Ausstellungsbesprechungen

Henry Moore – Vision. Creation. Obsession, Arp Museum Bahnhof Rolandseck Remagen, bis 7. Januar 2018

Nachdem das Arp Museum im rheinland-pfälzischen Remagen-Rolandseck im letzten Jahr mit einer exquisiten Ausstellung Barbara Hepworths, der Grande Dame der britischen Bildhauerkunst, begeistert hatte, ist es nun ihr berühmter Kollege Henry Moore, der in den Räumen des von Richard Meier entworfenen, vor zehn Jahren eröffneten Museumsneubaus am Rhein einen großen Auftritt hat. Schon vor vierzig Jahren hatte es im historischen »Kunstbahnhof« Rolandseck eine Ausstellung mit Moore-Grafik gegeben, auch wurde 1978 am Rheinufer Moores »Large Standing Figure: Knife Edge« aufgestellt (wann sie dort ihr »Gastspiel« beendete ist unklar), jetzt sind es die monumentalen Großplastiken des Bildhauers, die die eindrucksvolle Schau dominieren. Rainer K. Wick hat sie angeschaut.

Kaum drei Monate, nachdem die in Kooperation mit der Tate London realisierte Ausstellung »Henry Moore. Impuls für Europa« im LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster ihre Pforten geschlossen hat, wurde Ende Mai auch im Arp Museum Bahnhof Rolandseck eine Schau des britischen Bildhauers eröffnet. Entgegen der nahe liegenden Annahme, es könne sich um eine Übernahme aus Münster handeln, erweist sich bei einem Besuch in Remagen-Rolandseck aber schnell, dass man es hier mit einem Eigengewächs aus der Retorte des Museumsdirektors Oliver Kornhoff und seines Kuratorenteams zu tun hat, das in enger Zusammenarbeit mit der 1977 gegründeten Henry Moore Foundation in England zustande gekommen ist. Anders als die Münsteraner Werkschau, die auch auf die eminenten Einflüsse Moores auf die Kunst des 20. Jahrhunderts und auf Querverbindungen zu zeitgenössischen Künstlern – bis hin zu Markus Lüpertz – einging, zeigt die Ausstellung im Arp Museum das plastische Œuvre des Briten im Wechselspiel mit Arbeiten des Hauspatrons Hans Arp, aber auch im Kontext von Gotik, Renaissance und der Kunst des 19. Jahrhunderts. Damit ist schon angedeutet, was diese Ausstellung nicht ist, nämlich eine klassische Retrospektive, die chronologisch die Werkentwicklung von den Anfängen in den 1920er Jahren bis zum Spätwerk nachzeichnet.

Die Konzeption der Ausstellung orientiert sich an den drei Leitbegriffen »Vision, Creation, Obsession«, die eigentlich keiner Übersetzung bedürfen, mit Blick auf die Schau in Rolandseck in ihrer spezifischen Sinngebung aber doch erläuterungsbedürftig sind. »Vision« meint im Verständnis der Kuratoren Moores lebenslange Orientierung an den Idealen von Humanität, wie der Künstler sie nicht nur in seinen eigenen Arbeiten umzusetzen suchte, sondern auch in der Kunst des Mittelalters, der Renaissance und streckenweise auch in der Kunst des 19. Jahrhunderts zu finden glaubte. »Creation« übersetzen die Kuratoren als schöpferische Originalität, die sich im künstlerischen Credo »Nicht abbilden, sondern bilden« fassen lässt, und »Obsession« bezieht sich auf Moores leidenschaftliches Interesse am großen Format, das in seinem Œuvre seit den 1950er Jahren zunehmend an Bedeutung gewann.

Nähert man sich vom Rhein her dem historischen Bahnhof Rolandseck, so sieht sich der Museumsbesucher zunächst mit der auf dem Rasen lagernden, neun Meter breiten, aus schneeweißem Fiberglas gegossenen »Large Reclining Figure« von 1984 konfrontiert. Mit dieser »Großen Liegenden« wird eines der Hauptthemen Moores angeschlagen, das den Künstler ein Leben lang beschäftigt und das der gleichsam von A bis Z durchdekliniert hat. Befindet man sich später dann im lichtdurchfluteten Museumsneubau, entdeckt man die nur knapp siebenunddreißig Zentimeter große Bronze »Reclining Figure« aus dem Jahr 1938, die effektvoll vor der Kulisse des auslaufenden Siebengebirges platziert ist, und stellt fest, dass die Fassung aus Fiberglas nichts anderes ist als die fast ein halbes Jahrhundert später erfolgte Übertragung dieser Kleinplastik ins große Format. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass eine Form unabhängig von ihrer Größe monumental sein kann, und Moore hat immer darauf hingewiesen, dass die Monumentalität einer Form eine Frage des Maßstabs und nicht eine Frage der konkreten Größe sei: »Wenn das Werk das Monumentale in sich hat, kann man es auf jedes gewünschte Maß vergrößern, und es wird richtig und in Ordnung sein.« Dies belegen auch die zahlreichen Kleinplastiken und Maquetten aus dem Studio des Künstlers, die in Rolandseck ausgestellt sind und denen zum Teil umstandslos der Dimensionssprung ins Großformat zuzutrauen wäre.

