Ausstellungsbesprechungen

Hautnah. Unsere Heiligen unter der Lupe, St. Annen-Museum Lübeck, bis 8. Mai 2016

Einen ganz anderen als den üblichen Blick auf mittelalterliche Kunst kann man dieser Tage im Lübecker St. Annen-Museum werfen. Makrofotos der Restauratorin Maire Müller-Andrae dokumentieren den Zustand der Kunstwerke vor ihrer Instandsetzung, und dazu werden einige der schönsten Stücke der großen Sammlung neu präsentiert. Stefan Diebitz hat sich alles ganz genau angeschaut.

Die große Sonderausstellung zum fünfhundersten Jubiläum des Lübecker St. Annen-Museums hat nicht zuletzt auch eine Restauratorin intensiv beschäftigt, Maire Müller-Andrae. Es gehört zur Routine ihrer Arbeit, diese mit zahlreichen Vorher-Nachher-Fotos zu dokumentieren, und jetzt haben die Besucher des Museums das Glück, 46 dieser Bilder in einer Sonderausstellung anschauen zu dürfen. Hat man sich diese Fotos angeschaut und hinterher auch die zuvor so arg beschädigten Kunstwerke besucht, kann man der Restauratorin seine Bewunderung nicht versagen: Es ist ganz unwahrscheinlich, wie gut sie die verschiedenen Plastiken und Reliefs wieder herrichten konnte – viele davon schienen vor der Aufnahme ihrer Arbeit ganz zerstört. Es ist schön, dass mit dieser Ausstellung die unschätzbare Arbeit einer Restauratorin gewürdigt wird!

Obwohl keines der Fotos mit einer künstlerischen Intention aufgenommen wurde, wirken nicht wenige wie autonome Kunst, besonders wie abstrakte Kunst – je mehr, je näher die Fotografin herangegangen ist. Schon aus rein ästhetischen Gründen sind eigentlich alle diese Bilder höchst reizvoll, sehr viele wegen ihrer Farben, andere, weil sie eindrucksvolle Gesichter in Großaufnahme zeigen, schließlich einige, weil sie mit ihrer extremen Vergrößerung wie abstrakte Bilder wirken. Man glaubt gar nicht, wie hübsch ein Schimmelpilz aussehen kann!

Ganz ernsthaft ist der Hinweis des Museums darauf, dass erst diese Vergrößerungen den Aufbau der einzelnen Kunstwerke zeigen können. Erst sie offenbaren die Aufeinanderfolge der verschiedenen Farbschichten, den Pinselstrich und auch Konservierungsmaßnahmen der Vergangenheit.

Die Fotos dokumentieren den Zustand vor Beginn der Restauration und zeigen die Spuren von Wurmbefall oder die schrundigen Oberflächen der Retabel und ihre sich ablösenden Farbschollen, die Stück für Stück, so winzig sie auch sein mochten, mit Fischleim wieder angeklebt werden mussten. Auch kann man die vielseitigen Arbeitstechniken der Maler und Bildschnitzer im Detail anschauen, die verschiedenen Grundierungen oder andere Vorbereitungen für den Farbauftrag: Der Besuch dieser kleinen, aber feinen Sonderausstellung wird so zu einem kunsthistorischen Grundkurs. Im Grunde sollten Studenten der Kunstgeschichte aus Hamburg und Kiel in den nächsten Wochen scharenweise das St. Annen-Museum bevölkern, denn worin unterscheidet sich ein Kunsthistoriker von einem Kunstfreund, wenn nicht darin, dass er Bilder einerseits aus der Nähe, andererseits auch von hinten kennenlernt und beurteilt?

Alle fotografierten Kunstwerke (es handelt sich durchweg um Altäre, Plastiken und Reliefs des ausgehenden Mittelalters) kann man sich gleich darauf in der ständigen Ausstellung anschauen – manche davon in ganz neuer Umgebung. Eine besondere Bereicherung der ohnehin großartigen Sammlung ist ein Kruzifix aus der Lübecker Katharinenkirche, das über Jahre hinweg in einer Friedhofskapelle heftigen Temperaturwechseln und sogar Vogelkot ausgesetzt war – lange hätte es das wohl nicht mehr durchgehalten, so dass seine Übersiedlung in das Museum seine Rettung gewesen sein dürfte.

