Rezensionen

Hamburg Ballett John Neumeier (Hg.): 50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Henschel Verlag

Sein Name ist untrennbar mit der Kulturgeschichte Deutschlands verbunden. John Neumeiers (*1939) künstlerisches Schaffen hat mehrere Tänzergenerationen geprägt und den Blickwinkel auf Kunst, Tanz und Theater in Deutschland für immer bereichert. Mit hunderten, zum Teil noch nie publizierten Fotografien blickt das Hamburg Ballett nun auf das enthusiastische, von künstlerischen Visionen getriebene, einmalige Schaffen dieses Tänzers, Ballettintendanten und Ausnahmechoreografen. Eine „leichtfüßige“ Rezension von Melanie Obraz.

Cover © E.A. Seemann Henschel
Cover © E.A. Seemann Henschel

Dass John Neumeier ein Künstler von charismatischem Format ist, wird in diesem Bildband „50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier“ deutlich hervorgehoben, steht doch sein Name für das Hamburg Ballett und für erfolgreiche Ballettaufführungen in Deutschland und der Welt. Eine Kompanie, die ihren Weltruf dem Schöpfergeist Neumeiers verdankt. Ganz klar.
Das Coverfoto zeigt John Neumeier in einer eleganten Bewegung des tendu(s). Weit ausgestreckte Arme und die Augen verschlossen, so gibt sich der Schöpfer der besonderen Ballettattraktionen den Betrachter:innen hin, ganz so wie er seiner Ballettkunst Ausdruck verleiht. Die Silhouette im Hintergrund eröffnet Spekulationen.

Dennoch ist das Coverbild nicht zu selbstherrlich angelegt, da es in dieser Bildbiografie hauptsächlich darum geht, John Neumeier zu feiern. So ist auch von Anfang an klar, dass damit kein Buch vorgestellt wird, welches sich kritisch mit den Problemen des Ballett-Betriebs auseinandersetzt. Es war vorauszusehen, dass der Maestro hier noch einmal vehement mit seinen Balletterfolgen abgefeiert wird, die sämtlich akribisch im Anhang aufgeführt werden. Die eingangs in schwarz-weiß Fotos präsentierte Doppelseite zeigt Porträtfotos von John Neumeier über die Jahre hinweg – von fröhlicher, sinnierender, intellektueller und nachdenklicher Ausstrahlung.

Sechs auserlesene Begleiter:innen der Kunst Neumeiers kommen exponiert zu Wort: Marianne Kruuse, Christoph Albrecht, Gigi Hyatt, Vladimir Urin, Brigitte Levèvre und Kent Nagano. Dürfte oder müsste man dennoch einige Personen mehr erwarten? Warum kein Applaus für das treue Publikum, dass sicher den Erfolg Neumeiers mitgetragen und in all den Jahren auch forciert hat?
Hervorzuheben ist, dass die Ballett-Fotos sicher für sich sprechen und allzu große Interpretationen nur fehl am Platze wären. Auch sind nicht wenige Abbildungen schon aus den Programmheften der betreffenden Jahre der Hamburger Ballett-Tage bekannt. Zu Beginn des Bildbandes werden den schwarz-weißen Abbildungen jeweils eine oder zwei Farbfotos gegenübergestellt. Das Buch brilliert mit 144 Farbfotos.

Cover © Kiran West
Cover © Kiran West

Ein Aufbrechen jeglicher Grenzen und ein stetes Wagnis hinsichtlich eines Neubeginns zeichneten die Choreografien Neumeiers schon von Anfang an aus. Seine Arbeiten, die noch in Frankfurt und auch in Stuttgart entstanden, sind hier beispielhaft. Ein wahrhaftiger Tanzschöpfer zeigte sich schon damals, ging doch gerade von dort das explosive Modell eines neuen Impulses aus. Darum erwartet man eigentlich in einem Band, der sich abschließend dem über 50-jährigen Schaffen Neumeiers widmet, auch eine spezielle Aufarbeitung der Feinheiten seiner Kunst, die Neumeier in so mannigfaltiger Art in seinen Vorträgen publikumswirksam darbrachte. Doch kommt der Pädagoge Neumeier nicht recht im neuerlichen Buch zu Wort. Ein der gesamten Schaffenszeit gewidmeter Band dürfte darüber hinaus auch mehr Einblicke in die Arbeiten zu Vaslav Nijinsky gewähren, ist doch die dem Ausnahmetänzer gewidmete Gala – die jedes Jahr den krönenden Abschluss der Hamburger Ballett-Tage bildet - seit 1975 ein zentrales Anliegen Neumeiers.
Ebenso wäre von Interesse, wie sich die künstlerischen Beziehungen der Personen zu Neumeier, die seinen Erfolgsweg mitgingen und mitgestalteten in bestimmten Situationen präsentierten.

