Ein trockener Titel und ein sehr sachlicher Stil, aber das umfangreiche Buch Hans Georg Hiller von Gaertringens über den schnöden und ignoranten Umgang mit der Architektur des Historismus ist trotzdem eine spannende und jederzeit lohnende Lektüre. Es schildert, wie reich verzierte Häuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdekoriert wurden, also ihren reichen Schmuck aus Stuck und Ecktürmchen verloren, um so den Vorstellungen einer späteren Zeit angepasst zu werden. Stefan Diebitz hat »Schnörkellos« mit Gewinn und Zustimmung gelesen.
Über Jahrzehnte hinweg bestand Einigkeit darüber, wie man die Architektur zwischen 1850 und dem Ersten Weltkrieg zu beurteilen habe. Wilhelminismus war (und ist wohl immer noch) so ziemlich das Schlimmste, was man einem Haus vorwerfen kann. Wer verteidigte im Anschluss an diese Zeit denn schon Stuck oder anderen Dekor? Allenfalls die Ecktürme mochten Freunde finden. Aber generell galten sie als überflüssig und wurden in vielen Fällen so abgebrochen, wie der Stuck abgeschlagen wurde – ein Verlust für das Erscheinungsbild unserer Städte, der kaum wieder gut zu machen ist. Heute ist es deshalb sehr schwierig, sich das Aussehen mancher Straße ohne Entdekorierung vorzustellen. Auch meine Heimatstadt, so habe ich aus diesem Buch gelernt, wurde während des Nationalsozialismus systematisch »entdekoriert« und »entschandelt« (sprich: auf eine möglichst billige Art dem neuen ästhetischen Ideal des Kargen und Nüchternen angepasst), und nach der Lektüre von »Schnörkellos« schaue ich anders auf die Häuser und sehe, was dort alles fehlt.
Der Autor erzählt die Geschichte des Baudekors ebenso wie die Geschichte seiner Beseitigung, und er erzählt sie in einem stets sachlichen Stil und mit wenig Wertungen; Polemik sucht man in diesem Buch vergeblich, denn der Autor versteht sich offensichtlich mehr als Historiker. Wolf Jobst Siedler schrieb 1964 in seinem Buch »Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum« ganz anders über dieses Thema. Mit polemischem Furor beschwor er den »Untergang des eigentlich Städtischen« herauf und prangerte die Entdekorierung als »Fassadenverödung« an.
In insgesamt vierzehn Kapiteln erzählt Hiller von Gaertringen seine Geschichte, und er erzählt sie ganz systematisch, auf die Ergebnisse seiner 2009 vorgelegten Dissertation aufbauend. Das Buch ist so sauber gegliedert, argumentiert so präzise und bietet eine derartige Fülle von Material, dass es eher das Niveau einer Habilitation besitzt. Die Präsentation seines Textes und der Bilder durch den Verlag erfolgt auf einem entsprechend hohen Niveau.
Es sind drei Hauptfragen, die das Buch zu beantworten versucht: Es fragt nach den Gründen für die Entdekorierung, nach den Namen und Motiven der Verantwortlichen und endlich nach der ästhetischen Form, die der Entdekorierung folgte. Den dreihundert Seiten Text folgen einhundertfünfzig Seiten Katalog, von denen der größte Teil mehr als zweihundert Beispiele für eine Entdekorierung bietet, dokumentiert mit nüchternen Schwarzweißfotos und gelegentlichen Zeichnungen. Schließlich folgen noch einige wenige Beispiele für geplante, aber nicht ausgeführte Entdekorierungen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Stuckelemente industriell und also in großem Stil und entsprechend preiswert hergestellt. Das war die Voraussetzung für ihre massenhafte Verwendung, die in sehr vielen Fällen wirklich einen Angriff auf den guten Geschmack darstellte. Trotzdem würde ich nicht zögern, das Abschlagen der Stuckelemente an den Fassaden als Vandalismus zu bezeichnen, zumal es in vielen Fällen überhaupt nicht geglückt ist und vielleicht nicht einmal beabsichtigt war, den Dekor durch eine andere Gliederung zu ersetzen. Statt des reichen, gelegentlich allzu reichen barocken Schmucks fanden sich nach vollzogener Reinigung nur noch verputzte Flächen.
