Henri Cartier-Bresson zählt zu den berühmtesten Fotograf:innen des 20. Jahrhunderts. Mit seinem Gespür für den „entscheidenden Augenblick“ erfasste er spontane Begegnungen und Situationen. Seine Arbeiten, heute Ikonen, machten ihn zu einem wichtigen Vertreter der Street Photography. Anhand von 240 Originalabzügen sowie zahlreichen Veröffentlichungen in Illustrierten und Büchern beleuchtet die aktuelle Austellung das Lebenswerk des Fotografen. Karin Ego-Gaal war für PKG vor Ort.
„Watch! Watch! Watch!“ heißt die derzeitige Foto-Ausstellung des französischen Fotografen Henri Cartier-Bresson (1908-2004). Er war Zeitzeuge eines ganzen Jahrhunderts und fing mit seiner 35 mm Leica Kamera weltgeschichtliche Ereignisse oder auch ganz persönliche Szenen von Menschen auf der Straße ein; immer beobachtend, geduldig, aber auch neugierig und experimentierfreudig. Cartier-Bresson gilt als einer der einflussreichsten und bekanntesten Fotografen des 20. Jahrhunderts und seine über 50 Jahre andauernde Karriere als außergewöhnlich. Die Ausstellung zeigt seine Anfänge, die vom Surrealismus und einer „Neuen Vision“ inspiriert und beeinflusst wurden, sowie seine Karriere als Fotojournalist. Er arbeitete zuerst für die französische kommunistische Presse und später reiste er als Mitbegründer der bekannten Agentur „Magnum Fotos“ durch die Welt und wurde mit Dokumentationen und Fotos aus dem täglichen Leben, zum größten Vertreter der Straßenfotografie.
Die Ausstellung ist in zehn Themenbereiche aufgeteilt, beginnend mit seiner Biografie und dem ersten großen Thema „Neue Vision und Surrealismus“. Seine ersten Werke in den 30er Jahren zeigen durch außergewöhnliche Perspektiven und Blickwinkel und der Fragmentierung des Objektes, unübersehbar Merkmale des „Neuen Sehens“, einer der großen Stilrichtungen der Fotografie. Der erste Raum beginnt mit seinem Selbstportrait, das durch einen Spiegel verzerrt ist; gefolgt von dem Portrait eines Mannes mit zwei Köpfen; einem Image einer Frau, die von Schaufensterpuppen umringt ist und ein verzerrtes Portrait eines Professors, das an Werke von Francis Bacon erinnert. Viele seiner Fotografien sind von surrealistischen Motiven geprägt. Auch der Akt des Sehens und Gesehenwerdens wird zum Thema, besonders beim Foto „Valencia“, das bei seiner ersten Spanienreise 1933 entstand. Es zeigt nicht nur dem Betrachter die Interaktion zwischen dem Sehen und dem Gesehenwerden, sondern auch Cartier-Bressons Vorliebe für geometrische Kompositionen in Form von Kreisen und Linien anhand von Schildern, Brillenfassungen und Fenstern, die das Foto perfekt koordiniert inszenieren.
Raum zwei befasst sich mit „Dunklen Stunden, hellen Augenblicken. Erste politische Berichte und Zeugnisse des Krieges“. Als Zeugen der Zeit wählte er die Städte Paris, Madrid und Marseille. Seine Fotos zeigen sie in düsteren Zeiten im Zeichen des Krieges: Traurige, verwahrloste Kinder; Obdachlose, tot oder schlafend auf der Straße und alte Frauen, die bettelnd auf der Straße sitzen. Diese schwer zu verarbeitenden Eindrücke stehen im Kontrast zu den leichteren Momenten wie Urlaubsfotos von Frankreich, 1938, aus Juvisy-sur-Orge. Sie zeigen zwei junge Maenner beim Sonnenbaden, die ihre Freundinnen beobachten; sowie zwei Paare beim Picknicken oder die ersten Versuche von Camping. Als Fotojournalist arbeitete er auch regelmäßig für bekannte französische Magazine und Zeitungen wir das „Ce Soir“, für die er exklusiv im Mai 1937 mit einer Fotoserie von der Krönung von Georg IV berichtete. Besonders auffallend ist, dass sich Cartier-Bresson eher auf die wartende und feiernde Menschenmenge konzentrierte, anstatt Bilder des frisch gekrönten Koenigs und seinen Zeremonien festzuhalten. Fein angezogen, mit Anzug und Krawatte, Hüten und schönen Mänteln, zeigen seine Fotos die Bürger, die mit Periskopen oder anderen Mitteln, versuchen, ihren neuen König zu sehen, ihm nahe zu sein. Fotografien vom König selbst und seiner Entourage, fehlen.
