Buchrezensionen

Harry Lehmann: Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie, Wilhelm Fink Verlag 2016

Nicht weniger als eine »Kunstphilosophie«, die den Haupttitel »Gehaltsästhetik« trägt, hat Harry Lehmann zu Beginn des Jahres vorgelegt. Diese scheint ihm nötig geworden, um die Frage zu reagieren, wie Kunst überhaupt »modern« geworden ist und um herauszufinden, welche Anforderungen heute an zeitgenössische Kunst zu stellen sind. Annkathrin Sonder hat sich in das Werk vertieft.

Als Initiationspunkt für den Entwurf seiner ausdrücklich nicht normativen Ästhetiktheorie dient Lehmann die These, dass in den letzten 25 Jahren ein Paradigmenwechsel von der materialästhetischen zur gehaltsästhetischen Kunst stattgefunden habe. Gehaltsästhetik impliziert daher weder einen neu eingeführten Ismus noch einen Kunststil, sondern bezeichnet eine programmatische Wende der Künste und ihrer Rezeption.

Spinnt man diesen Gedanken fort, so wird vom Leser verlangt, sowohl die Entwicklungslinien der Ästhetik der letzten 250 Jahre überblicken zu können als auch die Kunstgeschichte als eine Geschichte der ästhetischen Erfahrung zu behaupten. Denn ein künstlerischer Umbruch kann nur als solcher gelten, wenn die Kunst der vormodernen Zeit in ein explizites Verhältnis zur postmodernen Kunst gebracht wird. Zwischen ihnen tritt in der Folge der behauptete Bruch zu Tage. Gleichzeitig wird deutlich, welchen Einfluss gesellschaftliche, politische oder historische Veränderungen auf die Kunst ihrer jeweiligen Zeit nehmen. Dies schließt aber noch lange nicht die explanatorische Lücke, die zwischen Kunst und Ästhetik klafft, wenn man ihnen wie Lehmann analoge Strukturen und gänzlich voneinander abhängige Entwicklungsmomente zuschreibt.

Seine im Buch zuallererst entfaltete Idee, dass ästhetische Wahrnehmung dann am besten verständlich wird, wenn man von Wahrnehmungsvergleichen ausgeht, ist empirisch, historisch und multidisziplinär ausgerichtet. Die eigenen Empfindungsreaktionen können in einem eingegrenzten Wahrnehmungsfeld, also etwa der Bildenden Kunst, anhand von Vergleichen erfahren werden. Denn ob Laie oder Kenner: die Frage, welches Kunstwerk dem Betrachter besser gefalle, ist rein subjektiv durch die Kategorie des Geschmacks entscheidbar. Als kategoriales Phänomen ist dieser an der Schnittstelle von Philosophie und Kunstgeschichte angesiedelt. Diese Beobachtung lässt erahnen, dass das Postulat des Autors hin zur Erlernbarkeit ästhetischer Erfahrung neigt. In entsprechend neuronaler Herleitung dienen ihm Studien als empirische Belege für die Tatsache, dass bei dem Eigenwert »Schönheit« die Gestaltwahrnehmung primär vom Gehirn ausgeht. Doch eben nicht erst seit der Renaissance entscheidet die auch lange Zeit in der Kunst stark ausgeprägte Präferenz für den sogenannten Goldenen Schnitt über den Attraktivitätsgrad, der Symmetrien, Proportionen oder Gesichtern zukommt. Bereits in den Höhlenmalereien, die vor 30000 Jahren entstanden, ebenso wie in fein ausgeklügelten Ornamenten der Keramik aus der Altpalastzeit kommt das Bewusstsein für ästhetisch-künstlerische Qualität einer vermeintlich noch primitiven Menschheit zum Ausdruck.

