausstellung in Gaienhofen mehrfach aufgenommen hat. Nüchtern konfrontiert sie uns mit Dokumentationsmaterial, wie es uns in Fachbüchern beziehungsweise auf Infotafeln begegnet. Eines der Schaubilder zeigt uns die Schemazeichnung von Pfahlbauten am und im Wasser – es handelt sich um verschiedene Theorien, wie sie seit 1854 bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts diskutiert wurden: ob nun die auf Pfählen stehenden Häuser immer im Wasser, im Uferbereich, allein auf dem Land oder sowohl auf dem Trockenen und im Wasser errichtet worden sind. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist hier gar nicht entscheidend. Vielmehr liegt die Betonung auf dem Interesse an den Bauten selber, die über Jahrhunderte die Phantasie der Menschen angeregt haben, die das Leben in der Region in längst vergangenen Zeiten verlebendigen und die zugleich auch den Zweifel an der Objektivität der Geschichte im Besonderen und Allgemeinen wachrufen. Immerhin haben wir es mit Rekonstruktionen zu tun, denen letztlich auch nur Theorien zugrunde liegen.

 

Martin Walser greift in seiner Meisternovelle „Ein fliehendes Pferd“ darauf zurück, wo es mit einiger Überspitzung heißt: »Der Schwindel ist …, dass dort überhaupt nie Pfahlbauten standen; diese nachgemachten Pfahlbauten täten aber so, als seien da mal welche gewesen … Überhaupt nie und nirgends am oder im Bodensee habe es Pfahlbauten gegeben.« (Zitat Ende) Klarer Fall, dass diese Behauptung von einem anderen Protagonisten bestritten wird. Wir glauben bekanntlich nur, was wir sehen; aber ist das, was wir sehen, wirklich glaubhaft? Und wenn es alles seine Richtigkeit hat: »Werden sie, die Pfahlbauten, den nächsten Sturm überstehen?« Das zumindest ist die real existierende Frage, die Graziella Drößler in einem Bild ihrer Pfahlbau-Serie eingeschrieben, das heißt zitiert hat. Ich sprach eingangs von den freien Assoziationen: Egal, wie authentisch die Pfahlbauten sind, historisch, symbolisch und selbst emotional haben sie uns etwas zu sagen. Der altgriechische Historiker Herodot erwähnt Pfahlbauten in Persien, Neuguinea – so kann man aus der Pfahlbauforschung entnehmen – kennt ganze Pfahlbausiedlungen. Und wenn ich oben bereits einen Faden zwischen dem Bodensee und den Niederlanden gesponnen habe, so sei hier nur auf die durch Tausende von Pfählen gesicherten Häuser in den Grachtenstädten hingewiesen, die man dem sumpfigen Boden abtrotzen musste, oder auch konkret auf Pfahlbauten in Zeeland. Emotional bieten sich zudem Assoziationen an, die dem Thema Haus insgesamt zukommt: Schutz! Unterstellen wir einfach die Richtigkeit der Pfahlbauten hier in steinzeitlicher Vergangenheit, eignen sich die Behausungen noch heute für Überlegungen, wie sich die Menschen am besten vor Wind, Wasser und Feinden schützen konnten. Und so komisch es angesichts der Fragwürdigkeit des Pfahlbautenbestands auch klingen mag, wie andere Häuser stehen auch sie symbolisch für Standhaftigkeit.

 

Das ist nicht nur dahin gesagt. Graziella Drößler hat dem Gegenspieler der Schutz- und Trutzhaftigkeit eine andere Bilderserie gewidmet, der wir hier begegnen: eine Reihe von früheren und aktuellen Arbeiten widmen sich der Windkraft. Einem Bodenseesegler muss ich es ja nicht sagen und Sie als Bodenseebewohner wissen es natürlich viel besser als ich Stuttgarter Stadtei, wie hautnah der Wind hier wehen oder wüten kann. Übrigens teilen die Bodenseeanrainer diese Erfahrungen mit den Niederländern. Graziella Drößler verfährt hier ähnlich wie in der anderen Serie auch: Die lakonische Liste oder spröde Benennung der Beaufortskala zur Bestimmung der Windgeschwindigkeit setzt sie in Verbindung mit dem berühmten sogenannten Turm der Winde – einer Art Sonnenuhr –, den Andronikos Kyrrestes im ersten vorchristlichen Jahrhundert in Athen erbaut hatte. Auf den Seiten des achteckigen Turms sind auf Reliefs die Windgötter Apeliotes, Boreas, Euros, Kaïkas, Notos, Lips, Skiron und Zephyros verewigt. Die wiederum hängen am Gängelband, des Königs der Winde, Aiolos, der über sie bestimmt: Er hält sie in einem Sackschlauch gefangen und lässt sie nach Belieben frei, was durchaus auch zum Nutzen sein konnte wie etwa für Odysseus, dem er einen günstigen Westwind auf den Weg mitgab. Ich habe bereits davon gesprochen. Nicht immer muss der Gedankenflug bis in den antiken Mythos führen – eine köstliche Eingebung sind die Darstellungen einer Windhose, die so wenig mit dem Bekleidungsstück Hose zu tun hat wie der Mythensack…

