Buchrezensionen

Haruki Murakami: Die unheimliche Bibliothek, DuMont Buchverlag 2013

Es ist in der Tat eine ›unheimliche Bibliothek‹, in die uns die Erzählung des japanischen Autors Haruki Murakami und die Werke der deutschen Illustratorin Kat Menschik entführen: Ein Junge wird von einem cholerischen Bibliothekar in ein düsteres, unter einer Stadtbücherei gelegenes Labyrinth geführt und eingekerkert. Dort erwarten ihn ein Zwitterwesen – halb Mann, halb Schaf – und ein graziles, stummes Mädchen, die die Geschichte zum Funkeln bringen. Ein außergewöhnliches, zutiefst berührendes Lesevergnügen mit illustratorischen Meisterwerken, urteilt Verena Paul.

Mit »Die unheimliche Bibliothek« wird der Leser in eine geheimnisvoll abgründige Welt zwischen zwei Buchdeckeln entführt. Doch in dieser Erzählwelt geht nichts seinen normalen Gang. Ganz im Gegenteil: Der Bibliotheksbesuch eines für den Leser namenlos bleibenden Jungen wird zur lebensbedrohlichen Odyssee in einem unterirdischen Labyrinth. Und der schrullige alte Bibliothekar, der ihn dort hinführt, entpuppt sich als Personifikation des Bösen, schließlich möchte er das »mit Wissen vollgestopfte« Gehirn des Knaben aussaugen. Etwa ein Monat bleibt dem Entführten, um drei Bücher auswendig zu lernen. In der Zwischenzeit soll er – bedient vom Schafsmann und dem wunderschönen, stummen Mädchen – mit allerlei Köstlichkeiten verwöhnt werden. Doch sein Ziel ist es, zu seiner besorgten Mutter und seinem kleinen Star zurückzukehren, den er füttern muss. Gemeinsam mit dem Schafsmann gelingt in einer Neumondnacht die abenteuerliche Flucht. Allerdings schmeckt die wieder gewonnene Freiheit schal, wenn der Junge am Ende reflektiert: »War all das wirklich geschehen? Ehrlich gesagt, ich wusste es nicht. Alles, was ich wusste, war, dass ich meine Schuhe und meinen Star verloren hatte. Letzten Dienstag ist meine Mutter gestorben. Sie starb an einer unbekannten Krankheit. Eines Morgens ging sie so still, als hätte sie sich einfach aufgelöst. […] und dann war ich allein. Keine Mutter, kein Star, kein Schafsmann, kein Mädchen.«

In klarer und bisweilen poetisch anmutender Sprache gestaltet Haruki Murakami eine zutiefst berührende Geschichte über die Einsamkeit eines in der Welt verloren gegangenen Jungen. Jede der Figuren, Gestalten und Tiere hat eine tiefe Bedeutung, denn nichts in dieser Erzählung ist zufällig, sondern bewusst auf das Ende hin konzipiert worden, an dem der Protagonist gänzlich verlassen ist und sich einigelt – wie Kat Menschiks abschließende Illustration zeigt. Die embryonale Haltung verdeutlicht, wie sehr sich der Junge nach (mütterlicher) Wärme und Geborgenheit sehnt. Doch selbst der das untere Bilddrittel füllende tote Star, der in seiner Körperlichkeit in Auflösung begriffen und nur noch verschwommen wahrnehmbar ist, kann keinen Trost mehr spenden.

Kat Menschiks Illustrationen interpretieren das Unheimliche und das sich zwischen den Zeilen manifestierende Grauen auf pointierte Weise. Menschiks Werke sind primär in schwarz-weiß gestaltet und so wird jeder noch so kleine Farbakzent zu einem bedeutsamen Stolperstein. Zu denken ist dabei an die gefährlich aufgerissenen roten Augen des Bibliothekars, die grüne Regenbogenhaut des zähnefletschenden Hundes oder an die rosigen Lippen des stummen Mädchens, die einen magischen Kuss auf die Wangen des Jungen hauchen. Dieser Kuss stiftet nicht nur Verwirrung, sondern dröselt auch die Angst des im Verlies Gefangenen auf, wenn dieser bekennt: »Zugleich hatte sich meine Angst in eine Angst verwandelt, die eigentlich gar keine Angst mehr war. Jedenfalls war diese angstlose Angst letztendlich keine große Sache mehr.« Eine große Sache ist hingegen dem DuMont Buchverlag mit der vorliegenden Publikation gelungen, die eine breite Leserschaft in den Bann ziehen wird: vom jugendlichen Abenteuerleser bis zum intellektuellen Schöngeist.

Resümee: Auf dem Buchumschlag heißt es, »Die unheimliche Bibliothek« sei »ein kafkaesker Alptraum und zugleich eine einfühlsame Geschichte von Verlust und Einsamkeit« und Murakami schachtele »die Ebenen dieser kunstvollen Erzählung ineinander wie die Welten, die sich in der Bibliothek zu berühren scheinen.« Diese Einschätzung ist absolut treffend, doch es muss ergänzt werden: Nicht Haruki Murakami allein verzaubert und entzaubert uns, indem er eine aufregend unaufgeregte Balance zwischen mysteriösen, Angst einflößenden Kellerverliesen und von Melancholie durchdrungenen Seelenlandschaften erschafft – nein: Auch Kat Menschik beflügelt mit ihren Illustrationen unsere Fantasie auf vielfältige Weise. Ihre verstörend magischen, zutiefst berührenden und dabei nie ins Pathetische abdriftenden Werke, die sich zudem durch eine grandiose Ästhetik auszeichnen, machen das mit Leseband versehene Buch zu einem bibliophilen Kleinod. Ein wundervolles Bändchen, das mein Herz im Sturm erobert hat!

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