Lehmanns Theorie der ästhetischen Erfahrung behandelt schrittweise die »Eigenwerte«, »Übertragungswerte« und »Reflexionswerte« als natürliche, kulturelle und reflexive Wertsysteme. Während es demnach Werte gibt, die in unserem Wahrnehmungsapparat auf natürliche Weise angelegt sind, gibt es gewissermaßen anerzogene Zuschreibungen, die wir anhand unserer kulturellen und zeitgeschichtlichen Prägung erst sekundär auf Gegenstände oder Kunstwerke übertragen. Als charakteristisches Beispiel führt Lehmann einen Hybrid aus Straßen- und Turnschuh an, der aufgrund seiner Form die Merkmale Leistungsfähigkeit, sicheren Halt und Sportlichkeit konnotiert. Diese soziokulturellen Werte, die zumindest assoziativ von den westlichen Industriestaaten auf die Form des Schuhs übertragen werden, funktionieren jedoch nur durch die gesellschaftliche Hochschätzung der Eigenschaft Sportlichkeit. Ihre inflationär zunehmende Attraktivität in den letzten Jahrzehnten konnte deshalb auch erst dann als ein positiver Übertragungswert für die Produktvermarktung von Interesse werden.

Ebenso semiotisch wie der Hybrid-Schuh funktioniere in den Prozessen von Wertübertragung und Wahrnehmung ein hartplastikverpacktes Bio-Huhn im Supermarkt, so Lehmann. Dessen Verpackung sowie die grüne Plastikunterlage, auf der es liegt, rufe bei den umweltbewussten KundInnen die Assoziation an Transparenz und Fairness in den Produktionsprozessen hervor. Denn viel weniger die Tatsache, dass die Plastikverpackung alles andere als nachhaltig ist, wirkt sich auf ihre Vorstellung aus als die intuitive Assoziation, welche die grüne Plastikschale hervorruft. Sie lässt an grüne, saftige Wiesen denken, die in erster Linie mit dem Wert ›glückliches Tier‹ verknüpft werden. Damit sind die Charakteristika dem Produkt nicht eigen, sondern werden als Übertragungswerte an Eigenwerte gekoppelt. Die Form, hier also die Hartplastikverpackung mit grünem Untergrund, bezieht sich auf den Gehalt, hier also die artgerechte Tierhaltung.

Um nun die gedankliche Brücke zur Kunst zurückzuschlagen, bietet sich die Gruppe der Reflexionswerte an, die über die Hälfte des Buches einnimmt. Lehmann ist sich dessen durchaus bewusst, dass seine These einer Wende in der Kunst eine historische Begründung erfordert. Diese muss vor allem belegen, dass Werte in verschiedenen Epochen unterschiedlich starken Einfluss auf die Kunstproduktion und -rezeption ausgeübt haben. Entsprechend breit gefächert sucht er Anhaltspunkte für die Frage, woher unsere Werte und Zuschreibungen kommen und welche Kunstwerke als Beispiele hierüber Aufschluss geben können. In einem rasanten Durchlauf durch ausgewählte, inselartig angeführte Kunstepochen spannt er den Bogen von der prähistorischen Kunst bis zur postmodernen Architektur von 2011. Als Trias bietet seine kursorische Aufteilung in »symbolische Kunst«, »schöne Kunst» und »Konzept-Kunst« eine durchaus überschaubare Reihe an künstlerischen und zeitlichen Zäsuren.

Aufgrund ihrer theologisch starken Fundierung verweist die symbolische Kunst des Mittelalters stets auf höhere, unzugängliche Zusammenhänge. Die Kirche als Prunkrahmen und architektonisches Wiederholungsmuster zeichne dabei en gros die kompositorischen Gestaltungsmittel der ausgeglichenen Proportionen und formalen Ordnung christlicher Ikonographie nach, so Lehmann. Ihr Primat sei es daher, dass über lange Zeit Gold, Symmetrie und Farbenpracht nur in kirchlichem Kontext wahrgenommen werden konnten, wodurch sich »der gesellschaftliche Wert des christlichen Glaubens auch auf diese ästhetischen Qualitäten übertragen [konnte]« (S. 101).

