Ausstellungsbesprechungen

Hans Holbein d. Ä. – Die Graue Passion in ihrer Zeit, Staatsgalerie Stuttgart, bis 20. März 2011

Kein Versteckspiel. Kein Theaterdonner. In Stuttgart ist der Held bereits zu sehen, bevor man den Saal betreten hat. Die zwölf Tafeln der »Grauen Passion« grüßen den herankommenden Besucher schon durch die großen Glastüren der Lobby. Torsten Kohlbrei hat sich die Ausstellung für Sie angesehen und meint: Ganz großes Kino!

Der Verzicht auf jegliche Inszenierung scheint in der von Elsbeth Wiemann kuratierten Schau programmatische Absicht zu sein. Nichts soll von der Beschäftigung mit der seit 2008 für rund 400.000 Euro restaurierten Bildfolge ablenken. Und so steht man recht unvorbereitet sowie – zumindest in den ersten Wochen der „Großen Landesausstellung“ – ziemlich allein vor den zwischen 1494 und 1500 entstandenen Bildern. Der späte Betrachter kann sich an den Arbeiten des älteren Hans Holbein satt sehen und die Leidensgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven verfolgen.

Entweder begleitet man Christus vom Gebet am Ölberg bis zur Auferstehung und lässt sich von der entrückten Würde Jesu verwirren. Oder der Blick bleibt bei den durch Physiognomie und Rüstung individualisierten Häschern „hängen“ und verfolgt ihr grausames Tun von Bild zu Bild. Da reißt einer noch während des Judas-Kusses am Gewand Jesu, drängt sich bei der Geißelung in den Vordergrund und lässt selbst „Jesus in der Rast“ keine Ruhe. Ganz anders benimmt sich sein hochgerüsteter Mitstreiter: Wie es sich für einen Profi-Soldat gehört, führt er den Gefangenen vom Ölberg, stellt ihn dem Hohenpriester Hannas vor, hält sich während der Geißelung im Hintergrund, um dann an der Hinrichtungsstätte weitere Anweisungen zur Kreuzigung entgegenzunehmen.

Nein, man muss kein Kenner der Spätgotik sein, um hier Meisterliches zu erkennen: Narratives, »in äußerster Verknappung dargestellt«, so formuliert die Kuratorin und weist im Ausstellungskatalog auf die in der Literatur mehrfach »mit Passionsspielen in Verbindung gebrachte Bilddramaturgie« hin. Der Betrachter murmelt „ganz großes Kino“.

Wem derart die Augen geöffnet wurden, lässt sich gern durch die beiden vom Ausstellungsraum der Grauen Passion abzweigenden Raumfluchten führen. In den ersten vier Räumen erfährt er, was der Zusatz zum Ausstellungstitel lapidar mit „in ihrer Zeit“ umschreibt.

Die zusammengetragenen Exponate gestatten anhand von Studien und Musterblättern einen Einblick in den Werkprozess. Sie animieren durch druckgrafische Passionsfolgen, darunter Arbeiten von Martin Schongauer und Albrecht Dürer, zum vergleichenden Sehen und liefern mit Beispielen für Steinmalerei und Grisaillen Material zur Einordnung von Holbeins Arbeiten.

Waren Bildtafeln, die Skulpturen illusionistisch darstellen, auf den Außenseiten von niederländischen Flügelaltären nicht ungewöhnlich, so ist die Farbgebung der Grauen Passion, die von der steinfarbenen Monochromie der Gewänder außen zu einer ockerfarbigen Tonalität innen wechselt, ansonsten nicht nachzuweisen und begründet maßgeblich den besonderen »Eindruck des Exquisiten, Kostbaren« (Michaela Krieger).

Wieder an der Grauen Passion angelangt, machen in der zweiten Rumflucht Passionstafeln von Hans Holbein, seiner Werkstatt und Zeitgenossen näher mit dem Meister bekannt. Der Maler wurde um 1465 in Augsburg geboren und ausgebildet. Für seine Heimatstadt produzierte er viele Hauptwerke, war aber darüber hinaus an Aufträgen beteiligt, die in die Kunstgeschichte eingegangen sind. Die Darstellung dieser Leistung und ihre Verortung in der Malerei der Zeit kann und will die Ausstellung nicht leisten. Ihr Held ist die Graue Passion. Daher dienen die präsentierten Arbeiten der Kollegen allein zur Einordnung des Frühwerks aus den Jahren um 1495.

Unterstützt von den Ausstellungsbeschreibungen lässt sich verfolgen, wie Holbeins Werkstatt äußerst ökonomisch mit einmal gefundenen Darstellungsmustern umgeht. Und noch einmal bestätigt sich die unaufgeregte Präsentationsstrategie der Ausstellung: Der Besucher kann von der Betrachtung einer Werkstatt-Arbeit buchstäblich zur Grauen Passion zurückkehren und so verfolgen, dass „Neu“ nicht die entscheidende Kategorie der Malerei um 1500 war. Eher strebte man nach dem „gelungenen Bild“, nach einer Komposition, die den begonnenen Dialog der Bilder fortspinnt.

All dies lässt sich nachvollziehen, wenn man das Vergangene für einen Moment mit der Gegenwart konfrontiert und an die vergleichbaren Strategien im heutigen Genrefilm denkt, wo erfolgreiche Muster – die automobile Verfolgungsjagd, der erste Kuss – aufgenommen bzw. interpretiert werden. Angesichts dieser in der sachlichen Ausstellung nicht direkt angelegten Assoziation, bestätigt sich noch einmal der erste Impuls des Betrachters auf die Graue Passion: ein Meisterwerk, ganz großes Kino!

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