Jetzt darf man dieses sehr schöne Kruzifix, gründlich restauriert, in einer ihm entsprechenden Umgebung bewundern. Und »entsprechend« heißt hier nicht allein, dass Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit kontrolliert und reguliert werden, sondern es bedeutet auch, dass die wunderbaren Räume eines ehemaligen Klosters den einzigen wirklich passenden Rahmen für ein spätgotisches Kunstwerk aus derselben Epoche abgeben. Der Remter, der Kreuzgang und alle anderen Räume sind mit ihrem ganz besonderen Licht, vor allem aber der Gliederung durch die Kreuzrippengewölbe aus Backstein ein Erlebnis für sich: schöner können Kunstwerke nicht präsentiert werden, zumal erfreulicherweise auch die roten Podeste fehlen, die in der Sonderausstellung die Leihgaben von der ständigen Ausstellung unterschieden. Jetzt ist der Gesamteindruck viel harmonischer und ausgeglichener.

An dieser Stelle sei auch einmal ein Vergleich des St. Annen-Museums mit dem hochgelobten Hansemuseum nahegelegt – ein Vergleich, den das St. Annen-Museum leicht gewinnt, denn es zeigt Originale in unvergleichlich schönen Sälen, wogegen das Hansemuseum Repliken und Wachsfiguren in dunklen Betonräumen vorführt.

Zu den restaurierten und von Maire Müller-Andrae fotografierten Kunstwerken gehören außer der St. Jürgen-Gruppe und einem schönen Relief gleich einige Retabel. Der Drachentöter aus der Hand Henning van der Heydes war früher in einer abseits gelegenen Kapelle vor den Toren der Stadt aufgestellt. (»St. Jürgen« ist der norddeutsche Name für »St. Georg«.) Schon in den letzten Jahren stand die Plastik frei im Raum, aber ihre Stellung wurde jetzt in die Mitte des Raumes gerückt, so dass der Besucher um sie herumgehen und sie von allen Seiten bewundern kann. Auch diese Plastik ist schön restauriert, aber der Verlust verschiedener Details (unter anderem eine goldene Kette) sowie des ursprünglichen Drachen lässt sich natürlich nicht wieder wettmachen. Auch ist man sich nicht ganz darüber im Klaren, wie das Pferd aufgestellt gewesen sein muss – wahrscheinlich müsste es sich mehr aufbäumen, denn der ursprüngliche Drache hat, wie man an anderen Darstellunen (zum Beispiel der entsprechenden Bernt Notkes, dem Lehrer van der Heydes) sehen kann, mit seiner Tatze nach dem Tier gegriffen. Trotzdem ist die Gruppe höchst eindrucksvoll.

Dicht daneben hängt ein ganz wunderbares, vielfiguriges und lebendiges Relief aus Eichenholz aus der Lübecker Seefahrerkirche St. Jacobi, eine Arbeit aus den nördlichen Niederlanden um 1500. Es sieht aus wie neu und zeigt in frischen und leuchtenden Farben die Ankunft der Heiligen Drei Könige.

Das St. Annen-Museum besitzt die größte Sammlung von Retabeln in ganz Deutschland, und als sein Paradestück (und als eines der wichtigsten, wenn nicht gar das wichtigste Kunstwerk Lübecks überhaupt) gilt seit langem der Passions-Altar des Hans Memling, eines deutschen Meisters, aber als Schüler des großen Rogier van der Weyden Angehöriger der niederländischen Schule. Sein vielfiguriger Altar, ein Spätwerk, wurde jetzt im Erdgeschoss frei und damit allsichtig in den Raum gestellt; seine Flügel sind immer aufgeklappt, was den Kunstenthusiasten freuen sollte, aber natürlich seine religiöse Aufgabe verfehlt, denn schließlich stehen Alltags-, Sonntags- und Festtagsseiten der Altarbilder in einem engen Zusammenhang mit dem Kalender, und es ist oder war nicht allein für die Gläubigen, sondern auch für die Bewunderer der Kunst ein Fest, wenn mit den hohen Feiertagen manche Tafeln zugeklappt, andere dagegen aufgeklappt wurden.

Die jetzige Aufstellung marginalisiert den Altar zu einem bloßen Kunstwerk. Jetzt ist es nicht länger ein heiliger Schrein und damit ein Gegenstand, von dem ein Sinn ausstrahlt, dem wir uns zu beugen haben (etwa, indem die Tafeln den einzelnen Tagen ihre Bedeutung zumessen), sondern einfach nur noch ein Objekt – vielleicht finden wir es ästhetisch ansprechend und bewundern Geschicklichkeit wie Einfallsreichtum seines Schöpfers, vielleicht ist es kulturhistorisch bedeutend, aber seinen eigentlichen Sinn hat es verloren, indem es seine Tafeln von sich abspreizt und damit sich selbst – ja bloßstellt, damit wir um es herumgehen und es genau untersuchen. Diese Reduktion ursprünglich religiöser Kunst ist nichts Neues, und die richtigen Worte hat bereits Hegel gefunden, als er in seinen »Vorlesungen über die Ästhetik« sagte: »Mögen wir […] Gottvater, Christus, Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen - es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.« Nicht einmal im St. Annen-Museum.

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