Buchrezensionen

Hans Kaufmann und Rita Wildegans: Van Goghs Ohr. Paul Gauguin und der Pakt des Schweigens, Osburg Verlag, Berlin 2008

Dies ist ein Buch über zwei der berühmtesten Maler der Moderne, aber es ist keine kunsthistorische Untersuchung, denn es wirft allenfalls Seitenblicke auf das Werk von Gauguin und van Gogh mit dem Ziel, einen Kriminalfall zu klären. Ein „Thriller“, wie der Verlag das Buch auf seinem Waschzettel nennt, ist es deshalb noch lange nicht. Mit einem Thriller mag das Buch das Sujet sowie die detektivische Untersuchung der Tatumstände gemein haben, aber von einer reißerischen Darstellung kann überhaupt nicht die Rede sein, schon deshalb nicht, weil die Leser den Täter bereits vor der Lektüre kennen. Tatsächlich handelt es sich um die sehr sachlich gehaltene, ganz systematisch vorgehende Untersuchung der Frage, wer Vincent van Goghs Ohr abgeschnitten hat: war es eine im Wahn vollzogene Selbstverletzung, oder war Paul Gauguin der Täter? Stefan Diebitz hat dieses außergewöhnliche Buch für Sie und uns gelesen.

Wie man sieht, geht es hier weniger um die Kunst als vielmehr um den Künstler, denn schließlich ist die angebliche Wahnsinnstat van Goghs eine der meistbesprochenen der Kunstgeschichte und wird immer wieder angeführt, wenn es um die Verbindung von Genie und Wahnsinn geht. Prominenteste Ärzte wie Karl Jaspers haben sich über Jahrzehnte hinweg immer wieder um die Deutung seiner Krankheit bemüht, ohne sich auf eine Diagnose einigen zu können. Und sie haben über die Bedeutung seines Wahns für das Werk gestritten und kontrovers die Frage diskutiert, ob sich Farbgebung oder Perspektivik nach den Vorgängen von Arles geändert hatten. Aber es war niemals strittig, dass van Gogh selbst sich sein Ohr abschnitt.

Zweifel an der quasi-offiziellen Darstellung des Falles kamen den Autoren erstmals in der Petersburger Eremitage bei der Betrachtung eines Sonnenblumenbildes von Gauguin. In der Blüte einer Blume ist nämlich ein Auge zu sehen, das sich leicht in Verbindung setzen lässt mit der symbolischen Darstellung von Gewissensnöten; als Beleg wird unter anderem ein in Frankreich populäres Gedicht von Victor Hugo angeführt. Litt Paul Gauguin kurz vor seinem Tod, als er dieses Bild malte, unter Gewissensqualen, die ihn an die Vorgänge in Arles am 23./24. Dezember 1888 erinnerten? Um diese Frage zu beantworten, schildern die Autoren zunächst ausführlich das Leben der beiden Protagonisten, wobei sie natürlicherweise die Darstellung der psychischen und sozialen Entwicklung zweier hochproblematischer Menschen in den Mittelpunkt stellen. Van Goghs und Gauguins künstlerischer Werdegang wird zwar ebenfalls behandelt, aber vergleichsweise oberflächlich, und entsprechend unbedeutend sind auch die Illustrationen dieses Buches.

Im Detail wird dargestellt, wie es zu der kurzen Wohngemeinschaft von van Gogh und Gauguin in Arles kam, wie also van Gogh das gelbe Haus für sich und für den von ihm verehrten Freund herrichtete, welche Erwartungen er mit dem Zusammenwohnen verknüpfte und welche Spannungen sich zwischen derart verschiedenen Menschen aufbauten und schon bald entluden: zunächst in zahlreichen Streitereien, schließlich in einer Katastrophe, in deren Verlauf van Gogh ein Ohr einbüßte.

Es ist ganz klar, mit wem die Autoren sympathisieren: Sie nennen van Gogh „Vincent“, seinen Freund und Rivalen dagegen mit Nachnamen, und wenn auch die Probleme von van Goghs Charakter keinesfalls verschwiegen werden, so ist der Blick auf ihn doch eher verständnisvoll – der auf Gauguin dagegen frei von jeder Sympathie. Kaufmann und Wildegans beschreiben „den etwas weltfremden, idealistischen, missionarischen, versponnenen und übermäßig anhänglichen, womöglich verliebten Vincent van Gogh“ und stellen diesem schwierigen Menschen „den dominanten, latent aggressiven, wort- und weltgewandten, zynischen und egoistischen Paul Gauguin“ gegenüber (287). Und diese Beschreibung zählt noch zu den milderen Beurteilungen, denn immer wieder werden die Aktionen Gauguins auch mit Vokabeln wie „niederträchtig“ oder „brutal“ umschrieben.

Die These, der geübte Fechter Gauguin habe das Ohr van Goghs mittels seines Duelldegens abgetrennt, ist seit 2001 bekannt, weil die Autoren Redakteure des »Spiegel« mit ihrer These vertraut machten, um ihre Urheberschaft zu manifestieren, und so besaßen auch Fachleute bereits Gelegenheit, Stellung zu beziehen. Auf eine überwältigende Zustimmung sind Kaufmann und Wildegans zwar nicht gestoßen, den Rezensenten allerdings kann die Fülle der Indizien durchaus überzeugen. Zu absurd klingt die Tatversion Gauguins, die er gegenüber der Polizei, seinen Briefpartnern oder in seiner Autobiographie vertreten hat, und sie klingt auch deshalb wenig glaubwürdig, da Gauguin ja weder einen Zeugen noch irgendwelche Indizien anführen konnte, die seine Version hätten bestätigen können. Zudem ist niemals ernsthaft gegen ihn ermittelt worden, nicht einmal von Seiten der Polizei am Morgen nach der Tat – trotz Tatumständen, die einen dringenden Tatverdacht nahegelegt hätten.

Dagegen überzeugt das Szenario, das Kaufmann und Wildegans in einem abschließenden Kapitel vortragen und für das sie eine ganze Fülle von Argumenten anzuführen wissen. Vor allem wird die medizinische Problematik dargestellt: Hat van Gogh nur einen Teil des Ohres oder die ganze Muschel eingebüßt, welche Adern werden in einem solchen Fall verletzt, wie hoch ist der Blutverlust, und gibt es andere Beispiele für einen autoaggressiven Akt dieser Art, der sich gegen das Ohr richtet?

In seinem Buch über van Gogh (2003) spricht Stefan Koldehoff kurz die These von Kaufmann/Wildegans an. „Für Erheiterung sorgte im Sommer 2001 eine Theorie, die das Nachrichtenmagazin Der Spiegel verbreitete“, schreibt er - aber es ist sehr fragwürdig, einen Zweifel derart derart überheblich und gedankenlos beiseite zu schieben. Nicht allein die Fragestellung von Kaufmann/Wildegans ist legitim, sondern ihre Antwort ist auch gut begründet. Überhaupt ist es viel leichter, sich auf die Seite der traditionellen Deutung der Dinge zu stellen, als diese Deutung kritisch zu hinterfragen. Dieses Buch wäre auch dann eine wertvolle Publikation, wenn sich die Grundthese der Autoren wider Erwarten als falsch herausstellen würde.

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