 

Sie müssen es mir nachsehen, wenn ich Sie am heiligen Sonntag so durch fingierte Welten jage. Aber die Bilder von Graziella Drößler verlangen danach, entschlüsselt zu werden. Haben wir den Schlüssel erst in der Hand und betreten den Raum der Kunst, mag es schon geschehen, dass wir ernüchtert oder gar erlöst uns selber wiederbegegnen mit all unsren gedanklichen Verstrickungen. Wer Antworten sucht, ist vielleicht enttäuscht, aber die heutige Kunst ist da, um Fragen zu stellen, und sie trat von jeher an, um Welten zu entwerfen, die die Wirklichkeit reflektieren, nicht abbilden.

 

Zu Recht werden Sie fragen, warum ich hier die Arbeiten von Wolfgang Schmitz bisher außer Acht gelassen habe. Doch der Schein trügt – er war immer präsent, und so mag er mir verzeihen, wenn ich erst jetzt und mit Blick auf Ihr leibliches Wohl in gebotener Kürze auf ihn und seine Zeichnungen zu sprechen komme. Ich vermute einmal, dass man Schmitz zu den prägenden Lehrern hinzurechnen kann, die ich hinsichtlich der Kunst von Graziella Drößler genannt habe. Geboren wurde Wolfgang Schmitz 1934 in Marl in Westfalen. Sein Studium an der Kunstakademie Düsseldorf absolvierte er 1955 bis 1960 bei den heute wieder zu entdeckenden Grafikern und Zeichnern Otto Coester und Robert Pudlich, die Schmitz auf den entschiedenen Weg in die gegenständliche Kunst brachten, was in den 50er Jahren nicht selbstverständlich war. Von 1981 bis 1999 war Wolfgang Schmitz, nach einer Lehrtätigkeit in Dortmund, Professor an der Hochschule für Künste in Bremen. Seit 1973 leben Drößler und Schmitz in einer Wohn- und Ateliergemeinschaft; von 1993 an verbringen beide regelmäßig Arbeitsaufenthalte im flämischen Zeeland.

 

Wolfgang Schmitz ist ein Vollblutzeichner, der alle Register der Grau-Schwarz-Abstufung zieht, und mit der Sicherheit des versierten Handwerkers überblendet er verschiedene Szenen in einem chiffrierten Kontext. Die Darstellung ist realistischer als die stärker abstrahierte Figuration von Graziella Drößler, doch hebt er den Gehalt eher ins Sur-Reale, wo seine Partnerin den konkreten Bezug nicht aus den Augen lässt. Nehmen wir den hier in multiplizierter Weise auftretenden Reiter. Es liegt nahe, dass wir es mit dem Bodenseereiter zu tun haben – die Indizien sind vorhanden: Auf einer Zeichnung kann man den Schriftzug »China Restaurant Bodenseereiter« erkennen. Aber keine Angst. Ich nehme Sie jetzt nicht mit nach China. Gemeint ist ein Restaurant in Radolfzell (wo es nebenbei bemerkt auch einen Reitclub namens Bodenseereiter gibt), und das nimmt Bezug auf Gustav Schwabs Ballade Der Reiter und der Bodensee:

 

