Buchrezensionen

Heinz R. Böhme (Hg.): Wir haben uns lange nicht gesehen. Kunst der Verlorenen Generation Sammlung Böhme. Hirmer Verlag

Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 setzte dem künstlerischen Stilpluralismus der Weimarer Republik ein jähes Ende. Emigration, Verfolgung oder gar Ermordung vieler Kunstschaffender waren die Folge. Heute stehen wir vor den Mosaikstücken einer ganzen Künstlergeneration und sind mit der kunsthistorischen Aufarbeitung ihrer Werke sowie ihrer Rückkehr in die Öffentlichkeit konfrontiert. Wie fruchtbar und erfüllend diese Arbeit sein kann, zeigt ein dem Thema gewidmeter Katalog. Annkathrin Sonder hat ihn gelesen.

Cover © Hirmer Verlag
Cover © Hirmer Verlag

 Noch vor dem ersten Aufschlagen des sorgfältig erarbeiteten Buches artikuliert der auf Augenhöhe platzierte Titel »Wir haben uns lange nicht gesehen« den Anspruch des Salzburger Privatmuseums »Kunst der Verlorenen Generation«, die vergessenen Werke und Biografien von mehr als achtzig Künstlern der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. So ist 2017 viel mehr als eine Gedächtnisstätte in einem historischen Stadthaus entstanden, nämlich ein Raum, der den Dialog zwischen einer als Kollektiv gefassten Maler*innengeneration und dem heutigen Betrachter ermöglicht. Die meisten der aktuell 350 Werke wurden noch nie zuvor in der Öffentlichkeit präsentiert. Neben ihrer Zugänglichkeit zählt es zu den Aufgaben des Museums, nicht nur die Gemälde in ihrem künstlerischen sowie zeithistorischen Kontext zu verorten, sondern vor allem die mit ihnen verbundenen Lebensgeschichten akribisch aufzuarbeiten.

Gemäß dieser Doppelfunktion von Präsentation und sorgfältig betriebener Recherche leistet das gemeinnützige Museum – ebenso wie der Katalog – einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Erinnerungskultur: Großformatige, qualitativ hochwertige Farbabbildungen, Kurzbiografien mit ausgewählten Literaturhinweisen sowie ein aktuelles Bestandsverzeichnis sämtlicher Werke der hochrangigen Privatsammlung dokumentieren mit einem außergewöhnlichen Sentiment für wissenschaftliche Prägnanz und Menschlichkeit die Errungenschaften des Privatsammlers und Museumsgründers Prof. Dr. Heinz R. Böhme.

Dass Kunst Zeitzeugnis und Zeitopfer zugleich sein kann, zeigen die unter dem NS–Regime als ›entartet‹ diffamierten und in der Folge vertriebenen oder gar ermordeten Künstler, die nun – einige Jahrzehnte später – wieder oder vielmehr gänzlich neu entdeckt werden können. Den Ausgangspunkt seiner Sammlertätigkeit, so entnimmt man einem im Katalog enthaltenen Interview mit Böhme, bildete eine Lücke zu Leben und Werk des Berliner Impressionisten Ludwig Jonas (1887–1942). Schnell wurde klar, dass es sich nicht um eine individuell verblasste Künstlerbiografie handelt, sondern dass diese Lücke grundsätzlich in der Kunstgeschichte zwischen 1920 und 1945 klafft. Zu ihrer Klärung tragen wie Böhme bisher allerdings nur eine Handvoll Privatsammler bei, die durch ihre Leidenschaft und Rechercheinitiative einen Teil derer ins kulturelle Gedächtnis zurückholen, die noch siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges von der Bildfläche verschwunden sind. Böhmes Interesse gilt dabei weniger der Raubkunst – d. h. jenen Kunstschätzen, die während des Dritten Reichs jüdischen Familien, Galeristen und Sammlern enteignet oder zwangsversteigert wurden und mit denen der Kunstmarkt noch heute höchst lukrative Geschäfte erzielt – sondern vielmehr den Maler*innen der sog. »Verlorenen Generation«, die trotz der bemerkenswerten Qualität ihrer Werke immer noch ein Schattendasein fristen. Er sucht dort, wo andere oft keinen Blick hin verschwenden und sammelt spannende Sujets, »denn der Lebenslauf eines Künstlers drückt sich in seinen Bildern aus«. Ob es an Böhmes Tätigkeit als Arzt liegen mag, dass er den Menschen so sehr ins Zentrum rückt und mit der explizit antibiographistischen Kunstvermittlung öffentlicher Museen im eigenen Haus bricht?