Von Juni 1940 bis Juli 1943 war Cartier-Bresson Gefangener im deutschen Lager in Ludwigsburg. Nach seiner Flucht nahm er sofort seine Arbeit als Fotograf wieder auf und reiste als Fotojournalist für das Magazin „Magnum“ um die Welt. „Indien und China. Gesellschaften im Wandel“ zeigt einen Themenbereich mit großen politischen Umbrüchen. Viele Fotos dieser Bilderstrecke widmen sich der Ermordung von Mahatma Gandhi, 1948. Sie zeigen bewegende Eindrücke der Trauerfeier mit dem Zug einer riesigen Menschenmasse, die sich um einen großen, geschmückten Wagen mit dem Leichnam darauf, versammelt. Cartier-Bresson dokumentierte sogar die emotionale Verbrennung Gandhis und ließ die ganze Welt daran teilhaben. Doch auch der Pomp und Glanz Indiens bekommt in seinen Fotos Aufmerksamkeit wie der Geburtstag des Maharajas, der sich sieben Tage lang feiern ließ und sich und seine Familie mit Juwelen und Reichtum und einem besonderen Spektakel, einem Elefantenkampf, feierte. Im absoluten Kontrast dazu berichtete er vom Flüchtlingslager in Kurukshetra und von der unermesslichen Schönheit der Region Kaschmir. Im gleichen Jahr dokumentierte er die letzten Monate des Kuomintang Regimes in China mit düsteren Fotos von einer Zwangsrekrutierung von Truppen durch die nationale Regierung. Sogar für die SZ hat Henri Cartier einen ersten unzensierten Bildbericht aus Shanghai im November 1949 veröffentlicht.
Ende der 1940er entstand seine „Amerika in Schwarz und Weiß“ Serie. Fotografien von Schwarzen in Harlem, New York, fein angezogen für den Sonntagsgottesdienst, portraitierte er genauso wie die Aktivisten Malcom X und Martin Luther King Jr. Als Beobachter und Zeitzeuge dokumentierte er mit vielen seiner Fotografien die Segregation und soziale Diskriminierung der Afroamerikaner im Süden der USA. Ein Foto von 1961 in Nashville machte besonders auf sich aufmerksam: er hielt den Moment fest, als weiße Bürger einigen schwarzen College-Studenten, den Zutritt zu einem Kino verwehrten. Ein Foto aus dem gleichen Jahr, welches einen weißen Mann auf einer großen Holzbank zeigt, der mit seinen ausgebreitenden Armen die Bank für sich allein in Besitz nimmt, während daneben zwei schwarze Maenner sich eine kleine Holzbank teilen, spricht für sich. Cartier-Bresson beschränkt sich allerdings nicht nur auf die schwarze Bevölkerung. Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre zeigt er auch das Leben der weißen amerikanischen Bevölkerung, z.B. bei einem Football Spiel der Yankees oder eine Ansammlung von Polizisten bei der St. Patricks Parade oder einfach Passanten in New York.