»Der Reiter reitet durchs helle Tal, / auf Schneefeld schimmert der Sonne Strahl. /  / Er trabet im Schweiß durch den kalten Schnee, / er will noch heut an den Bodensee; /  / Noch heut mit dem Pferd in den sichern Kahn, / will drüben landen vor Nacht noch an. /  / […] /  / Keinen Wandersmann sein Auge schaut, / Der ihm den rechten Pfad vertraut. /  / Fort gehts, wie auf Samt, auf dem weichen Schnee, / wann rauscht das Wasser, wann glänzt der See? /  / Da bricht der Abend, der frühe, herein: / Von Lichtern blinket ein ferner Schein. /  / Es hebt aus dem Nebel sich Baum an Baum, / und Hügel schließen den weiten Raum. /  / Er spürt auf dem Boden Stein und Dorn, / dem Rosse gibt er den scharfen Sporn. /  / Und Hunde bellen empor am Pferd, / und es winkt ihm im Dorf der warme Herd. /  / »Willkommen am Fenster, Mägdelein, / an den See, an den See, wie weit mags sein?« /  / Die Maid, sie staunet den Reiter an: / »Der See liegt hinter dir und der Kahn. /  / Und deckt\' ihn die Rinde von Eis nicht zu, / ich spräch, aus dem Nachen stiegest du.« /  / Der Fremde schaudert, er atmet schwer: / »Dort hinten die Ebne, die ritt ich her!« /  / Da recket die Magd die Arm in die Höh: / »Herr Gott! so rittest Du über den See! /  / An den Schlund, an die Tiefe bodenlos, / hat gepocht des rasenden Hufes Stoß! /  / Und unter dir zürnten die Wasser nicht? / nicht krachte hinunter die Rinde dicht? /  / Und du wardst nicht die Speise der stummen Brut? / Der hungrigen Hecht\' in der kalten Flut?« /  / Sie rufet das Dorf herbei zu der Mär, / es stellen die Knaben sich um ihn her; /  / die Mütter, die Greise, sie sammeln sich: / »Glückseliger Mann, ja, segne du dich! /  / Herein zum Ofen, zum dampfenden Tisch, / brich mit uns das Brot und iss vom Fisch!« /  / Der Reiter erstarret auf seinem Pferd, / er hat nur das erste Wort gehört. /  / Es stocket sein Herz, es sträubt sich sein Haar, / dicht hinter ihm grinst noch die grause Gefahr. /  / Es siehet sein Blick nur den grässlichen Schlund, / sein Geist versinkt in den schwarzen Grund. /  / Im Ohr ihm donnerts wie krachend Eis, / wie die Well umrieselt ihn kalter Schweiß. /  / Da seufzt er, da sinkt er vom Ross herab, / da ward ihm am Ufer ein trocken Grab.«

 

Es ist Schwabs berühmtestes Gedicht, was sicher auch auf den Goetheschen Erlkönig-Ton zurückzuführen ist. Auf Schmitz’ Zeichnungen sehen wir den hetzenden Reiter. Aber damit nicht genug. In dem bereits beschriebenen assoziativen Verfahren erkennt der aufmerksame Betrachter das Emblem der Drogeriemarktkette Rossmann stempelgleich in einer der Zeichnungen links oben (der stilisierte Kentaur tritt in anderen Arbeiten auch als Hauptgestalt auf); und als kunsthistorisches Zitat schert auf einem anderen Bild schemenhaft ein weiteres Pferd aus, Kopf an Kopf mit einem dritten, skizzenhaft angedeuteten Pferd: Man benötigt ohne Frage die geöffnete Truhe des Wissens – dann verbirgt sich ein Gemälde der französischen Romantik, Napoleon auf dem Schlachtfeld von Eylau von Antoine-Jean Gros. Wolfgang Schmitz setzte sich mehrfach mit historischen Themen auseinander, und Napoleon war häufig mit von der Partie. Flüchtig kommt dabei ein Blatt von Graziella Drößler in den Sinn: Camp Elba, das Pfahlbau, Zeeland und Napoleon ineins bringt. Wohlgemerkt: Es geht um eine künstlerische Auseinandersetzung und nicht um Wissenshuberei. Schmitz spielt in der Pferde-Serie mit dem schwäbischen Mythos, mit einem informationsästhetischen Signet und mit einem kunsthistorischen Zitat, lässt sie ineinanderfließen und erhebt damit die Frage nach der Wirklichkeit unserer Wahrnehmungen, Erinnerungen und Assoziationen. Hier sind die Skizzen von Wolfgang Schmitz aufschlussreich. Der Bodenseereiter taucht da plötzlich als flämischer Zwilling zwischen Palisaden wieder auf – ein Verwandter der Zeelandreiterin, die sich ihrerseits auch am Bodensee zeigt.