Noch vor Betreten des Museums begegnet der Besucher in der Eingangszone zum zweiten Mal dem Thema der liegenden Figur, diesmal in Gestalt des »Goslar Warrior« (1973/74), einer Skulptur, deren Name auf den Standort eines der im Garten der Goslarer Kaiserpfalz befindlichen Bronzegüsse zurückzuführen ist. Dargestellt ist ein sich aufbäumender, letztlich aber trotz seines Rundschilds schutzlos sterbender Krieger – eine aus dem Geist des Humanismus gespeiste Kritik des Künstlers am Krieg und der Sinnlosigkeit des »Heldentodes«.

Bevor man über Fahrstühle den dreigeschossigen Neubau Richard Meiers erreicht, lädt die Kunstkammer Rau zu einem Rendezvous zwischen Henry Moore und Kunstwerken aus der Sammlung des 2002 verstorbenen Tropenmediziners und Kinderarztes Gustav Rau ein. Schon zu Lebzeiten hatte der Sammler seinen Kunstbesitz der Stiftung des Deutschen Komitees für UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, vermacht und dem Arp Museum Bahnhof Rolandseck als langfristige Leihgabe mit der Auflage der kunstwissenschaftlichen Erschließung und der öffentlichen Präsentation überlassen. Hier sind nun Korrespondenzen zwischen den Beständen der Sammlung Rau und Arbeiten von Henry Moore gelungen, die die Begeisterung des Bildhauers sowohl für die Gotik und Renaissance in Italien als auch für einige französische Künstler des 19. Jahrhunderts belegen. Dies gilt sowohl in künstlerischer Hinsicht, wie unter anderem die Skizzenbücher des Künstlers mit Studien nach Giovanni Pisano (den er für einen der größten Bildhauer aller Zeiten hielt), Vittore Crivelli, Giovanni Bellini oder Gustave Courbet belegen, als auch, was Thematisches anbelangt. Besonders eingängig ist die Inszenierung zum Thema »Mutter und Kind«, dem menschlichen Ur-Thema par excellence: in der Mitte Moores »Working Model for Mother and Child: Hood« (1982), flankiert von Antonio Rosselinos Flachrelief »Madonna mit Kind« (Mitte 15. Jahrhundert) auf der linken und Antonio Solarios Tafelgemälde mit demselben Titel aus dem frühen 16. Jahrhundert auf der rechten Seite.

Den alten Bahnhof Rolandseck aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und den höher gelegenen, vor zehn Jahren eröffneten Museumsneubau Richard Meiers verbindet ein unterirdischer Korridor, der unter den Schienen der linksrheinischen Bahnstrecke Koblenz – Köln verläuft, sowie ein zweiter unterirdischer Gang in Form einer runden Betonröhre. Nicht zufällig haben die Kuratoren gerade diesen Ort gewählt, um hier Moores Bronze »Draped Reclining Figure« (Bekleidete liegende Figur) von 1952/53 zu platzieren. Denn dieses Arrangement evoziert spontan die Erinnerung an die erschütternden »Shelter Drawings«, die der Künstler zu Beginn der 1940er Jahre geschaffen hatte. Sie zeigen Menschen, die in der Londoner Untergrundbahn, der sogenannten Tube (englisch »Röhre«), Schutz vor den Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe suchten und dort in Todesangst dicht gedrängt, halb sitzend, halb liegend, ausharrten.