Wenn man hingegen von der schönen Kunst spricht, so gilt diese als sprechendes Resultat einer funktionalen Differenzierung der Künste durch die Gesellschaft. Anstatt ihrer Symbolkraft sorgt bereits ab dem 15. Jahrhundert ihr Zeichencharakter für die semiotische Repräsentanz von Macht, Reichtum und gesellschaftlicher Stellung. Endgültig befreit sich schließlich die Kunst des Expressionismus von dem engen Korsett einer spezifischen Normausrichtung. Farben, Material und Perspektive werden nicht länger paradigmatisch an der empirischen Realität orientiert, sondern formulieren erstmals eine Eigenästhetik – keinen mimetischen, sondern einen materialästhetischen Gehalt der Kunst.

Das Ende des Materialfortschritts und die Frage, wie Kunst heute überhaupt noch Interesse hervorrufen kann, beantwortet Lehmann entsprechend durch die Gehaltsästhetik postmoderner, zeitgenössischer Konzeptkunst. Von Damien Hirst über Ai Weiwei und Daniel Liebeskind: Die exemplarischen Werke, die Lehmann als gehaltsästhetisch rubriziert, haben allesamt gemeinsam, dass ihr Gehalt durch ein je spezifisches Konzept definiert ist. Mehrdimensionalität und sprechende Werktitel, die als Scharniere zwischen Idee und Rezipient vermitteln, sind ihre Charakteristika. Ein Titel wie »The Physical Impossibility of Death in the Mind of Someone Living« (1991) oder »Dropping a Han Dynasty Urn« (1995) spielt mit dem Gehalt, der im Kunstwerk präsent ist und gibt dem Betrachter einen Interpretationsschlüssel zur Hand. Wie sollte dieser ohne Anleitung wissen, dass Ai Weiwei in »Dropping a Han Dynasty Urn« auf die kulturhistorische Bedeutung Jahrhunderte lang gepflegter Keramik aus der Han-Dynastie anspielt? Ohne diesen Verweis sähe er lediglich einen Mann, der in einer Abfolge von Schwarz-Weiß-Fotografien eine Vase zu Boden wirft. Die Vase ist ein prädestinierter Gebrauchsgegenstand, so lässt sich kunsthistorisch interpretieren. Hiernach kann sie als Readymade gesehen werden, das durch den provokanten Akt der Zertrümmerung aber semantisch gewaltig ins Wanken gerät. Solchermaßen inszeniert und umgedeutet spinnt die Vase die Verweisstruktur des Werks weiter, indem sie als potentieller Museumsgegenstand vernichtet wird. Ein jahrhundertealtes Kulturgut geht willentlich zu Bruch. Gehaltsästhetisch wird das Werk dadurch, dass man als Rezipient das spezifische Konzept des Werks kennen muss, um das Kunstwerk verstehen zu können. Man muss wissen, dass während der chinesischen Kulturrevolution von 1966-1976 Kulturgüter, wie solche Vasen der Han-Dynastie, massenweise zerstört wurden und Ai WeiWei auf diesen kulturellen Einschnitt anspielt.

Befragt man den Begriff der »Gehaltsästhetik«, der erlaubt, von einem Paradigmenwechsel zu sprechen, so verteidigt der Autor ihn durch das Argument, dass Gehalte stets auf spezifischen Konzepten und singulären Kunstwerken beruhen. Der Gehalt kann dann politisch, historisch usw. gefärbt sein, nur nicht ästhetisch. Die bewusste Ausschaltung der Ästhetik in der Postmoderne markiert also paradoxerweise dennoch ein Schlüsselmoment der Kunstästhetik. Denn nur so lässt sich nachvollziehen, weshalb Lehmann seine Kunsttheorie nicht etwa als politisch oder soziologisch ausweist, sondern als ausdrücklich ästhetisch.