Der Ersatz der ursprünglichen Fensterformen durch moderne Thermofenster in den sechziger und siebziger Jahren tat ein Übriges, um aus einem schönen alten Haus endgültig ein eternitverkleidetes oder grob verputztes Monstrum zu machen; aber darauf wird in diesem Buch nicht eingegangen, vielleicht schon deshalb, weil er den eigentlichen Entdekorierungsorgien erst folgte. Die gelegentlich geradezu atemberaubende Scheußlichkeit mancher Modernisierungen illustriert Hiller von Gaertringen an lediglich einer Stelle mit dem Hinweis auf die Zeitschrift »Das Grundeigentum«, die ein »Vorbildliches Beispiel einer entdekorierten und mit Baukeramik verkleideten Fassade« vorstellt, bei deren Anblick man nur die Hände über dem Kopf zusammenschlagen kann.
Siedler hatte mit Blick auf die einzelnen Häuser noch zu zeigen versucht, dass die Entstuckungen, welche die Nationalsozialisten als »Entschandelung« bezeichneten, auch deshalb so fatal waren, weil dahinter oft genug nichts als schlechte Architektur zum Vorschein kam. Dazu dokumentierten die Fotos von Elisabeth Niggemeyer die Verödung der Straßen, die sich zwischen den Mietshäusern der fünfziger Jahre und ihren faden Rasenflächen hinzogen und noch auf die Autos warteten, die sie am Ende zuparken sollten. Diese provozierte Verödung der Straßen bedeutete wirklich den Verlust des eigentlich Städtischen, den Siedler auch für die Innenstädte aufzuzeigen versuchte.
In Hiller von Gaertringens Buch wird der Gesamteindruck einer Straße nicht immer so gewürdigt, wie man sich das wünscht, sondern es konzentriert sich generell auf die einzelnen Häuser. Besonders wichtig ist die Funktion der Ecktürme, die vom Autor eher beiläufig behandelt werden. Wo es sie noch gibt, kann man sehen, dass sie die Straße gliedern und rhythmisieren, indem sie die Eingänge der Nebenstraßen hervortreten lassen. Dieser Rhythmus fehlt heute völlig, denn eine glatte Industriefassade schließt sich an die nächste an, so dass Ernst Bloch in einem von Hiller von Gaertringen zitierten Vortrag plastisch vom »Muckertum völliger Kahlheit« sprechen konnte.
Umgekehrt forderte ein Architekt 1922 »die Vermeidung jeglichen baulichen Individualismus«, ein anderer die bauliche Enthierarchisierung und damit eine »demokratische Tendenz«. Ich hege den Verdacht, dass diese demokratische Tendenz auch heute noch interessantes Bauen verhindert. Offensichtlich waren es nicht allein ästhetische Gründe, welche gegen Ecktürme oder überhaupt gegen Türme als hierarchisches Bauen ins Feld geführt wurden, denn man empfand sie als Widerspruch zur Demokratie.
Das Buch bietet enorm viel, übersichtlich gegliedertes Material zu einem Thema, das nicht allein aus ästhetischen Gründen wichtig ist. Zum Text kommen der Katalog mit seiner Dokumentation der Entdekorierung und schließlich eine Karte von Berlin-Kreuzberg, auf der mit größter Sorgfalt die entdekorierten und erhaltenen Fassaden des 19. Jahrhunderts farbig markiert sind. Der Autor zitiert ausgiebig aus Architekturzeitschriften, weil die Darstellung der Gründe für die Entdekorierung eine der wesentlichen Aufgaben seines Buches ist, und hat offensichtlich viele, viele Stunden in den Archiven vor allem Berlins, aber auch anderer Städte verbracht, um alte Pläne und Bauanträge zu studieren. Ein wichtiges und schönes Buch, das eine nicht allein für die die Architektur verhängnisvolle Tendenz beschreibt.