 

Man kann heute kein Landschaftsbild im Stil des 19. Jahrhunderts mehr schaffen und schon gar kein Historienbild. Schmitz entwirft aber genau das: Stadtlandschaften und historisch wie literarisch unterfütterte Szenarien. Wenn die Bilder im Bild nebulös zurücktreten, ist das unsrer Zeit geschuldet, die oft nur noch die Ahnung eines Wissens zeigt, weil sich die Koordinaten verschoben haben. Dem einen mag allein der Rossmann-Kentaur im Gedächtnis aufblitzen oder eine Zeeland-Reiterin (auch ihr können wir begegnen), dem anderen wird das Schwab-Gedicht vom Bodenseereiter einfallen – das eine wunderbare Parodie von Robert Gernhardt gezeitigt hat: »Ein Mann wollte schnellstens von A nach B, / zwischen A und B lag der Bodensee, / der im kältesten Winter seit hundert Jahr / von A bis B zugefroren war: / Bodenseereiter, Bodenseereiter, / wie kommst du weiter?« Da wir kaum noch geübt sind im Repetieren von Wissen und die kollektive Vergesslichkeit auch Raum schafft für neue gedankliche Vernetzungen, ist die Verschiebung des Bildungshorizonts mehr eine Diagnose als die Beschwörung eines Niedergangs. Gernhardt, der freilich die authentische Ballade kannte, schrieb sie gleich weiter: »Wir alle müssen von A nach B, / unser aller Weg führt übern Bodensee. / Doch um faktisch vorm trocknen Grab sicher zu sein, / brechen wir prophylaktisch ins nasse ein: / Bodenseereiter, Bodenseereiter, / kommt, es geht weiter! Bodenseereiter, Bodenseereiter, / das leben geht weiter!« Der Reiter von Wolfgang Schmitz galoppiert drauflos, der Antipode eines anderen Bodenseereiters: einer behäbigen Brunnenfigur in Überlingen von Peter Lenk, die keinen Geringeren als Martin Walser porträtiert. Der Reiter von Wolfgang Schmitz ist ein hastender Träger unsrer Kultur, genauso wie auch sein engelsgleicher Serafi, den er in einer anderen Serie eingeführt hat, auf die ich hier nicht mehr eingehen kann. Und diese Kultur sei, wie sie ist: ein Bedeutungsgewebe aus Symbolen, Handlungen und Gesten, ritualisierten Normen und Zitaten. Der im vergangenen Oktober verstorbene Anthropologe Clifford Geertz hat dafür die treffliche Bezeichnung »Dichte Beschreibung« gefunden. Er war es, der erkannte, dass wir nichts mit bereinigten Daten betrachten, sondern immer Erwartungen und ein Hintergrundwissen mitbringen, wenn wir einen Sachverhalt zu deuten versuchen. Geertz suchte die verdichtete Beschreibung im fernen Bali, aber letztlich finden sich kulturelle Systeme, die auf ihre Interpretation warten, auch in den heimischen Gefilden.

 

Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz zeigen mit den Möglichkeiten der Kunst, mit welchen fiktiven, symbolischen und auch tatsächlich erinnerten Elementen sich unsere vermeintliche Wirklichkeit zusammensetzt, die in der Erfindung beziehungsweise Neuschöpfung der Künstler erst eine Wahrhaftigkeit erhält, die wir wiederum authentisch nachempfinden können. Lassen Sie mich am Ende noch ein Wort Hermann Hesses einflechten, das uns nach der langen Reise wieder dahin zurückbringt, wo wir heute stehen: nach Gaienhofen am Bodensee: »Jeder Ort, an dem wir eine Weile leben, gewinnt erst einige Zeit nach dem Abschiednehmen eine Form in unserem Gedächtnis und wird zu einem Bilde, das unveränderlich bleibt. Solange wir da sind und alles vor Augen haben, sehen wir noch das Zufällige und das Wesentliche fast gleich betont, erst später erlischt das Nebensächliche. Unsere Erinnerung behält nur das, was des Behaltens wert ist; wie könnten wir sonst ohne Angst und Schwindelgefühl auch nur ein Jahr unseres Lebens überschauen!«

Öffnungszeiten

Do–Sa 15–19, So 17–19 Uhr

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