Der Kunsthistoriker Rainer Zimmermann (1920–2009) prägte 1980 den Begriff der »Verschollenen« oder »Verlorenen« Generation in Anlehnung an die Bezeichnung »Lost Generation«, die Hannah Arendt (1906–1975) und Gertrude Stein (1874–1946) für die Schriftsteller*innengeneration der amerikanischen Moderne einführten.
Unter der »Verlorenen Generation« werden jene Künstler*innen zusammengefasst, die an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert geboren wurden und in den 1920er und 1930er Jahren bei berühmten Lehrern wie Max Beckmann (1884–1950), Otto Dix (1891–1969), Lovis Corinth (1858–1925) oder Henri Matisse (1869–1954) lernten. Fatale Zeitumstände wie politische Gräuel kappten ihre ersten künstlerischen Erfolge – viele von ihnen wurden in der Blütezeit ihres Schaffens mit Berufsverboten belegt. Auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten folgte eine ›Säuberung des Kulturlebens‹: Alle Kunstschaffenden, die nicht der vorherrschenden Doktrin entsprachen oder zur Anpassung bereit waren, wurden ihrer Ämter enthoben, in den Untergrund verbannt oder zur sofortigen Emigration gezwungen. Schmähausstellungen, die als sog. »Schreckenskammern« der ›Volksaufklärung‹ dienen sollten, versammelten das gesamte Spektrum moderner Kunst in Deutschland. Eine der folgenschwersten unter ihnen war die bekannte Münchener Kunstschau »Entartete Kunst« von 1937.

Ab 1938 erfolgte die systematische Entziehung privaten Kunstbesitzes, binnen weniger Jahre wurden etwa 600 000 Kunstwerke unter politisch legalem Deckmantel geraubt, verkauft oder zerstört. Viele sind bis heute nicht auffindbar.
Böhmes Recherchen folgen den wenigen, leicht übersehbaren Hinweisen auf deren Existenz und befördern dabei Erstaunliches zutage: Man erfährt etwa von Herbert Behrens-Hangelers (1898–1981) Schicksal, der Malerei in Berlin bei Lovis Corinth sowie Musik bei Ferruccio Busoni (1866–1924) studierte, bis 1933 Teil der progressiven Novembergruppe war und kurz vor Kriegsausbruch mit Lyonel Feininger (1871–1956), Max Beckmann (1884–1950) und Karl Hofer (1878–1955) die Künstlergruppe »Selection« gründete. 1933 wurde der Maler öffentlich denunziert, als »entarteter« Künstler diffamiert und seine Bilder in Brand gesteckt. Trotz verhängtem Arbeitsverbot arbeitete Herbert Behrens-Hangeler im Untergrund weiter. Ab 1949 unterrichtete er an der Kunsthochschule Berlin–Weißensee seinen bekanntesten Schüler: den international renommierten Künstler Georg Baselitz (*1938).

Bemerkenswert ist auch die Geschichte der 1878 in Berlin geborenen Malerin Käthe Loewenthal, die bei Ferdinand Hodler (1853–1918) und Leo von König (1871–1944) studierte und sich ab 1905 als freischaffende Künstlerin in München etablierte. Dort war sie Mitglied im »Künstlerinnen–Verein München«. Zum Jahreswechsel 1909/10 bezog Loewenthal ihr eigenes Atelier im »Württembergischen Malerinnenverein« in Stuttgart, woraufhin regelmäßige Beteiligungen an Ausstellungen, u. a. an der »Stuttgarter Sezession« folgten. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung erhielt die Künstlerin 1934 Mal– und Ausstellungsverbot, ihr Ausschluss aus dem »Württembergischen Malerinnenverein« folgte kurze Zeit später. Nach drei Jahren in einer ›Judenwohnung‹ in Stuttgart–Kaltenthal wurde sie schließlich 1942 ins deutsche Konzentrationslager Izbica im besetzten Polen deportiert und dort ermordet. Bei einem Bombenangriff auf Stuttgart ein Jahr später wurden die meisten ihrer verbliebenen Werke zerstört. Im Katalog abgebildet ist eines der wenigen erhaltenen Kunstwerke, ein Stillleben, das sich heute im Besitz Böhmes befindet.

Der vorliegende Band ist eine ergreifende und mitreißende Hommage an die Menschlichkeit. Auf kluge Weise vereint er wissenschaftliche Artikel zum Forschungsstand des Themas mit dem Blick hinter die Kulissen der Sammlertätigkeit Böhmes, aus dessen eigener Hand die umfangreichen biografischen Texte stammen. Sein selbsternanntes Ziel, dass dieses Buch als Quelle und Grundlage für weitere Recherchen zur Kunst der Verlorenen Generation fungieren solle, wird hierdurch weit übertroffen. Der Funke einer persönlichen Verbindung sowohl mit den Kunstwerken als auch den dahinterstehenden Einzelschicksalen, den der Sammlungsvater entzündet, springt sofort auf den Leser über. Dieser begegnet dem Menschen durch seine eigene Menschlichkeit, als würde er zu den Kunstwerken sagen: »Wir haben uns lange nicht gesehen«. Dieser facettenreiche Band gehört somit ausdrücklich nicht nur in die Hände Kunstinteressierter, sondern ist allen dringend anempfohlen, welche die deutsche Vergangenheit aufdecken und einer Künstlergeneration gegenübertreten möchten, die zu Unrecht und schon viel zu lang im Dunkeln schlummert.

Heinz R. Böhme (Hg.): Wir haben uns lange nicht gesehen. Kunst der Verlorenen Generation Sammlung Böhme
Hirmer Verlag
Beiträge von: H. R. Böhme, G. Ridler, R. Streibel
Mit einem Geleitwort von Wilfried Haslauer
272 Seiten, 300 Abbildungen in Farbe
22 x 28 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3388-2

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