Ist man dann in den offenen Räumen des Museumsneubaus ankommen, trifft den Besucher die ganze Wucht der großformatigen Werke des Meisters. In ihren Ausmaßen genuin für den Außenbereich konzipiert, erscheinen sie hier, im musealen Innenraum, noch kolossaler als im Freien. Für Moore gibt es »drei Grundhaltungen der menschlichen Figur. Stehen, Sitzen und Liegen. [...] Die Haltung, die kompositionell und räumlich am meisten Freiheit gewährt, ist die liegende« – so der Künstler. Dass aber auch eine stehende Figur großartige Gestaltungsmöglichkeiten bietet, hat Moore mit seiner »Large Standing Figure: Knife Edge« (Große stehende Figur: Messerschneide) von 1961 unter Beweis gestellt, die schon in den 1970er Jahren eine Zeitlang in Rolandseck, damals am Rheinufer, gestanden hatte. Inspiriert von einem Tierknochen »so leichtgewichtig und fein wie [eine] Messerschneide« schuf Moore eine Skulptur, die nicht auf Frontalität und Einansichtigkeit, sondern auf Mehransichtigkeit angelegt ist und rundum abgeschritten werden will. Nur so wird erfahrbar, wie »sich die Breite und Flachheit der Vorderansicht allmählich über die Dreiviertelansichten zu den dünnen, scharfen Kanten der Seitenansichten und dann wieder zur Breite der Rückansicht« (Henry Moore) verändern. Obwohl der Künstler nie rein »gegenstandslos« gearbeitet und selbst in seinen abstrakten Plastiken immer den Bezug zur menschlichen Figur gewahrt hat, begannen sich seit den 1950er Jahren die Formen doch zunehmend zu verselbständigen. Charakteristisch ist die Anwendung des Prinzips des Aufbrechens und der Fragmentierung der Form, ihrer Zerlegung in Masse und Hohlraum, das Zusammenspiel von »internal« und »external forms«. Die mehrteiligen liegenden Figuren des Künstlers stellen nach dessen eigener Aussage »immer noch eine Einheit, nicht zwei oder drei getrennte Figuren dar. [...] Wenn es sich um eine Einzelfigur handelt, kann man erraten, wie sie aussehen wird. Sind es zwei Teile, dann ist die Überraschung größer, man hat mehr unerwartete Blickwinkel.« Jeder Besucher der Ausstellung wird dies angesichts von Monumentalplastiken wie »Two Piece Reclining Figure: Points« (1969), »Large Four Piece Reclining Figure« (1972/73) oder der im Außenraum platzierten großen Skulptur »Three Piece Sculpture. Vertebrae« (1968/69) bestätigen können.

»Vertebrae« bedeutet im Englischen Wirbel und ist ein Wort, dem zum Verständnis der Plastiken Henry Moores geradezu eine Schlüsselfunktion zukommt: »Ich hatte seit meiner Studienzeit«, so der Künstler, »eine Vorliebe für Knochen, habe sie gezeichnet, im Naturhistorischen Museum studiert, habe Knochen am Strand gefunden oder sie aus dem Suppentopf gezogen und aufgehoben. Man kann von Knochen so manches über Struktur und Skulptur lernen.« Höchst aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Skizzenblatt aus dem Jahr 1932, das die zeichnerische Metamorphose eines Knochens in eine »Mutter mit Kind« nachvollziehbar macht (»Transformation of Bones into Mother and Child Sculpture«). Neben Knochen waren für Moore auch rund geschliffene Kieselsteine, Schwemmholz und andere Fundstücke aus der Natur ein stete Quelle der Inspiration. In dieser Hinsicht drängen sich Querverbindungen zu Hans Arp, dem Hauspatron des Museums, auf, der gemeinsam mit Moore schon 1936 in der Londoner »International Surrealist Exhibition« ausgestellt hatte. Für beide, Arp und Moore, war die Natur eine maßgebliche Bezugsgröße ihres künstlerischen Schaffens, und die Schau in Rolandseck sucht durch kluge Gegenüberstellungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. Übereinstimmend ist eine hilfsweise als »organisch« oder auch als »biomorph« zu bezeichnende Formensprache, doch während Moore, wie erwähnt, trotz seiner abstrakten Gestaltungen an der menschlichen Figur festhielt, gelangte Arp nicht selten zu Formgebilden, die Figuratives nur noch erahnen lassen oder oft auch gänzlich gegenstandslos erscheinen.

Mit seinem umfang- und facettenreichen Œuvre war Henry Moore für Generationen moderner Bildhauer eine der einflussreichsten Leitfiguren. Längst gilt er als Klassiker der Kunst des 20. Jahrhunderts. Seine monumentale Bronzeplastik »Large Two Forms«, die 1979 vor dem Bonner Kanzleramt aufgestellt wurde, erschien im Rahmen der politischen Berichterstattung aus der Bundeshauptstadt zwei Jahrzehnte regelmäßig im Fernsehen und dürfte sich als Emblem der Bonner Republik tief in das Kollektivbewusstsein eingegraben haben. Nach dem Umzug der Bundesregierung nach Berlin ging die mediale Dauerpräsenz der »Large Two Forms«, die sich immer noch auf dem Gelände des ehemaligen Kanzleramtes in Bonn befinden, zu Ende. Rund zwanzig Jahre später wird Henry Moore nun im kaum mehr als zehn Kilometer südlich gelegenen Rolandseck mit einer »der umfassendsten und faszinierendsten Präsentationen [...] in den letzten Jahrzehnten in Deutschland« gewürdigt, wie Sebastiano Barassi von der Henry Moore Foundation es auf den Punkt gebracht hat.

Das bei Hirmer erschienene, schön gestaltete und exzellent gedruckte querformatige Katalogbuch mit zahlreichen Abbildungen, unter anderem auch brillanten fotografischen Ansichten aus der aktuellen Ausstellung, enthält lesenswerte Textbeiträge aus der Feder des Musemsdirektors Oliver Kornhoff, des Sammlungs- und Ausstellungsleiters der Henry Moore Foundation Sebastiano Barassi und der Kuratorinnen Susanne Blöcker und Sarah-Lena Schuster und kann dem kunstinteressierten Besucher nur ans Herz gelegt werden.

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