Die Debatte um den Ursprung der Kunst war im ausgehenden 18. Jahrhundert ein großes Thema. Doch fundierte geschichtliche Grundlagen waren noch völlig unbekannt, womit die Forschung zugleich ein großes Feld der Imagination darstellte. Hans Christian Hönes begibt sich auf eine Spurensuche und fördert Faszinierendes und Verblüffendes zutage. Ulrike Schuster weiß mehr.
Es ist schlichtweg unmöglich, den Inhalt der Dissertationsschrift von Hans Christian Hönes in einem kurzen, prägnanten Satz zusammenzufassen. Der Titel »Kunst am Ursprung« gibt genau genommen nur die Hälfte des Sachverhalts wieder. Doch handelt es sich um eines jener Bücher, die einen magisch in den Bann schlagen und immer weiter in die Tiefe führen. Genauer gesagt, in die gelehrte Gedankenwelt des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die der Autor mit viel Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen in die Gegenwart übersetzt. Er versteht es, die Komplexität des Themas in einer bemerkenswerten Klarheit darzulegen.
Worum also geht es? Kurz gefasst, die Diskussion über Ursprung der Künste stellte im ausgehenden 18. Jahrhundert ein großes, elektrisierendes Thema dar. Doch die junge Disziplin der Kunstforschung stand gerade erst an ihren Anfängen und die Spuren in die Vergangenheit lagen noch weitgehend im Dunklen. Aus dieser Situation heraus ergab sich für die junge Generation der Aufklärung die scheinbar paradoxe Schlussfolgerung, dass man den Schlüssel zu den Ursprüngen in der Kunst selbst suchen musste. Von den bildlichen Manifestationen ausgehend, rekonstruierte man die Spuren der unbekannten Vergangenheit.
Hönes bezeichnet dieses Phänomen, unter Verwendung eines Terminus, der von Sigmund Freud geprägt wurde, als Nachleben. Umgelegt auf die Kunsttheorie im ausgehenden 18. Jahrhundert bedeutete dies die Suche nach den Rudimenten, die nach Ansicht der Altertumsforscher im kollektiven Gedächtnis der Menschen unauslöschlich eingeschrieben waren, obwohl – oder gerade weil – ihr ursprünglicher Sinn in Vergessenheit geraten war. Um die korrekte Ausdeutung der Botschaften aus der Prähistorie jedoch vornehmen zu können, bedurfte es der wissenschaftlichen Fachkenntnisse des Antiquars. Mit diesem Überbegriff bezeichnet Hönes die Altertumsforscher des 18. Jahrhunderts. Zwei Vertreter ihres Faches stehen im Zentrum seiner Betrachtungen und er unterzieht ihre Schriften einer ausführlichen, klug argumentierten Analyse.
Pierre-François Hugues d’Hancarville war eine schillernde Persönlichkeit mit einem abenteuerlichen Lebenslauf, diesbezüglich ein standesgemäßer Zeitgenosse eines Casanovas oder eines Grafen Cagliostro. Man fragt sich unwillkürlich, warum es den selbsternannten Baron eigentlich auf das Gebiet der Kunstwissenschaften verschlug. Doch er fungierte als Herausgeber einer vierbändigen, prachtvoll illustrierten »Antiquitès Etrusques, Greques Et Romaines«, die noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein als Referenzwerk galt.
D’Hancarville war gewiss weit weniger brillant als sein kurzzeitiger Weggenosse Winckelmann. Seine Schriften strotzen zudem von Irrtümern, die allerdings auch der Zeit geschuldet waren. Doch er vertrat im genannten Werk einen originellen Grundgedanken (von dem er später allerdings selbst wieder abrücken sollte): Seiner Auffassung nach standen am Anfang der Kunstgeschichte »willkürliche« Zeichen – abstrakte, auf Übereinkunft beruhende Symbole, anstelle der mimetischen Nachahmung der Natur. Damit brach d’Hancarville radikal mit den gängigen Vorstellungen seiner Zeit.
Dies blieb in der Kunstwelt nicht unwidersprochen. Als Antipoden präsentiert Hönes den Altertumsforscher Richard Payne Knight, der in vielerlei Hinsicht das Gegenteil des umtriebigen Barons war. Knight, aus gut situierten Verhältnissen stammend und in späteren Jahren als Parlamentsabgeordneter tätig, war führendes Mitglied in der Society of Dilettanti. Er glaubte fest an den Ursprung der Bilder im Vorbild der Natur, suchte und fand den Beleg dafür, ausgerechnet, in den phallischen Formen des antiken Priapus-Kultes.
Ein gutes Jahrhundert vor Freud forschte Knight nach verborgenen sexuellen Botschaften und beobachtete deren »Nachleben«, sogar noch an der Form des christlichen Kreuzes. Später wandte er sich der Entstehung der Schriftzeichen zu und verfasste eine »bereinigte« Form der Homer’schen Ilias, deren vermeintlichen Urzustand er rekonstruierte. Seine Reputation in der Fachwelt sollte er allerdings verlieren, als er die Parthenon-Skulpturen des Lords Elgin zu minderwertigen Produkten von Epigonen erklärte.
Der Diskurs um den Ursprung der Kunst besitzt natürlich weit mehr Facetten, als sich hier in Kürze aufzählen ließe. Hönes, er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Londoner Warburg-Institute, schlägt den Bogen von frühzeitlichen Idolen bis zu den zeitgenössischen Betrachtungen über die Kunst der Indianischen Urvölker, von Homer zur Arche Noah, von den Hieroglyphen bis hin zu Erklärungsmodellen zur Entwicklung der Schrift aus der Stellung der Gaumenzäpfchen im Rachenraum. Er kondensiert aus den Quellen das Wesentliche, ohne sich unnötig in Ballast zu verlieren.
Man liest sich fasziniert durch die Gedankengänge der Zeit, ihre Windungen, Irrungen und Windungen. Aber Überheblichkeit ist fehl am Platze, denn am Ende stößt man immer wieder auf Fragestellungen, die sich seitdem keineswegs überlebt haben. Die Vorstellungen bezüglich des »Nachlebens« der ersten Bilder hatten sozusagen ihr eigenes Nachleben: sie tauchten erneut auf im Diskurs der Darwinisten, bei Freud, bei Aby Warburg. Die Kontinuität reicht bis Derrida und findet vermutlich auch dort keinen Abschluss.
Der Ausflug in ein wenig bekanntes Kapitel der europäischen Geistesgeschichte gestaltet sich deshalb kurzweilig, anspruchsvoll und durchaus vergnüglich.