Jedoch: Der Maestro steht in diesem Bildband exponiert im glitzernden Rampenlicht.
Auch der Untertitel des Buches: „Bilder einer Ära“ ist zu allgemein formuliert. Suggeriert jener Satz doch zugleich ein Gefühl der Endlichkeit, ohne Ausblick auf den Erhalt einer Kunst, die einen steten Ausbau ermöglichte.
John Neumeier selbst äußert in seinem Statement, dass jenes Buch „vor allem bildliche Darstellungen“ liefere. Doch sollten solche Bilder nicht mit einem speziell erklärenden wie auch vielleicht mit zur Diskussion anregenden Kontrapunkten versehen sein? Der Ballettmensch Neumeier erklärt dazu, dass die Fotos nicht vorweg durch Expert:innen interpretiert werden sollten. Die Bilder stehen demnach für sich und enthalten bereits genügend Aussagen, die auch sichtbar seien. So kann man das Statement durchaus aufnehmen.

Cover © Kiran West
Cover © Kiran West

Dennoch bleibt die Frage bestehen, ob das neuerlich erschienene Werk ausschließlich für Ballettfans des Künstlers John Neumeier gedacht ist. Eine dem Meister angemessene Retrospektive, sollte doch ebenso diejenigen unter den Käufern: innen des Buches ansprechen, für welche die Materie des Tanztheaters noch neu ist. Inspirierten John Neumeiers Ballettschöpfungen doch stets eine Emotionalität, die sich bei den Zuschauer:innen mit einem Staunen verband. Damit war eine immerwährende Einladung verbunden, die alle Menschen ansprechen sollte. Doch wird jene spezifische Emotionalität in den Fotos zu wenig transportiert, da dazugehörende Kommentare und Besprechungen fehlen.
Das Buch bietet dennoch Wegweisendes: Es bringt die Leser:innen dazu, sich mit weiteren Büchern des Hamburg Balletts zu beschäftigen. Nennenswert ist hier auch die als „Arbeitsbuch“ betitelte Publikation zur Choreografie der Matthäus Passion (1983), mit welcher Neumeier das Problem der Darstellung religiös-theologischer Konflikte auf der Bühne des Tanztheaters dokumentiert.

Cover © Kiran West
Cover © Kiran West

Abschließend sei festgestellt, dass der Jubiläumsbildband „50 Jahre Hamburg Ballett“ nicht jenen Spirit vermittelt, die John Neumeiers Schöpfungen bezeichnen und für die das Hamburg Ballett doch eigentlich bekannt war (ist). Doch obwohl der Maestro hier mit Lobeshymnen erstickt wird, um ihn mit besonderen Segnungen, ganz im Sinne der Verehrer: innen der Kunst und seiner Person zu versehen, verdeutlicht sich doch Folgendes: Soweit man in intensiver Verehrung den Ballettinterpretationen des Hamburg Balletts gewogen ist, wird man den Bildband durchaus mit Enthusiasmus mitfeiern.


Titel: 50 Jahre Hamburg Ballett John Neumeier. Henschel Verlag
Herausgeber: Hamburg Ballett John Neumeier
Autor:innen: John Neumeier, Olaf Scholz, Marianne Kruuse, Christoph Albrecht, Gigi Hyatt, Vladimir Urin, Brigitte Lefèvre, Kent Nagano
Wissenschaftliche Beratung: Hans-Michael Schäfer (Stiftung John Neumeier)
Verlag: Henschel Verlag in E.A. Seemann Henschel GmbH & Co. KG
Seitenzahl: 256
Deutsch, Englisch
307mm x 282mm x 25mm
ISBN-13: 9783894878405
ISBN-10: 3894878401

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