„Das Leben im Augenblick einfangen“, darin war Henri Cartier-Bresson einer der Besten. Das Thema „Urbane Welten und Straßen Fotografien“ stellt sein Interesse der Gegenüberstellung von Menschen mit visuellen Zeichen wie Werbeplakaten oder politischen Parolen in den Vordergrund. So steht ein überlebensgroßer Lenin vor dem Winterpalast im damaligen Leningrad; Passanten in Peking, China, schauen fasziniert ein Fahrrad im Schaufenster an; in New York findet sich ein Passant vor der riesigen Auslage eines Alkoholgeschäftes und in Uvalde, USA, posiert ein verzückter Barkeeper vor einem riesigen Coca-Cola Plakat einer unbekannten Schönen. Eine seiner wunderbaren Straßen Fotografie Serien, welche die Realität der Straße einfängt, wurde 1953 im „Life“ Magazin mit dem Titel „Alles spielt sich auf dem öffentlichen Platz ab“ publiziert. Dieses Motto gilt besonders für südeuropäische Städte wie Rom, Venedig oder Palermo. Fotos von kleinen Jungs, die als Cowboy verkleidet, sich mit Spielzeugpistolen bekämpfen oder italienische Teenager, die sich mit einer Gitarre als Troubadour versuchen oder eine italienische Schönheit, die den öffentlichen Platz einfach benutzt, um zu lesen. Obwohl bei seinen Fotografien meistens Menschen im Mittelpunkt stehen, dokumentierte er in den 1960er Jahren die Veränderungen in der Peripherie von Paris. Er zeigt die tristen, monotonen, modernen Wohnkomplexe, in denen die eingewanderten Arbeiter lebten und passend dazu das Leben in den Vorstädten.
Städte stehen auch beim nächsten Thema „Reiseberichte“ im Mittelpunkt, besonders die Stadt Hamburg, die Region Basilicata in Italien und verschiedene Städte in Spanien. Cartier-Bresson verbrachte im Winter 1952-1953 einige Wochen in Hamburg und es gelang ihm ein beeindruckendes Portrait einer Stadt, die er auch das „New York von West Deutschland“ nannte. Eine Bilderstrecke für das Magazin „Fortune“ entstand: darunter Fotos von der monumentalen Statue von Otto von Bismarck; eine Fischverkäuferin auf dem berühmten Hamburger Fischmarkt; ein Fischer im Hafen; Arbeit suchende deutsche Maenner; das nächtliche Treiben rund um die Reeperbahn sowie das luxuriöse Alsterhaus und das kommerzielle Leben bei Karstadt, das er das Macy´s von Hamburg nannte. Er dokumentierte eine Stadt, deren Spuren des Krieges jedoch noch überall gegenwärtig waren. In Basilicata, einer Bergregion in Süditalien zeigte er hauptsächlich das Leben der Einheimischen, darunter religiöse Prozessionen; Frauen in traditionellen Kleidern, die am Brunnen Wasser holen und Menschen, die teilweise noch in Höhlen wohnten. Aber auch der Charakter der Gegend wird durch die Landschaftsfotografien präsent.
Der Schluss der umfangreichen Retrospektive bilden die Porträts: Henry Matisse in seinem Haus in Frankreich 1944, umrahmt von weißen Tauben; Coco Chanel in Paris 1964, perfekt gestylt im klassischen Chanel Kostüm mit Perlenkette und rauchend; Truman Capote in New Orleans 1946, der zurückhaltend, fast ängstlich wirkt, auf einer Bank sitzend; Marcel Duchamp in seinem Haus in Frankreich 1968, entspannt mit einer Zigarre in der Hand und Alberto Giacometti in Paris 1961, durch den Regen stapfend, den Mantel über seinen Kopf gestülpt. Es sind außergewöhnliche Porträts, welche die Persönlichkeiten der Fotografierten offenbaren. Sie bewegen sich weit weg von inszenierten Selbstdarstellungen und durchbrechen die intime Sphäre. Und wieder kommt es auf den entscheidenden Moment an, die perfekte Aufnahme mit der Kamera einzufangen.
Henri Cartier-Bresson war Maler, Schriftsteller, Filmemacher, Anthropologe und Humanist, und er war vor allem ein Fotograf für Fotografen. Sein Fotobuch „The Decisive Moment“, das 1952 publiziert wurde, gehört zu den einflussreichsten und schönsten Fotobüchern aller Zeiten. „Beim Fotografieren geht es darum, Kopf, Auge und Herz in Einklang zu bringen. Es ist eine Lebenseinstellung.“ so Cartier-Bresson. Sein Erbe lebt durch sein Konzept des entscheidenden Moments und seine daraus entstandenen Fotografien wurden zu Ikonen in der Geschichte der Fotografie.
Henri Cartier-Bresson
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11.10.2024 – 26.01.2025