Die große Stärke des Buches besteht in einem stark ausdifferenzierten Begriffsapparat philosophischer und kunsthistorischer Termini. Sofern man als Leser allerdings erfahren möchte, was genau Gehaltsästhetik ist und wie sie wahrgenommen wird, mag es verwundern, dass ihr lediglich ein letztes, vergleichsweise kurzes Kapitel gewidmet wird.

Im Unterschied zu den Gehalten der schönen Kunst, die stets in die jeweilige Kultur eingebettet sind, werden diese bis zur zeitgenössischen Kunst sukzessive freier verfügbar. Zeitgenössische Kunst bewegt sich fort von Schulen und strengen Dogmen und eröffnet das freie Spiel mit den Ideen bzw. Konzepten, die ein jedes Kunstwerk auf einzigartige Weise enthält.

Gehalte beruhen also auf spezifischen Konzepten, wie Lehmann anhand des Libeskind-Neubaus des Militärhistorischen Museums in Dresden (2011) resümiert. Der Keil aus Metall-Lamellen durchschneidet das alte Sandsteingebäude asymmetrisch und gehe Lehmann zufolge ganz in der gehaltsästhetischen Maxime »die Form folgt dem Gehalt« (S. 219) auf. Denn die Keilspitze stößt im wahrsten Sinne des Wortes auf ein historisches Datum: die Zerstörung von Dresden am 13. Februar 1945. Bei den Luftangriffen auf Dresden hatten die Bomberverbände der britischen Royal Air Force (RAF) an dem genannten Tag die Altstadt Dresdens keilförmig angeflogen. Ihre Zielmarkierung wurde dort angesetzt, wohin heute die Spitze des Keils verweist. Wenn man dieses Konzept nun als gehaltsästhetisches Beispiel par excellence ansetzt, so ist sein Gehalt durch die Geschichte Dresdens allerdings noch lange nicht gesichert. Denn genügt der einzige Unterschied, dass sich die Gehalte der avancierten vormodernen Architektur im Gegensatz zu Libeskinds Museumsanbau in einer kulturell enger geschnürten Struktur an gesellschaftlichen Dogmen bewegen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass sowohl die vormoderne als auch die nachmoderne Kunst gleichermaßen Gehalte enthalten, diese aber unterschiedlichen künstlerischen Intentionen folgen? Denn was wäre, so man die postmoderne Kunst als gehaltsästhetisch identifiziert, eine entsprechend »gehaltlose« Kunst der Vormoderne?

Zu Bedenken ist bei dieser Kritik zweifelsfrei auch der Abstraktionsgrad des Wortes »Gehalt«, der etymologisch nichts Anderes meint, als »Inhalt« (Etymologisches Wörterbuch des Deutschen von Wolfgang Pfeifer, s.v. »Gehalt«). Spätestens seit dem 18. Jahrhundert sind die komplexen Begriffe »Form« und »Inhalt« (Stoff) zur philosophischen Streitsache avanciert. Allen voran hat Georg W. F. Hegel das Wesen des Ästhetischen als eine Einheit von Gehalt und Gestalt, von Inhalt und Form, gesehen. Doch möchte man insbesondere Kunstwerken der Avantgarde gerne attestieren, dass sie nicht mehr Garanten eines verbindlichen Gehaltes sind. Form und Inhalt haben eine Freiheit für sich gewonnen. Ihr Rückkopplungsprozess ist unweigerlich aufgehoben. Wo positioniert Lehmann die semantische Füllung seines Gehaltsbegriffes? Und was ist das ausgewiesene Novum der Gehalte zeitgenössischer Kunst, wenn man per definitionem durchaus sagen kann, dass Kunst seit Menschengedenken Gehalte und Zuschreibungen besitzt?

Lehmanns prätentiöser Theoriestil kann und wird mit Leichtigkeit auf Gegenkritik stoßen, denn er unternimmt ein überaus komplexes Angebot, wie man ästhetische Phänomene über den Rahmen der Bildenden Kunst hinaus, also auch in der Neuen Musik, Lyrik oder dem Design deuten kann.

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